Deutschlands Wirtschaftskrieg
Wie Berlin mittels eines Regime Change in Athen seine Dominanz in Europa festigen wollte – und dabei einen neuen globalen Krisenschub auslösen könnte
von Tomasz Konicz
Wir schaffen es, ohne Waffen-SS.
Wolfgang Neuss
Wie sieht die Kapitulation einer linken Regierung gegenüber neoliberalen Erpressern aus? Ungefähr so, wie es Zeit-Online am 22. Juni beschrieb, als das letzte Angebot der griechischen Regierung publik wurde, mit dem Ministerpräsident Tsipras dem deutschen Sparkommissar Schäuble „weit entgegen“ kam, wie es das einstmals linksliberale Blatt auf seiner Internetpräsenz formulierte:
Die von Tsipras vorgeschlagenen Maßnahmen sollen demnach in den kommenden eineinhalb Jahren fünf Milliarden Euro einbringen. Unter anderem solle der Mehrwertsteuersatz für Grundnahrungsmittel wie Reis und Nudeln von 13 auf 23 Prozent erhöht werden. Die Mehrwertsteuer im Hotelgewerbe solle von 6,5 auf 13 Prozent verdoppelt werden. Zudem sollen die Mehrwertsteuern in Tavernen, Restaurants und Cafés von 13 auf 23 Prozent steigen. Neu eingeführt werden solle eine Sondersteuer auf Einkommen ab 30.000 Euro jährlich, die von ein Prozent stufenweise bis sieben Prozent steigen könnte. Unternehmen, die 2014 mehr als 500.000 Euro Gewinne hatten, sollen bis zu sieben Prozent Sondergewinnsteuer zahlen. Erhalten bleiben solle eine Immobiliensteuer, die die linke Regierung eigentlich abschaffen wollte. Allein diese Maßnahme soll gut 2,6 Milliarden Euro an Einnahmen bringen. Inhaber von Jachten, Luxusautos und Schwimmbäder müssten noch tiefer in die Tasche greifen.
Die Zeit
Diese Einsparungen hätten in diesem Jahr 1,5 Prozent, und um kommenden Jahr 2,9 Prozent des griechischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) umfasst und das geschundene Land abermals in eine Rezession geführt. Die neue Runde des sattsam bekannten Sparterrors hätte die Konjunktur um 7,5 Prozent einbrechen lassen, rechnete die Washington Post vor, die eine „sinnlose Zerstörung Griechenlands“ durch diese „Sparpolitik“ konstatierte. Damit erklärte sich Syriza offensichtlich bereit, nahezu das gesamte deutsche Spardiktat zu erfüllen. Der einzige nennenswerte Unterscheid bestand nur darin, dass Athen die geforderten Kürzungen von Renten – die bereits um bis zu 40 Prozent gekürzt wurden – nur zur Hälfte umsetzen wollte, während der Rest dieser Kürzungen durch höhere Unternehmenssteuern realisiert werden sollte.
Die Washington Post konstatierte trocken, dass „beide Seiten darin übereinstimmen, wie viel Austerität Athen umsetzen sollte“, es gebe nur Differenzen darüber, wie dies zu bewerkstelligen sei. Syriza beugte sich somit den Forderungen nach einem massiven Kahlschlag, doch wollten die Griechen zumindest einige Härten sozial abfedern, indem die Unternehmenssteuern erhöht werden sollten. Wie gesagt: Athen war zur nahezu vollständigen Kapitulation bereit.
Und dennoch haben sich Schäuble und Merkel entschlossen, dieses griechische Kapitulationsangebot auszuschlagen und in schlechter deutscher Tradition die öffentliche Demütigung Athens auf die Spitze zu treiben, indem sie ihre Brüsseler Lakaien anwiesen, ein mit roter Tinte gespicktes Ultimatum – das an die Korrekturen von Klassenarbeiten erinnerte – an Griechenlands Regierung zu schicken, in dem eine weitere Reihe von Verschärfungen verlangt wurde. Geradezu zynisch nimmt sich die „europäische“ Forderung nach einer Absenkung der geplanten höheren Unternehmenssteuer aus, die mit der Sorge um das Wachstum in Griechenland begründet wurde – einem geschundenen Land, das nach fünf Jahren des Sparterrors am Rande des sozioökonomischen Zusammenbruchs steht.
„Europa hat den Deal abgeändert, und Griechenland sollte dafür beten, dass dieser nicht noch weiter abgeändert“ werde, kommentierte die Washington Post diese Eskalationsstrategie in Anlehnung an ein berühmtes Zitat von Darth Vader. Falls Griechenland im Euro bleiben wolle, müsse es Austerität zu den Bedingungen Europas und nicht den eigenen akzeptieren. „Es wird keine Verhandlungen mehr geben“, so fasste die Washington Post das deutsche Diktat an Athen zusammen. Das US-Hauptstadtblatt kam angesichts dieser Vorgänge zu der Schussfolgerung, dass „Europa“ versuche, Griechenland aus dem Euro zu „drücken“.
Der bekannte Ökonom Paul Krugman sieht hingegen eine andere Strategie am Werk. Man habe Tsipras „ein Angebot gemacht, das er nicht annehmen konnte“. Dieses Ultimatum war letztendlich ein Schachzug, um die griechische Regierung zu stürzen, schlussfolgerte Krugman. Selbst wenn man Syriza nicht möge, sei dies Vorgehen „verstörend“, warnte er. Tsipras habe sich aber geweigert, politischen Selbstmord zu begehen und „sich in sein Schwert zu stürzen“. Er könne der griechischen Regierung keinen Vorwurf daraus machen, dass sie sich „an die Wähler wendet, anstatt über sie herzufallen“, so Krugman, der freimütig erklärte, dass er aus politischen wie ökonomischen Erwägungen heraus beim Referendum mit einem „Nein“ zum deutschen Ultimatum stimmen würde.
Ähnlich argumentierte der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs, der die Forderungen an Griechenland als „launisch, naiv und fundamental selbstzerstörerisch“ bezeichnete. Angesichts einer seit Krisenausbruch um ein Viertel eingebrochenen Wirtschaftsleistung und massenhaften Hungers spiele Griechenland keine „Spielchen“ – die Griechen „kämpfen um ihr Überleben“. Die griechische Regierung handelte richtig, als sie „eine Linie zog“.
Ein unerklärter Wirtschaftskrieg
Es ist offensichtlich: Nicht die kreuzbrave, linkssozialdemokratische Regierung in Athen agiert hier extremistisch, sondern die deutschen Politeliten mitsamt ihren Schreibtischtätern in den Redaktionsstuben, die in den vergangenen Monaten eine beispiellose antigriechische Hetzkampagne losgetreten haben. Es stellt sich somit die Frage, wieso Deutschland diese Demütigungsstrategie eingeschlagen hat, obwohl Athen eine Kapitulation anbot. Wieso hat Berlin „die Geduld mit Alexis Tsipras verloren“, wie es die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) im imperialen Tonfall deklarierte, der inzwischen bei deutschen Meinungsmachern en vogue ist.
Es geht bei dieser jüngsten Etappe des unerklärten Wirtschaftskrieges, den Deutschland gegen Europa führt, um viel mehr als Griechenland. Berlin muss an dem Mittelmeerland in alter deutscher Tradition ein „Exempel“ statuieren, um seine Dominanz in dem Währungsraum zu festigen. Niemand soll es jemals wieder wagen, den Weisungen aus Berlin zu widersprechen und die deutsche Vormachtstellung im Euroraum herausfordern. „Tu, was wir sagen, oder leide“, so formuliert die Washington Post diese deutsche Logik.
Die Sonderbehandlung, die Berlin nun Griechenland angedeihen lässt, stellt für die Washington Post ein „nicht allzu subtiles Signal an die Anti-Austerität-Parteien in Spanien und Portugal dar, dass sie nichts durch die Herausforderung des monetären Status quo erreichen werden“. Griechenland soll weiterhin als ein „finanzieller Sklavenstaat“ (Business Insider) Deutschlands in „ökonomischer Depression“ versinken, um keine Nachahmereffekte in Europa auszulösen.
Merkels „harte Hand“ (welt.de), die seit Krisenausbruch in Europa herrscht, muss ein Exempel statuieren, um die Wahlchancen der Linksparteien in Spanien und Portugal in diesem Jahr zu minimieren. Das ist auch der spanischen Protestpartei Podemos klar, die Ende Juni Deutschland beschuldigte, mit diesem rücksichtslosen Vorgehen „das europäische Projekt aufs Spiel zu setzen“.
„Sturz der Regierung Tsipras“
Dabei nimmt Berlin tatsächlich auch den Fallout in Kauf, den ein „Grexit“ auslösen könnte. Doch die erste Option deutscher Politik besteht tatsächlich im Regime Change, im Regierungsumsturz oder im ordinären Putsch. Offen ausgeplaudert hat dies etwa das Handelsblatt, das den „Sturz der Regierung Tsipras“ als das „wahrscheinlichste Szenario“ der griechischen Schuldenkrise bezeichnete. Deswegen bezeichnet die FAZ das Referendum, das in Reaktion auf das deutsche Diktat abgehalten werden soll, als einen „späten Selbstrettungsversuch“ des griechischen Premiers: Eben weil des absolut klar ist, dass die deutschen Forderungen auf die politische Vernichtung von SYRIZA abzielten.
Mark Weisbrot vom linksliberalen US-Thinktank Center for Economic and Policy Research sieht Berlin und Brüssel eine „antidemokratische“ Strategie verfolgen, die seit dem Wahlsieg Syrizas darauf abzielt, „die griechische Ökonomie und Regierung zu destabilisieren, ohne Griechenland aus dem Euro zu zwingen“. Es gebe einen Aspekt bei den Auseinandersetzungen, der bislang ignoriert werde, so Weisbrot:
Während die griechische Regierung nichts tun kann, um ihre Verhandlungspartner zu ersetzen, scheinen einige der europäischen Offiziellen auf der anderen Seite zu glauben, genau dies tun zu können.
Mark Weisbrot
Und genau diesen Vorwurf richtete der griechische Ministerpräsident an seine europäischen „Partner“, nachdem der deutsche EU-Kommissar Günter Oettinger „Europa“ dringend aufforderte, Pläne für den Fall sozialer Unruhen und eines Notstands in Griechenland zu entwerfen. Tsipras erklärte, die „Kreditmächte“ würden versuchen, die „gewählte griechische Regierung zu unterminieren“, nachdem sie Griechenland fünf Jahre lang geplündert hätten.
Bürgerkrieg? Dieses Wort wird inzwischen in Griechenland – gerade von der proeuropäischen rechten Opposition – inflationär gebraucht. Die Proteste der ehemaligen Regierungsparteien, die in den vergangenen Tagen initiiert wurden, haben zu einer Zuspitzung des politischen Klimas in Griechenland geführt, berichtete Channel 4:
Die Stimmung verfinstert sich zischen der essenziell rechten Pro-Austeritäts-Bewegung und der Massenbasis von Syriza, sodass es in den vergangenen Wochen zur Routine wurde, die Wörter „Bürgerkrieg“ zu benutzen, und dies nicht mehr in scherzhafter Weise.
Channel 4
Ähnliche Beobachtungen machte eine Reporterin des Guardian. Die rechte Opposition beschimpfe die linke Regierung als „Bolschewisten und Stalinisten“. Die Linke werfe den Anhängern der ehemaligen Regierungspartien hingegen vor, als „Kollaborateure Deutschlands“ zu agieren.
Die „Amerikaner Europas“
Das Kreditprogramm für Hellas wurde auch deswegen nicht um sieben Tage verlängert, um den Druck auf die griechische Regierung aufrechtzuerhalten und die griechischen Wähler zu erpressen. Das Land soll in den Ausnahmezustand manövriert werden. Berlin betreibt somit eine ordinär imperialistische Politik, bei der missliebige Regierungen in abhängigen und peripheren Staaten einfach weggeputscht werden, wenn diese nicht die Weisungen aus dem Zentrum befolgen. Südeuropa wird von Deutschland – das die Rolle der USA Europas einnimmt – lateinamerikanisiert.
Der rechte Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer hat bereits 2012 in unverschämter Offenheit diese neue Machtkonstellation ausgesprochen und die Deutschen zu eben den „Amerikanern Europas“ erklärt.
Es vergehe kaum ein Tag, ab dem die Kanzlerin „nicht irgendwo in eine Nazi-Uniform gesteckt wird und man wieder Hakenkreuze hervorkramt“ würden, lamentierte Fleischhauer, der den deutschen Sparterror in Südeuropa als „Hilfspaket“ bezeichnete. Die Deutschen würden sich nun daran gewöhnen müssen, „dass wir in manchen Ländern Europa für einige Zeit nicht mehr sehr beliebt sind“. Denn es würde nichts nützen, „sich kleiner zu machen, als man ist“, da letztendlich „der Hegemon seine Größe nie auf Dauer verhehlen“ könne.
Deutschland müsse folglich die Konsequenz aus seiner Machtfülle ziehen und Politik betreiben, wie sie die USA jahrzehntelang als Welthegemon praktizierten: „Wir sind jetzt die Amerikaner Europas. Der Rollenwechsel wird nicht leicht, das kann man schon heute sagen. Wir sind es gewohnt, dass man uns für unsere Effizienz und unseren Fleiß bewundert, nicht, dass man uns dafür hasst“, so Fleischhauer in all der Unverkrampftheit, mit der in Deutschland wieder Ressentiments formuliert werden. Süd- und Osteuropa spielen in dieser realitätsmächtigen Vorstellungswelt längst die Rolle eines europäischen Lateinamerikas.
Die deutsche Regierung hat seit Krisenausbruch die Politik „Europas“ gegenüber Griechenland wie auch den Krisenländern bestimmt. Brüssel stellt nur ein europäisches Feigenblatt deutscher Dominanz in Europa dar. Die Verantwortung für das desaströse und gnadenlose Sparregime, mit dem die Eurozone überzogen wurde, liegt nahezu ausschließlich in Berlin.
Es gehe bei den aktuellen Auseinandersetzungen nur um „Deutschland und Griechenland“, erklärte etwa der Wirtschaftsjournalist Jim Cramer in einer Kolumne, „die anderen Länder sind nur Zaungäste“. Deswegen schreibt Spiegel-Online in einer Kolumne, dass „Merkels Euro-Strategie“ gescheitert sei. Für Welt.de jubelte die Welt bei der Errichtung dieser Dominanz über die Harte deutsche Hand, die nun Europa führen werde. Das kommende griechische Referendum richte sich gegen die deutsche Kanzlerin, berichtete etwa Welt.de empört:
Denn nichts anderes bedeutet das Referendum, das Tsipras am kommenden Sonntag abhalten will. Das griechische Volk gegen Angela Merkel. Sie hat die Rettungspolitik entworfen, ihre Leute haben die verhasste Troika erdacht, und sie haben durchgesetzt, dass der Internationale Währungsfonds entscheidet, wie hoch Renten und Steuern sind.
Welt.de
Berlin hat den IWF ins Boot geholt, um das deutsche Sparregime in Europa möglichst effektiv zu gestalten. Und Berlin kooperiert weiterhin aufs Beste mit dem IWF. Als die EU-Kommission sich mit den eingangs erwähnten Kapitulationsangebot aus Athen zufrieden zeigte, war es eben der IWF, der mit neuen Forderungen querschoss. Zugleich betonte Berlin, dass ein Deal mit Athen nur unter Einbeziehung des IWF möglich wäre. Hinter den Kulissen starteten deutsche Diplomaten zudem eine fieberhafte antigriechische Kampagne, um europäische Widerstände gegen eine weitere Eskalationstaktik gegenüber Athen zu minimieren. Foreign Policy schrieb:
Am Wochenanfang sah es so aus, als würde Athens Plan, die Steuern für Unternehmen und reiche Griechen zu erhöhen, ausreichend sein, um die Austeritätsforderungen der Europäischen Union zu befriedigen. Es ist nun klar, dass es nicht genug für Deutschland war. Deutsche Offizielle haben die Woche damit verbracht, in Europa umherzureisen und jedem, der es hören wollte, zu sagen, dass Premier Alexis Tsipras mehr Kürzungen durchführen muss.
Foreign Policy
Eine ähnlich vertrauensvolle Zusammenarbeit besteht zwischen Finanzminister Wolfgang Schäuble und dem Chef der Eurogruppe Jeroen Dijsselbloem, der an der Eskalation der gegenwärtigen Krise an prominenter Stelle beteiligt war, als er das Ende der Krisenkredite für das Mittelmeerland verkündete. Schäuble lässt das politische Leichtgewicht Dijsselbloem zwecks deutscher Imagepflege gerne die Drecksarbeit erledigen. Die niederländisch Zeitung Vrij Nederland schrieb über den blutbeschmierten „Euro-Doktor“ Dijsselbloem:
Wolfgang Schäuble hat Dijsselbloem erfunden“, sagt einer der Angestellten des deutschen Ministers. „Er hat ein beinahe väterliches Verhältnis zu ihm.“ … Ab dem Zeitpunkt, als Dijsselbloem nach seiner Nominierung durch Schäuble zum Präsidenten ernannt wurde, wurde er als Lakai der allmächtigen Deutschen bekannt, insbesondere in den südlichen Ländern. Und die sparsamen Niederländer haben bereits den Ruf weg, Deutschlands stärkste Verbündete bei der Durchsetzung der sakrosankten Haushaltsvorschriften zu sein. Die Medien haben ihn als „Schäubles Lakai“ bezeichnet und als „Clogs tragenden Deutschen“.
Vrij Nederland
Es war selbstverständlich der rabiate Merkantilismus, die mittels der Agenda 2010 forcierte extreme Exportausrichtung der deutschen Wirtschaft, die Deutschland den Weg zur gegenwärtigen Wirtschaftsdominanz ebnete. Die enormen Handelsüberschüsse Deutschlands sind die Schulden der Defizitländer. Dieser aggressive Neomerkantilismus Berlins, der einem Wertraub gleichkommt und Schulden, Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierung exportiert, lässt sich eindeutig empirisch verifizieren. Der Beitrag der BRD an der Ausbildung der europäischen Schuldenkrise, die Berlin zur Ausformung des deutschen Europas (Der Aufstieg des deutschen Europa) nutzen konnte, lässt sich auf Heller und Pfennig beziffern. Die folgende Grafik illustriert noch mal die kumulierten deutschen Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber den südeuropäischen Krisenländern Griechenland, Portugal, Spanien und Italien bis zum ersten Quartal 2015.
Kumulierte Leistungsbilanz Deutschlands mit der Südperipherie der Eurozone. Grafik: querschuesse.de |
Von den 829,341 Milliarden Euro an Leistungsbilanzüberschüssen, die Deutschland gegenüber der Eurozone bis zum ersten Quartal 2015 anhäufte, entfielen auf die Südperipherie mehr als die Hälfte, nämlich 451,784 Milliarden Euro. Wie aus der Grafik ersichtlich wird, wurden diese Überschüsse erst nach der Euroeinführung erzielt. Die deutsche Beggar-thy-neighbor-Politik entzog den besagten südeuropäischen Volkswirtschaften somit Wertschöpfung im Umfang einer knappen halben Billion Euro in nur einem Dutzend Jahre.
Hiernach nutzte Berlin diesen erfolgreichen Werteraub, um die verschuldeten Volkswirtschaften – wie erläutert, 451,784 Milliarden des südeuropäischen Schuldenbergs entfallen auf die deutschen Überschüsse! – in eine mit weitgehendem Souveränitätsentzug und knallhartem Sparregime einhergehende Schuldknechtschaft zu pressen. Der Außenhandelschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Volker Treier, formulierte diesen Zusammenhang in aller Ignoranz Anfang 2014 folgendermaßen: „Mit unseren Überschüssen waren wir überhaupt erst in der Lage, als Garantiegeber für die Euro-Krisenländer aufzutreten.“ Genau: Die Deutschen Überschüsse, die Europas Schuldenberge generierten, nutzte Berlin, um als „Garantiegeber“ das deutsche Europa zu errichten, dass uns bald um die Ohren fliegen wird (Der Zerfall des deutschen Europa).
Letztendlich führen die deutschen Funktionseliten eine Art Wirtschaftskrieg, um eine hegemoniale Stellung der Bundesrepublik innerhalb Europas zu erringen, wobei sich Berlin gerade auf die neoliberalen Regierungen in den europäischen Krisenstaaten stützen kann, die um reiner Machterhaltung willen keine europäische Alternative zu Austerität und Sparregime dulden können. Sie würden sonst an den Wahlurnen hinweggefegt. Diese südeuropäischen Regierungen – etwa in Spanien oder Portugal – agieren somit tatsächlich als wirtschaftspolitische Kollaborateure Berlins, die offensichtlich entgegen den wirtschaftlichen Interessen ihrer eigenen Bevölkerung handeln. Wer ausschert und sich wehrt, an dem wird ein Exempel statuiert. Beim letzten großen deutschen Anlauf zur Weltmacht wurden für jeden von Partisanen getöteten deutschen Besatzer für gewöhnlich 100 Zivilisten von der Wehrmacht ermordet. Diesmal werden ganze Volkswirtschaften in den sozioökonomischen Zusammenbruch getrieben, sobald deren Bevölkerung die „falsche“ Wahl trifft. Die Methoden haben sich gewandelt, die Mentalität der Berliner Politeliten scheint geblieben zu sein.
Dabei kann diese deutsche Strategie, diesmal ganz ohne Waffen-SS die europäische Hegemonie zu erringen, nicht nur am europäischen Widerstand, sondern auch an der Krisendynamik scheitern, die sie befeuerte. Der drohende „Grexit“ droht eine Weltwirtschaft zu erschüttern, die sich in einer gigantischen Liquiditätsblase befindet. So könnte bald die Spekulationsdynamik kollabieren, die sich auf Chinas Aktienmärkten entwickelt hat. Trotz massiver Zinssenkungen der chinesischen Notenbank wollen sich die heiß gelaufenen Kurse in der Volksrepublik nicht erholen. Angesichts dieses instabilen globalen Umfeldes könnte sich der „Grexit“ allen Eindämmungsversuchen Europas zum Trotz als der berühmte letzte Tropfen erweisen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Vom Autor erscheint zu diesem Thema bald das Buch „Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa“.
Tomasz Konicz
Krisenideologie
Wahn und Wirklichkeit spätkapitalistischer Krisenverarbeitung
Als eBook bei Telepolis erschienen