Arbeitslose und Jobkiller
Ein sehr interessantes Buch ist Edward Bellamys „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887“ (Looking Backward: 2000–1887). Der Roman erschien im Jahre 1888 und ist nach Meinung der Experten weltweit der erfolgreichste Science-Fiction-Roman, zumindest was Verbreitung und Auflagen betrifft. In Deutschland erschien der Roman erstmals im Jahre 1890 im Verlag J. H. W. Dietz, übersetzt von der berühmten Sozialistin Clara Zetkin. In ihrem Vorwort zur Neuüberarbeitung aus dem Jahr 1914 schrieb sie: „…der Verfasser (hat) angeblich nichts anderes geplant, als eine unterhaltsame Mär von allgemeiner Glückseligkeit und Harmonie. Allein je weiter die Arbeit voranschritt, um so mehr wurde der Schriftsteller von seinem Gegenstand ergriffen. Der heitere Schilderer paradiesischer Zustände musste den scharfäugigen, rücksichtslosen Gesellschaftskritiker an seine Seite treten lassen und den begeisterten Propheten einer neuen sozialen Organisation und Moral der Vernunft und Zweckmäßigkeit.“ Der Dichter meinte später zu seinem Werk: „Der Rückblick hat zwar die Form eines phantastischen Romans, ist aber allen ernstes als Vorbild gemeint für die kommende Stufe der industriellen und sozialen Entwicklung des Menschengeschlechts, wenigstens in Amerika.“ Es spricht wirklich nicht für das heutige SF-Fandom, dass es den „HUGO“ (wichtigster Science-Fiction- Literaturpreis) vergibt, der „BELLAMY“ als Name wäre passender. Dem Buch fehlt, so meint die Zetkin und meine auch ich, die Tiefe und Schärfe des wissenschaftlichen Sozialismus. Aber Bellamy entwirft eine humanistische Gesellschaft, die ein sehr entspanntes Verhältnis zur Arbeit hat: „Die Arbeitsdienstzeit währt 24 Jahre: sie beginnt am Schlusse des Erziehungskursus mit einundzwanzig und endet mit fünfundvierzig.“
Auch bei Bellamy bleiben Arbeitsablaufbeschreibungen selten, hier ein Auszug aus einem Zentralwarenlager: „Der expedierende Beamte hat ein Dutzend Rohrpostleitungen vor sich, von denen jede mit der entsprechenden Abteilung des Lagerhauses in Verbindung steht. Er steckt die Büchse mit den Bestellungen in das dazu bestimmte Rohr, und wenige Augenblicke später fällt sie in einen besonderen Tisch im Lagerhause, wo auch alle Bestellungen derselben Art aus den anderen Probenhäusern anlangen. Die Aufträge werden mit Blitzesschnelle gelesen, gebucht und zur Ausführung gebracht. Diese Ausführung erschien mir als der interessanteste Teil. Tuchballen zum Beispiel werden auf Spindeln gerollt und durch Maschinen gedreht und der Zuschneider, welcher sich auch einer Maschine bedient, verarbeitet einen Ballen nach dem anderen, bis seine Zeit um ist, worauf eine andere Person seinen Platz einnimmt.“
Die Arbeitszeit hat in dieser Gesellschaft schon längst die 35 Stunden pro Woche unterschritten und man ist bemüht, den Menschen ein sinnvolles Leben zu bieten, bei dem Arbeit nicht mehr die wichtigste Rolle spielt. Viel wichtiger ist das Leben vor und nach der Arbeit! Leider reicht die Zeit nicht aus, Bellamys Visionen in aller Ausführlichkeit zu schildern, hier vielleicht aber doch noch eine kritische Anmerkung von Ernst Bloch (Prinzip Hoffnung): „Bellamys Utopie liegt sprunglos in der Verlängerungslinie der heutigen Welt, sie ist mit dem Habitus der kapitalistischen Zivilisation zufrieden. Die Vergesellschaftung des Privateigentums nimmt aus dem jetzigen Zustand nur die sozialen Schäden und Hemmungen heraus, aber sie verändert nicht den allgemeinen Zuschnitt. Die Erde wird ein gigantisches Boston oder noch eher Chicago mit etwas Landwirtschaft dazwischen; das Gebiet der letzteren nannte man früher Natur.“ Trotzdem ist Bellamys Werk auch in den Stadtbeschreibungen entspannt und romantisch. Es fehlen Hochhausstrukturen, Massenquartiere und Individualverkehrsterror.
Ich habe nach „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887“ nach langer Zeit nochmals „Planet der Habenichtse“ von Ursula K. Le Guin (in der Übersetzung von Gisela Stege, bei Heyne, München 1974) gelesen. Spannend beschreibt sie den Lebenskampf auf Anarres, dorthin verbannte man die Revolutionäre, die den kapitalistischen Staat Urras verlassen wollten. Wie der „kleine Maxi“ sich Anarchie vorstellt, das weiß ich ja nun als Bewohner eines Freimarktwirtschaftslandes seit einiger Zeit, aber die Le Guin ist da auch nicht schlecht. Lesen wir doch einmal, was es so zum Unterschied zwischen Männern und Frauen zu schreiben gibt: „‚Trifft es zu, Dr. Shevek (er ist eine wichtige handelnde Figur des Romans und stammt aus Anarres), dass die Frauen Ihrer Gesellschaft genauso behandelt werden wie die Männer?‘ ‚Das wäre Verschwendung guten Materials‘, antwortete Shevek mit kurzem Lachen und lachte gleich darauf noch einmal, als ihm die Komik dieser Vorstellung bewusst wurde.“
Männer sind stärker, Frauen sind zäher, arbeiten länger und Dr. Shevek hat sich oftmals gewünscht, so zäh und belastbar zu sein wie eine Frau. Wenn schon die Phantasie nicht an die Macht kommt, bei dieser Form der Anarchie, wie sieht es da mit der Arbeit aus? Nicht gut! Die Versorgung ist schlecht, es gibt Hungersnöte und wirklich einsichtige Erkenntnisse, die sich dann so anhören: „Gewiss, die Arbeit musste getan werden, aber es gab zahlreiche Menschen, denen es gleich war, wo sie eingesetzt wurden, und die ständig ihren Job wechselten; die hätten sich freiwillig melden sollen. Eine derartige Arbeit (es handelt sich um ein Aufforstungsprojekt auf dem sehr unwirtlichen Planeten Anarres) konnte auch der Dümmste verrichten. Ja, viele konnten es sogar besser als er.“
Die große Frage, ob es unmoralisch sei, Arbeit zu erledigen, die man nicht gerne verrichtet, wird von Le Guin nicht beantwortet. Manchmal hatte ich den Eindruck, als wäre der „Planet der Habenichtse“ eine Umkehr des Romans von Edward Bellamy. Während bei ihm das Leben und die Arbeit „gereinigt“ wurden von all den bösen Belastungen, geht es auf Anarres zu wie im bösesten Frühkapitalismus. Die Arbeitsmoral, so wie die Autorin sie beschreibt, ist entweder moralisch oder unmoralisch. Gerne verrichtete Arbeit, egal wie schwer, ist moralisch, und so wird daraus auch ein vertretbarer ethischer Mehrwert.
Da ist mir der Franzose Max Clair, den Gustav Landauer in seinem Aufsatz „Der Arbeitstag“ (1912) erwähnt, viel lieber. Landauer zu Clair: „Er (Clair) hat uns vorgerechnet, dass der Mensch um der rechten Physiologie willen acht Stunden im Bett, anderthalb Stunden am Waschtisch und im Bad, anderthalb Stunden beim Essen, zwei Stunden bei der Verdauung, zwei Stunden bei körperlichen und geistigen Übungen und eine Stunde beim Spaziergang verbringen müsste, dass eine halbe Stunde zwischendrin abhanden käme, dass also für die Arbeit, ob man wolle oder nicht, nur sechseinhalb Stunden zu Verfügung stünden, von denen aber zwei Stunden für Haushaltsarbeit draufgingen, so dass für den Berufsalltag nur viereinhalb Stunden blieben.“
Aber zurück zum kargen Planeten der Frau Le Guin. Shevek, der „geniale“ Physiker war irgendwann zu den Fleischtöpfen des Planeten Urras zurückgekehrt, wo vor 160 Jahren, wir erinnern uns noch, eine Revolution und die Auswanderung der Revolutionäre stattfand. Luxus begegnet dem Mann auf einer Einkaufsstraße. Der Horror des Konsums feiert fröhliche Urstände: „Und das Seltsamste an dieser Alptraumstraße war, dass keiner der Millionen Gegenstände, die man dort kaufte, auch dort hergestellt wurde. Sie wurden lediglich dort feilgeboten. Wo waren die Werkstätten, die Fabriken, wo die Bauern, Handwerker, Bergleute, Weber, Apotheker, die Bildschnitzer, die Färber, die Designer, die Maschinisten, wo die Hände, die Menschen, die alles schufen?“
Eine gute Frage, aber beantwortet wird sie in diesem Roman nicht. Es ist schon erstaunlich, Raumschiffe überwinden Raum und Zeit, und in der gleichen Welt werden seltsame und antiquierte Berufe ausgeübt. Die ewig gültigen Weisheiten zur Arbeit, die gibt es in Minimaldosen:
„Wie sie wissen, ist das Leben auf Anarres karg. In den kleinen Kommunen gibt es nicht viel Unterhaltung, und gerade dort fällt sehr viel Arbeit an. Wenn man also ständig an einem mechanischen Webstuhl arbeitet, geht man recht gern an jedem zehnten Tag ins Freie, um eine Rohrleitung zu verlegen oder einen Acker zu pflügen – auch wohl, um mal mit anderen Menschen zusammen zu sein…“
Was/Wie gearbeitet wird, bleibt leider geheim. Aber Frau LeGuin hat auch Anarchieweisheiten zu verkaufen: „Aber wo es kein Geld gibt, kommen die wirklichen Motive vielleicht deutlicher ans Licht. Die Menschen tun ihre Arbeit gern.“ Sätze in denen der Deckungsgleichheit von „Arbeit“ und „Spiel“ eine starke ethische Bedeutung nachgesagt werden, machen die Sache auch nicht besser. Versöhnlich stimmt dagegen: „Die Dinge verändern sich, immer wieder. Besitzen kann man nie etwas… Am wenigsten die Gegenwart – wenn Sie sie nicht mit der Vergangenheit und Zukunft zusammen akzeptieren.“
Es ist schwierig, den Alltag in der Zukunft zu beschreiben und mit der Arbeit hat die Science-Fiction noch größere Probleme. Nun wird es sicher den Einwand geben, es gäbe ja diese herrlichen Geschichten von den Maschinen, den Robotern, die dem Menschen die Arbeit abnehmen. Es wäre doch eigentlich eine faszinierende Aufgabe, darüber zu schreiben, weil ja die Geißel Arbeit den Menschen nicht mehr deformiert. Was gäbe es da für Möglichkeiten? Leider wird es dann plötzlich in der Zukunft genau so langweilig wie in der Gegenwart. Das haben wir ja nun anhand vieler Beispiele lesen können. Die vorhandene Arbeit weisen wir den Blechtrotteln zu, die dann dort weitermachen wo wir aufgehört haben: ARBEIT ARBEIT ÜBER ALLES ÜBER ALLES IN DER WELT!
Wie sieht es aus, wenn Menschen versuchen, ihr Schicksal vernünftig zu gestalten. Dieses „Happy End“ wie sieht es aus? Lesen wir ein wenig in „Vulkans Hammer“ von Philip K. Dick nach, wenn die Frage gestellt und beantwortet wird – ist die Maschine besser als der Mensch?
„‚Haben Sie schon einen Überblick?‘ fragte er neugierig. ‚Was ist denn nun übriggeblieben?‘
‚Haben Sie es so eilig?‘ fragte Fields lächelnd. Barris nickte. ‚Der Computer soll aber nicht länger unser Herr, sondern nur unser Diener sein. Wir haben damals ein Abkommen geschlossen, Fields. Sie haben der Weiterbenutzung von Komponenten zugestimmt, wenn diese vernünftig benutzt werden. Hoffentlich können Sie die alten Kampfrufe vergessen. Sie waren notwendig, um die Massen aufzuwiegeln, haben aber ihren Sinn verloren.‘
‚Ich bin völlig Ihrer Ansicht‘, entgegnete Fields verständnisvoll. ‚Gegen eine vernünftige Verwendung technischer Hilfsmittel ist nichts einzuwenden… Allerdings muss ich auf der Erfüllung meiner Bedingungen bestehen. Das technokratische System muss zerschlagen werden. Die Menschen verlangen ihre Würde zurück… Die Maurer und all die anderen, die von ihrer Hände Arbeit leben, wollen wieder als Menschen anerkannt werden. Niemand soll auf andere herabsehen, nur weil er einen wichtigen Staatsposten hat.‘“
Da handeln zwei, als wären sie auf einem orientalischen Teppichmarkt, um die Würde des Menschen und wie eine Gesellschaft gestaltet werden soll und welche Rolle die Technik in ihr zu spielen habe. Ist diese „Würde durch Arbeit“ wirklich gewollt, ist sie wichtig und notwendig, um dem Menschen ein reiches Leben zu ermöglichen? Nicht „reich“ durch Ausbeutung und Unterdrückung! Die Weber haben nicht Maschinen gestürmt, um in Würde die Handarbeit weiterhin hoch zu halten, nein, es war eher die Frage des Überlebens, die sie zu Maschinenstürmern werden ließ.
„Gesellen schweißt die Lettern ein,
Ich lasse das Erfinden sein.
Bewahr’ uns Gott vor Teufelswerk.
Dies wünscht euch Johann Gutenberg.“
(Jura Soyfer)
Dies ist ein Zitat aus und gleichzeitig die Moral der Geschichte „Der Lechner Edi schaut ins Paradies“, die Jura Soyfer (gestorben 1939 im Alter von 26 Jahren im KZ Buchenwald) Mitte der 1930er Jahre gegen den Austrofaschismus schrieb: Ein Arbeitsloser begegnet seinem „Job-Killer“, jener Maschine, deren Arbeitskraft die seine so unverkäuflich wie überflüssig gemacht hat – und die inzwischen selbst der Rationalisierung zum Opfer gefallen ist. Die beiden Fußkranken des Fortschritts tun sich zusammen und unternehmen eine Reise in die Vergangenheit, sie wollen einen geschichtlichen Ort aufspüren, an dem dem Wettlauf Einhalt geboten werden muss, soll er nicht die Menschheit mitsamt ihren Werkzeugen überrollen.
Jura Soyfer hat ein wunderschönes Science-Fiction-Theaterstück geschrieben. Doch weiter zum Inhalt. Nicht jeder der Aufgesuchten ist so rasch überzeugt wie der Vater des Buchdrucks, den schon ein flüchtiger Blick auf eine von den Zeitreisenden mitgeführte Tageszeitung das Fürchten und das Wünschen lehrt; aber alle Entdecker und Erfinder erklären sich doch zur Rücknahme ihrer Fortschritte bereit, sobald ihnen gezeigt wird, wohin durch ihre Kreation sich das Ganze hinentwickelte. Freilich versäumt auch keiner den Hinweis auf seine Vorgänger, ohne deren Verzicht der eigene folgenlos bliebe. Die Reise führt deshalb von Station zu Station zurück, bis hin zum Paradies, in dem der Mensch ja einmal erschaffen wurde.
Jura Soyfer war mit seinen 26 Jahren einer der großen österreichischen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts. Seine Szene „Geschichtsstunde im Jahre 2035“ könnte für viele Science-Fiction-Autoren oder Autorinnen ein Beispiel sein, wie sie schreiben sollten. Leider können sie es nicht!