Zurück in die 1930er Jahre
von Tomasz Konicz
Ende März war es endlich offiziell: Mit Spanien ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Eurozone in die Deflation geraten. Die Inflationsrate betrug im vergangenen März minus 0,2 Prozent, im Vormonat wies die Iberische Halbinsel noch eine marginale Teuerung von 0,1 Prozent auf. Seit gut einem halben Jahr befindet sich das rezessionsgeplagte Land, das durch ein brutales Spardiktat in eine schwere Wirtschaftskrise getrieben wurde, am Rande einer Deflation. Die spanische Inflationsrate lag seit dem September 2013 durchweg unter der Marke von 0,5 Prozent. Dabei scheint Spanien nur die Avantgarde beim Absturz Europas in eine Deflationsspirale zu bilden, da auch die Inflationsrate in der gesamten Eurozone mit 0,5 Prozent sehr niedrig ist und somit weit unter dem EZB-Zielwert von zwei Prozent verbleibt.
Auf den ersten Blick scheint eine Deflation vor allem für die einzelnen Lohnabhängigen mit handfesten ökonomischen Vorteilen einherzugehen. Die Preise für die meisten Waren sinken, sodass die Kaufkraft selbst bei stagnierenden Einkommen real ansteigt. Doch auf volkswirtschaftlicher Ebene führt die Deflation zu einem – zusätzlichen – Nachfragerückgang, da viele Konsumenten ihre Käufe in Erwartung weiterhin fallender Preise aufschieben. Mit dem steigenden Wert des Geldes geht auch eine reelle Steigerung des Wertes der Schulden einher, was insbesondere für hoch verschuldete Gesellschaften – wie etwa die südlichen Euroländer – zu einer weiteren Krisenverschärfung führt. Während die Inflation den Albtraum eines Gläubigers darstellt, bildet die Deflation das Horrorszenario eines jeden Schuldners (Schuldendeflation).
Die Deflation lässt auch die Profite der Unternehmen sinken. In Wechselwirkung mit den steigenden Kosten für Kredite und abnehmender Massennachfrage führt diese Krisendynamik somit dazu, dass die Investitionstätigkeit im privaten Sektor massiv einbricht. Schließlich schlägt diese mit fallenden Preisen einhergehende Krisendynamik auch auf die Lohnabhängigen durch, die sich mit ansteigender Arbeitslosigkeit und mit stagnierenden oder fallenden Löhnen konfrontiert sehen.
Der Wirtschaftsgeschichte sind diese Zusammenhänge aus der schweren Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts bekannt, als die meisten Industrieländer aufgrund verfehlter monetaristischer Politik in einer deflationären Spirale versanken – die verheerenden sozioökonomischen und politischen Folgen dieser Politik sind bekannt. Deflationen entwickeln oft eine von der Wirtschaftspolitik kaum kontrollierbare Eigendynamik, bei der sich die jeweiligen Krisenfaktoren – Nachfragerückgang, Investitionsverweigerung, fallende Preise, etc. – wechselseitig verstärken. Ein Paradebeispiel für eine langfristige Deflation stellt Japan dar, das seit den frühen 90er Jahren in einer milderen Deflationsspirale gefangen ist, die dem Land eine „verlorene Dekade“ wirtschaftlicher Stagnation – bei Wachstum wie auch bei den Löhnen – einbrachte. Die derzeitige, radikal expansive Geldpolitik der japanischen Notenbank zielt gerade darauf ab, diese Deflationsspirale zu brechen.
Tatsächlich ist es für die bürgerliche Wirtschaftspolitik zumeist einfacher, eine Inflation mittels – notfalls drakonischer – Zinserhöhungen einzudämmen, als mit einer Deflation fertig zu werden, da hier bloße Zinssenkungen oftmals nicht mehr wirken, sobald die Deflationsspirale sich etabliert hat. Das Handelsblatt sieht etwa den EZB-Chef Mario Draghi in einer Zwickmühle, da die Eurozone trotz seiner „lockeren Geldpolitik“ in einer „Abwärtsspirale mit sinkenden Preisen, schwindender Nachfrage und rückläufigen Investitionen zu geraten“ drohe.
Draghi kann mittels geldpolitischer Maßnahmen die Deflation tatsächlich abmildern oder hinauszögern – mehr aber auch nicht. Die Geldpolitik kann die aufkommende Deflation in der Eurozone allein deswegen nicht verhindern, weil dieses Phänomen auf zwei miteinander verknüpfte Faktoren außerhalb ihres Wirkungsbereichs zurückzuführen ist. Zum einen ist es die tiefe Wirtschafts- und Systemkrise, die mit dem Finanzcrash von 2008 in ein manifestes Stadium getreten ist.
Den entscheidenden Faktor, der die derzeitigen deflationären Tendenzen beförderte, bildet aber die von der Bundesregierung europaweit durchgesetzte Sparpolitik. Berlin zwang den Krisenstaaten den brutalen Sozialkahlschlag erst auf, der die massiven Nachfrageeinbrüche auslöste, die gerade die Initialzündung einer deflationären Spirale bilden. Eine Deflation kann nicht nur durch eine Politik des „knappen Geldes“ herbeigeführt werde. Historisch betrachtet setzte dieser Krisenverlauf erst dann ein, wenn die Politik auf einen krisenbedingten Wirtschaftseinbruch mit Sparmaßnahmen – zwecks Haushaltskonsolidierung – reagiert. Erst dieser krisenbedingte Nachfrageeinbruch kann die Deflation herbeiführen.
Und genau diesen Weg schlug Deutschland bei seiner Krisenpolitik in Europa ein. Als wichtigster Akteur dieses deutschen Sparsadismus, der eine wirtschaftliche „Gesundung“ Europas durch „schmerzhafte Reformen“ zu erreichen vorgibt, fungiert Finanzminister Schäuble. Dessen Forderungen nach immer neuen Sparpaketen und Strukturreformen, die in der Zypern-Krise ihrem Höhepunkt erreichten (Das großgehungerte Deutschland), können als ein zentraler Faktor bei der Herausbildung einer prädeflationären Lage in der Eurozone benannt werden. Unterstützt wird Schäuble dabei von einer ganzen Heerschar von Wirtschaftsexperten – wie dem Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann oder dem IFO-Chef Hans Werner Sinn -, die eifrig darüber wachen, dass die EZB nicht allzu sehr von dem monetaristischen Pfad der Tugend abrückt.
So hat etwa Hans Werner Sinn eventuelle Zinssenkungen der EZB, die in Reaktion auf die drohende Deflation diskutiert werden, umgehend scharf kritisiert. Die drohende Gefahr der Deflation sei „vorgeschoben“, so Sinn: „Die EZB sucht nach Rechtfertigungen für eine Politik des billigen Geldes, die den überschuldeten Ländern fiskalisch unter die Arme greift.“
Diese Sparpolitik bildet dabei eine von zwei grundlegenden Optionen, die der Politik nach dem Krisenausbruch 2008 zur Verfügung stehen (Die Krise kurz erklärt). Hierbei wird versucht, die ungeheure Schuldenlast abzutragen, die das spätkapitalistische System in einer regelrechten Blasenwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten anhäufte (Aufwachen im Blasenland). Die Folgen sind nun offensichtlich: Es setzen Rezessionen ein, die in eine Deflation überzugehen drohen. Für die immer wieder eintretenden Wirtschaftskrisen, die für die gegenwärtige Ära der globalen Stagnation charakteristisch sind, etablierte sich inzwischen der Begriff der „Bilanzrezession“. Diese Bilanzrezession werden gerade dadurch ausgelöst, dass die Schuldner ihre „Bilanzen“ aufzubessern versuchen, wie der SPON-Kolumnist Wolfgang Münchau erläuterte: „Nach einer Finanzkrise entschulden sich Staaten und der Privatsektor, und in dieser Zeit bleibt die Nachfrage schwach.“
Die zweite Option der kapitalistischen Krisenpolitik besteht selbstverständlich darin, die Verschuldungsdynamik und die korrespondierende Blasenbildung um jeden Preis aufrechtzuerhalten oder wiederzubeleben, um so die drohenden Wirtschaftseinbrüche abzuwenden. Diese Option wird vor allem im angelsächsischen Raum praktiziert. Die Geldschwemme der Fed sorgte in den vergangenen Jahren gerade für die Wiederbelebung dieser Finanzblasenwirtschaft, die durch Schuldenmacherei als ein Konjunkturtreiber wirkt – und nun vorerst in den Schwellenländern einen neuen Krisenschub auslöst. Auch in China bahnt sich ein ähnlicher Krisenverlauf an. Eine Inflation findet bei dieser extrem expansiven Geldpolitik nur deswegen – vorerst – nicht statt, weil das in den Finanzsektor hereingepumpte Geld auch in diesem verbleibt. Genau genommen findet ja bei jeder Finanzblase eine Preisinflation der entsprechenden Spekulationsobjekte dar. Der inflationäre Schub kommt erst dann, wenn im Zuge des Zusammenbruchs dieser globalen Liquiditätsblase dieses fiktive Kapital in einer Panikreaktion aus den Finanzmärkten in „Sachwerte“ zu flüchten beginnen würde.
Damit sind die beiden grundlegenden Verlaufsformen der gegenwärtigen Krise des kapitalistischen Systems benannt: Die bürgerliche Krisenpolitik kann systemimmanent nur zwischen Deflation oder Inflation wählen.