Lisa Mittendrein: Solidarität ist alles, was uns bleibt. REZENS
von Lorenz Glatz
Lisa Mittendrein: Solidarität ist alles, was uns bleibt – Solidarische Ökonomie in der griechischen Krise. AG SPAK Materialien der AG SPAK – M275, 2013, 206 Seiten, ca. 16 Euro |
Die diversen Revolutionen und Revolten in Arabien, im Süden der EU und zuletzt in der Ukraine haben zumindest in der Berichterstattung ein klares Bild: Menschenmassen und die Gewalt der Polizei, der Armee, von Militanten und Milizen. Die wehenden Fahnen der Nation. Rufe nach der „internationalen Gemeinschaft“. Freiheit und Demokratie! Arbeit! Weg mit den korrupten Politikern! Das Leben soll endlich so gut werden, wie es die Werbung im TV verspricht. – Nichts davon kommt. Was scheinbar unverrückbar bleibt, ist die sich ins Leben der Menschen und der Natur fressende Krise der Fundamente unserer Lebensweise und die Gewalt, blutflüssige und die in den Strukturen festgefrorene.
Lisa Mittendrein gräbt da in einer unprätentiösen Untersuchung ein Stück tiefer. Sie fragt am Beispiel Griechenlands, ob sich da nicht auch Alternativen zum Kapitalismus abzeichnen. Ihr Interesse gilt der „Solidarischen Ökonomie in der griechischen Krise“. Deren bunten und widersprüchlichen Projekten und Experimenten liege ein Menschenbild zugrunde, das „im Widerspruch zum rationalen, egoistischen ,homo oeconomicus‘ der orthodoxen Ökonomie“ steht und als „zentrale Handlungslogiken … Kooperation, Solidarität, Gemeinwohlorientierung und das Streben nach Glück“ habe.
Das Gewimmel der konkreten Erscheinungen des Solidarischen und Alternativen strebt die Autorin dann aber mithilfe von Luise Gubitzers sehr horizontalem Sektorenmodell der Gesamtwirtschaft als Teile der gegebenen staatlich-ökonomischen Ordnung zu erfassen. Diese avanciert so unversehens zu einer grundsätzlich über der Ökonomie und Krise stehenden Struktur, in der kapitalistische Praktiken von solchen, die „darüber hinaus weisen“, überwunden werden können. Eine Sicht, die dem Begriff Alternative viel von seiner Schärfe nimmt.
Informativ und klar strukturiert sind jedoch die Angaben über die Krisenentwicklung in Griechenland: Wie sie damit begann, dass „die Märkte“ den Glauben an die Fähigkeit des griechischen Staats, seine Schulden zu tilgen, verloren, und wie seitdem Zug um Zug große Teile der „unrentablen“ Ökonomie lahmgelegt und in einer schaurigen Folge von Grausamkeiten große Teile der Bevölkerung pauperisiert wurden. Deutlich, wenn auch nicht klar ausgesprochen, wird auch, dass der politisch-ökonomische Kampf gegen das Personal von Politik und Ökonomie erfolglos blieb, ja zum Teil ins faschistische Fahrwasser geraten ist. Die großen Streiks der Gewerkschaften, die Massendemonstrationen, die Besetzungen von zentralen Plätzen in den Städten und die Straßenschlachten mit der Polizei um die Verhinderung von Entlassungen, Lohnkürzungen, Steuererhöhungen, Streichungen von sozialen Leistungen usw. usf. konnten nichts ausrichten.
Schuld daran ist nach der Diktion des Berichts die Übermacht der Troika aus EZB, EU-Kommission und IWF und ihrer Kollaborateure im Land bei der Durchsetzung ihrer „falschen Politik“. Der vorausgesetzte Glaube, dass die Alternative zu deren Maßnahmen bloß in einer anderen Gestaltung von Politik, Staat und Geld/Kapital machbar ist, zeigt leider wieder den zu kurzen Horizont. Den Staaten bleibt nicht viel anderes übrig, als für Bankenrettung und verzweifelte „Konjunkturbelebung“ mit Staatsschulden die ultimative Blase aufzublähen. Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens, die maximale Vermehrung investierten Gelds, gelingt nicht mehr durch weitere Steigerung der Masse produktiver Arbeit und den Absatz auf den Märkten. Solche Arbeit nimmt dank gigantischer Produktivität ab und nicht mehr zu. Höchstprofite macht man eher noch mit Wetten auf Wetten auf Spekulationen mit dem Glauben auf hoffentlich künftig doch noch einmal eintretende reale Verwertung. Nicht mehr die Arbeit schafft und verwertet Kapital, sondern eher schöpfen Glaube und Hoffnung mit spekulativen Blasen immer noch notdürftig wachsende Geldmengen, aus denen auch die Arbeit finanziert wird. Bis Glaubenszweifel die Blasen platzen, Nationalökonomien untergehen, die kapitalistische Weltwirtschaft tiefer in die Krise schlittern lassen. (Als „secular stagnation“ sickert das derzeit auch in die Mainstream-Ökonomie ein: streifzuege.org/2014/aufwachen-im-blasenland) Über die Möglichkeit global-realer Kapitalverwertung und eine einigermaßen stabile Weltordnung mit den Mitteln der Geldbeziehung ist dieses System hinweg. Das Denken von Lisa Mittendrein und ihres Umfeld in Attac bedauerlicherweise noch nicht.
Das verhindert aber nicht – und das ist schlicht anzuerkennen – die ermutigenden und aufschlussreichen Beobachtungen der Autorin, wie sich aus den großen politischen Widerstandsaktionen, vor allem aus der monatelangen Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen, ein starker Impuls für einen Nachdenk- und Diskussionsprozess und für Experimente und Initiativen der Selbsthilfe und Selbstorganisation entwickelt hat. Sie richtet auch den Blick darauf, wie aus der Not eine neue Wahrnehmung dessen entstehen kann, was denn gutes Leben ist, wie sich Praktiken von Kommunikation, gegenseitiger Hilfe und Inanspruchnahme dessen, was eins zum Leben braucht, z.b. Grund und Boden, entwickeln und mit der Macht des Staats in fantasievoller Weise zu konfrontieren beginnen. Die „Erotik des Informellen“ (Kai Ehlers) wirkt, hält die Dinge in Bewegung und macht an den Grenzen des alten Denkens und der alten Ordnung hoffentlich nicht halt. Mittendrein zitiert einen Interviewpartner, der „glaubt, dass Profit Beziehungen schlecht macht, es macht sie nicht-menschlich. Also gefällt vielen Menschen die Idee, das Geld loszuwerden und menschlicher zu sein.“
Vom letzten Satz allerdings distanzitiert sich die Autorin ausdrücklich. Sie sieht nicht den Widerspruch zwischen Mitmenschlichkeit und dem Verhältnis von „Tauschgegnern“, das im Geld als dem unpersönlichsten aller möglichen menschlichen Verhältnisse (Max Weber) konstituiert wird. Das gehört zur grundlegenden Schwäche des Buchs, das theoretisch über die Idee der Wiedereinbettung der „entbetteten Marktwirtschaft“ in die Gesellschaft (in Anlehnung an Karl Polyani) nicht hinauskommt. Bloß die Intention der Autorin und die Logik des Themas treiben das Buch immer wieder über die Grenzen.