Wie reizvoll!
von Maria Wölflingseder
Eine treffende Diagnose der aktuellen kollektiven Verfassung lautet Reizüberflutung. Vielerlei Reize sind so anziehend oder so aufdringlich, dass wir uns ihnen kaum entziehen können. Von den Infoscreens in den U-Bahnstationen und in der Straßenbahn bis zu den Verlockungen, die Smart-Phone und TV bieten. Von der ständigen persönlichen Musik-Begleitung zu den unendlichen Reizen des Worldwidewebs. Von den Printmedien bis zur öffentlichen Dauerbeschallung. Sei es als Auto-, Flug- oder Baulärm, als Musik, Werbung und Geplapper eigener Supermarktradiosender oder lautstarkes Gedudel in den übrigen Geschäften und in der Gastronomie. Nicht nur der Informationshunger ist groß, auch der Hunger nach Geruch und Geschmack ist gekonnt geweckt worden. Je mehr zum Himmel stinkt – Abgase und reizende Ausgasungen von Kunststoffen, Farben und Lacken –, desto mehr steigt die Parfümierung mit synthetischen Stoffen: von der Klimaanlage in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die Gerüche ventilieren, bis zum Klopapier, vom Raumspray bis zum Autoduftbäumchen, vom Waschpulver bis zur Seife. Die olfaktorischen Erlebnisse werden immer intensiver, wenn auch nicht bekömmlicher. Und die künstlichen Geschmacksstoffe in vielen Nahrungsmitteln erfüllen durchaus den kommerziellen Zweck der Abhängigkeit.
Um trotz dieses Reizhypes inklusive der Folgen von geistiger und körperlicher Überbeanspruchung noch einen Tag-Nacht-, einen Anspannungs-Entspannungsrhythmus zu finden, werden Unmengen an stimulierenden sowie sedierenden Substanzen konsumiert. Höchste Gereiztheit herrscht in jedem Fall.
Nehmen wir die Erscheinungen der digitalen Flut an Informationsreizen ein bisschen genauer unter die Lupe. Historisch betrachtet, wurde die Arbeit vom Acker über das Fließband an den Computer verlagert. Mit der Möglichkeit, gigantische Datenmengen zu sammeln, zu speichern und zu verbreiten, wurde ein ebenso großes Suchtpotential geschaffen. Mittlerweile hat sich das digitale Suchtverhalten von der Arbeit bis in unsere intimsten Bereiche ausgebreitet.
Mitunter stellen zwar schon junge Menschen, denen der Computer buchstäblich in die Wiege gelegt wurde, das digitale Leben infrage. Manche wollen in den neuen Strick-, Häkel- und Nähgruppen gar eine Trendwende erkennen. Mir fallen jedoch vielmehr die in letzter Zeit vermehrt aus der Öffentlichkeit verschwundenen Blicke auf. Sie kleben nur mehr am Display. In den öffentlichen Verkehrmitteln sowieso, aber auch zuhauf in Konzerten und im Theater. Bin ich krank, wenn ich mich dadurch beim Kunstgenuss gestört fühle? – Mein Freund J. wohnt in Salzburg am Mönchsberg. Mit traurigem Kopfschütteln erzählte er: „Ich bin neugierig, ob mich jemals wieder jemand nach dem Weg zur Festung fragen wird. Alle suchen ihn stur auf ihren Screens, anstatt in die Landschaft oder gar jemandem in die Augen zu blicken.“ – Das GPS im Auto lotst Nutzer mitunter gar in die Irre. Kürzlich las ich über die Gefahr, bei ständiger Verwendung digitaler Orientierungshilfen, sich ohne diese gar nicht mehr zurechtzufinden. Aber mittlerweile kann ja jede Reise „lückenlos“ geplant werden, wie eine App verspricht: Man leite einfach alle Mails über Flug, Hotel, Mietwagen etc. an den Dienst und bekommt einen minutiösen Plan darüber, wann welcher Schritt wohin gemacht werden muss. Wird die Reise selbst gar bald durch eine digitale ersetzt?
Freundschaft, Sinnlichkeit und Sex haben sich ebenfalls stark in die Virtualität verlagert. „Jeder Vierte schaut gerade Pornos!“, so der Titel eines kleinen Artikels von Todor Ovtcharov, einem gebürtigen Bulgaren, in der Wiener Zeitschrift biber (Mai 2014, S. 70). Professionelle Pornos werden durch private ersetzt. Mit der gleichen Routine, mit der Selfies und das Frühstück ins Netz gestellt werden, wird der hauseigene Sex gepostet. Bulgarien steht weltweit an sechster Stelle, was das diesbezügliche Mitteilungsbedürfnis und die einschlägige Neugierde betrifft. Deutschsprachige Pornos waren in Bulgarien während der Pubertät des Autors extrem populär. Sprüche wie „Ja, ja, das ist fantastisch!“ wurden zur „Stadtfolklore“. Wer glaubt, das seien Reize ohne Seele, schaue sich den Film „Her“ von Spike Jonze an. Theodor verliebt sich in sein OS, in sein Operating System namens Samantha. Obwohl seine Freundin mit 8316 weiteren Menschen und Betriebssystemen in engem Kontakt steht und mit 641 davon eine Liebesbeziehung hat, beteuert sie, dass dies ihre innige Liebe zu ihm in keiner Weise herabsetze. Am Schluss bleibt Theodor traurig zurück, weil sich Samantha in eine neue virtuelle Existenz verabschiedet hat. Wovon Publikum und Kritik hellauf begeistert sind, ist für mich ziemlich langweilig.
Manche meinen, mit den Möglichkeiten der Digitalität höchste Authentizität vermitteln zu können. Aber wozu brauche ich in drei Minuten Radioweltnachrichten fünf O-Töne von Politikern und Experten und als Hintergrundsound Maschinengewehrgeknatter? Oder die ewige schillernde Berichterstattung über der Promis Cellulite, Hängepos und unendlich viel ähnlich Spannendes.
Da sich im Kapitalismus jeglicher Junk bestens bewährt und schnell verbreitet, tut er das im Netz umso effizienter. Dass jegliche Information – genauso wie alles andere – von der marktwirtschaftlichen Verwertbarkeit gesteuert wird, ist klar. Ein anderer Kontext hat sich bis dato erst minimal ausgewirkt. Vor allem Fragen nach dem Warum all der aufgeherrschten Zumutungen sind schlicht tabu. Das wichtigste Fragewort, warum, wurde bei der Programmierung der Computer klammheimlich unter den Tisch fallen gelassen. Sonst würde vielleicht das System abstürzen. Wie kann sich bei unentwegter Beschäftigung mit dieser Flut an (zu 97 Prozent Junk-) Infos noch solch Altmodisches wie Konzentration, Überlegtheit, Verbindlichkeit oder gar Nähe entwickeln? Ganz zu schweigen von Neugierde, Phantasie oder Geheimnisse. Quantität – die tägliche Überdosis an digitalen Daten, die jeder verschlingt – schlägt gehörig in Qualität um.
Oft wird die Quelle der kommunikativen Missverständnisse von Mails und SMS in ihrer bloß schriftlichen Form gesehen. Aber liegt es nicht vielmehr an der mangelnden Sorgfalt und an der Häufigkeit, mit der mitunter gar mit mehreren gleichzeitig digital geplaudert wird? Warum sollen Mails und SMS nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit und Hingabe geschrieben werden wie früher vertrauliche Briefe? Dann gäbe es sicher weniger Missdeutungen und mehr Freude.