Venezuela. Ende eines Rentier-Staats?
von Wolf-Dieter Vogel
Venezuela kommt nicht zur Ruhe: Die Inflation steigt, mit der Versorgung gibt es weiterhin Probleme und der chavistische Präsident Nicolás Maduro bleibt unter Druck. Ein Gespräch mit dem venezolanischen Intellektuellen Edgardo Lander über Rohstoffabhängigkeit, Autoritarismus und das „gute Leben“. Edgardo Lander, 71, ist einer der bedeutendsten Linksintellektuellen Venezuelas. Er studierte in den Vereinigten Staaten in Harvard und ist Professor für Soziologie an der Zentraluniversität von Caracas. Lander ist in sozialen Bewegungen aktiv und Autor zahlreicher Texte über Demokratietheorie, Grenzen der Industrialisierung und des ökonomischen Wachstums sowie über die lateinamerikanische Linke.
Inflation, Migration, Gewalt – Venezuela steuert immer mehr in die Krise. Warum haben es die linken Regierungen unter Ex-Staatschef Hugo Chávez und unter Maduro nicht geschafft, eine nachhaltige Wirtschaft aufzubauen, obwohl sie mit die größten Ölreserven weltweit besitzt?
Wir erleben in Venezuela derzeit die finale Krise des Modells eines Rentier-Staats. Seit hundert Jahren wird in dem Land Erdöl gefördert. Das Öl ist nicht nur die wirtschaftliche Grundlage, es formt auch die politische Kultur. Schon immer ist es der Staat gewesen, der die Öl-Einnahmen verteilt. Natürlich sieht das derzeit anders aus als früher. Unter der heutigen Regierung fließt viel Geld in Soziales und andere Projekte für bessere Lebensbedingungen. Aber das Produktionsmodell selbst haben die Chavisten nie in Frage gestellt. Im Gegenteil: 1998, vor der Regierung von Hugo Chávez, machte das Erdöl 68 Prozent des Exportumsatzes aus, letztes Jahr waren es 96 Prozent.
Der staatliche Haushalt orientiert sich ständig an kurzfristigen Herausforderungen. Fast jedes Jahr fanden Wahlen statt: Referenden, Parlamentswahlen, Präsidentschaftswahlen. Um sich die Zustimmung der armen Bevölkerung zu sichern, musste die Regierung in Maßnahmen investieren, die deren Bedürfnisse gerecht werden. Das festige die Orientierung an der Erdölförderung.
Dieser Klientelismus erinnert an Saudi-Arabien oder Katar. Auch dort stellt die Regierung mit Ölrenten die Bevölkerung ruhig. Nur profitieren dort wenigstens alle Einheimischen davon. Was ist daran emanzipatorisch oder nachhaltig?
Die Antwort ist nicht so einfach. Venezuela hat einen wichtigen Wandel im Interesse der Armen gemacht. Millionen, die früher keine Sozialversicherung hatten, sind heute abgesichert. Auch die Kultur der politischen Beteiligung hat sich geändert, die Apathie wurde überwunden. Doch die immense Abhängigkeit von öffentlichen Geldern und vom Öl hat tatsächlich keine Zukunft. Nicht nur, weil die Politik an Grenzen stößt, wenn der Ölpreis fällt. Wenn sich eine Gesellschaft transformieren soll, muss sie dezentral organisiert werden. Die Menschen müssen mehr Kontrolle über ihr eigenes Leben bekommen und sich die Produktion aneignen. Das geht nur, wenn man das Produktionsmodell ändert. Solange das Ölrentenmodell herrscht, werden Basisorganisation ständig ausgebremst, weil deren Kontinuität von staatlichen Zahlungen abhängt. Da sabotiert der Rentier- Staat eine demokratische Entwicklung.
Ähnlich sieht es mit der Ernährungssouveränität aus. Laut der Verfassung soll der Staat die interne Nahrungsmittelversorgung sicherstellen und dafür zu sorgen, dass Gemeinden selbst Lebensmittel produzieren. Die Abhängigkeit von den Öl-Devisen führt aber zu einer ständigen Überbewertung der Währung, wodurch es billiger wird, Lebensmittel zu importieren. Zum einen setzt man sich also für Ernährungssouveränität ein, zum anderen unterstützt man, dass die heimische Produktion nicht mit den Importen konkurrieren kann. Auch hier betreibt die Regierung eine Selbstsabotage.
Was wäre nötig, um eine nachhaltige Entwicklung voranzubringen?
Zunächst müsste gesellschaftlich anerkannt werden, dass die Orientierung am Erdölexport überwunden werden muss. Das ist schwierig, denn in der Gesellschaft gibt es einen großen Konsens über die nationale Ölpolitik. Für Venezolaner ist Venezuela ein reiches Land. Entsprechend ist ihre Haltung: Wir haben die größten Erdölreserven der Welt und deshalb das Recht, reich zu sein, auch wenn wir nicht arbeiten. Sowohl Chavisten als auch Oppositionelle werben in Wahlen damit, dass sie die Ölförderung auf sechs Millionen Barrel täglich hochfahren wollen. Und das sind die einzigen beiden großen politischen Kräfte. Wir sprechen also von einem Konsens.
Hat denn die chavistische Bewegung eine Zukunft, wenn das Geld nicht mehr fließt?
Die Bewegung ist heterogen. Manche politische und soziale Organisationen sind nur aufgrund öffentlicher Zuwendungen entstanden. Andere agieren schon immer auch unabhängig von staatlicher Unterstützung. Es wäre falsch, davon auszugehen, dass die Bewegung ohne staatlichen Zuwendungen zusammenbrechen würde.
Hat die Krise auch damit zu tun, dass die Kultfigur Chávez verschwunden ist?
Sicher, sein Tod veränderte die politischen Bedingungen im Land. Chávez war eine charismatische Führungsfigur. Er konnte das Gefühl vermitteln, die richtige Richtung vorzugeben, konnte Parolen entwerfen und hatte erzieherische Fähigkeiten. Die erfolgreichen Wahlen von 1998, der abgewehrte Putsch und der Sieg gegen den Streik in der Ölindustrie, der mit vielen Entbehrungen verbunden war, hat viele Menschen mit ihm zusammen geschweißt.
… und dieses Gefühl existiert unter Maduro weiter?
Mit einigen Unterschieden. Chávez konnte Differenzen vereinen. Maduro kann das nicht. Es gibt aber einen Pluralismus, der vorher nicht existierte. Das hat Vor- und Nachteile. Die Leute trauen sich, die Regierung offen zu hinterfragen. Mit Blick auf die Krise fehlt Maduro jedoch die Fähigkeit, die Bewegungen davon zu überzeugen, das er das Richtige tut. Das war zum Beispiel so bei den inzwischen gescheiterten Verhandlungen mit Unternehmern und der Opposition. Für viele war das ein Verrat an Chávez. In diesem Sinn ist die Regierung schwächer geworden.
Sind die Mobilisierungen der Opposition deshalb für die Regierung gefährlicher als früher?
Die Regierung wurde in den letzten Auseinandersetzungen nur recht begrenzt unterstützt. Vielleicht ist der Chavismus tatsächlich weniger mobilisierungsfähig, weil aufgrund des Mangels und wirtschaftlicher Probleme eine größere Unzufriedenheit herrscht. Vielleicht aber mobilisierte die Regierung bewusst nicht, um schwere Konfrontationen zu vermeiden. Beides spielt wohl eine Rolle.
Inflation, Mangelwirtschaft, willkürliche Verhaftungen – die Opposition hat doch allen Grund, auf die Straße zu gehen.
Für mich ist es nahe liegend, dass die Opposition die ökonomische Krise ausnutzt. Und sie nimmt wahr, dass die Regierung durch das Fehlen von Chávez geschwächt ist. Zugleich hat sich die Zusammensetzung der Opposition geändert. Früher ging es immer darum, Chávez zu stürzen.Das führte zu einer Niederlage nach der anderen. Später wählten Oppositionelle um Henrique Capriles den demokratischen Weg und unterlagen 2013 Maduro nur knapp. Seither findet von Seiten des rechten Flügels ein Kampf um die Hegemonie in der Opposition statt. Deshalb agierten die Rechten weiter, als Capriles´ Leute mit der Regierung verhandelten. Offenbar will dieser Teil durch Gewalt Reaktionen provozieren. Was dann zum Beispiel US-Sanktionen zur Folge haben könnte.
Die Regierung reagierte sehr gewalttätig. Das hat nicht zur Beruhigung der Lage beigetragen.
… ja, da gebe ich Ihnen Recht. Es handelte sich aber um einen Versuch, die Regierung zu stürzen. Das waren nicht nur, wie oft behauptet wird, friedliche Studenten, die öffentliche Universitäten verteidigen wollten. Die Demonstrationen waren sehr heterogen zusammengesetzt. Gesundheitszentren wurden angezündet, Molotowcocktails auf Menschen geworfen. Und die Regierung reagierte, wie das eben Regierungen in solchen Situationen tun: repressiv.
… Amnesty, Human Rights Watch und die UNO sprechen von Folterungen, Politiker wurden verhaftet.
Ich möchte die Repression nicht rechtfertigen. Doch es ist sehr schwierig herauszufinden, wie viele von den 41 Morden die Regierung zu verantworten hat und wie viele die Opposition. Auf jeden Fall waren die politischen Kosten für die Regierung sehr hoch.
Auch der mit der venezolanischen Regierung „befreundete“ ecuadorianische Präsident Rafael Correa geht hart gegen Oppositionelle vor. Dort setzt sich die Bewegung aus Leuten zusammen, die Ziele verfolgen, die sich die Regierung einst auf ihre Fahnen und in die Verfassung geschrieben hat: Mehr Demokratie und mehr Rechte für die Natur. Wieso agiert Correa so empfindlich? Er sitzt doch fest im Sattel und kann auf eine Mehrheit bauen.
Correa glaubte nie an diese Geschichten des „buen vivir“, dem „Recht der Mutter Natur“. Er ist ein liberaler, halb-marxistischer Wirtschaftspolitiker, der von der Idee des Fortschritts sowie des Nationalstaats überzeugt ist und die Reichen nicht antasten will. Nach den Konfrontation mit seinem einstigen Mitstreiter Alberto Acosta, dem Vertreter des Buen-Vivir-Konzepts, begann er, seine Politik umzusetzen. Das führte zum Bruch mit indigenen und ökologisch orientierten Organisationen. Correa war effektiver als seine venezolanischen Kollegen. Er konnte eine nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität der armen Bevölkerung erreichen. Die Grundlage dieser Entwicklung ist die massive Ausbeutung von Rohstoffen. Mit den Einnahmen will er die soziale Frage angehen, in die Bildung investieren und die Wirtschaft in anderen Bereichen ausbauen, um dann langfristig zu einer postextraktivistischen Gesellschaft zu kommen.
So argumentiert auch Boliviens Staatschef Evo Morales. Haben die beiden nicht Recht, wenn sie Umweltschützern vorwerfen, man wolle den Indigenen ihr Recht auf Bildung oder den Besitz eines Handys verweigern?
Wenn wir von einer sozialistischen Revolution im 20. Jahrhundert sprächen, vom Modell der Entwicklung der Produktivkräfte, hätte er vielleicht Recht. Aber heute zwingt uns der Zustand des Planeten dazu, den Kampf für eine postkapitalistische Gesellschaft mit der Überwindung einer an Entwicklung orientierten Gesellschaft zu verbinden. Dass die Länder des Nordens den Planeten zerstört haben, heißt nicht, dass wir im Süden die Logik des Konsums und der Entwicklung einfach weiterführen können. Die Erfahrung von Venezuela zeigt, dass die internationale Arbeitsteilung und die kolonial geprägte Teilung der natürlichen Ressourcen nicht nur eine ökonomische Angelegenheit ist. Sie schaffen soziale Verhältnisse und halten eine Logik am Leben, die man nicht einfach zurückdrehen kann. Im Gegenteil: Ecuador, das keine Tradition des Bergbaus hat, setzt plötzlich massiv auf Bergbau.
Es steht außer Frage, dass die vorbehaltlose Ausbeutung natürlicher Ressourcen ein Ende haben muss. Aber dialektisch betrachtet schafft doch gerade technologischer Fortschritt die Fähigkeit, die Natur zu schützen. Das ist ein Ergebnis der Aneignung von Natur. Warum nicht die Dominanz nutzen, um die Umwelt zu schützen, anstatt der „Mutter Erde“ eigene Rechte einzuräumen?
An diesem Punkt irrt der Marxismus vollkommen. Er basiert auf der westlichen Kultur, die der Idee verhaftet ist, es gäbe eine Entwicklung ohne Ende. Der Kapitalismus kann auf der Basis der Entwicklung der Produktivkräfte nur wieder kapitalistische Verhältnisse hervorbringen und die selben sozialen Beziehung reproduzieren. Denn diese Produktivkräfte sind nicht neutral.
Um mit der Ölförderung Schluss zu machen, braucht es neue Technologien. Diese sind zwar ein Ergebnis kapitalistischer Forschung, können aber langfristig helfen, diese Verhältnisse zu überwinden.
Daran glaube ich nicht. Natürlich werden wir nicht auf die gesamte Wissenschaft und Technologie verzichten könne, die im Kapitalismus produziert wurden. Wenn wir aber die zivilisatorische Krise angehen wollen, braucht es eine tiefgreifende Transformation der Lebenskultur. Wir können nicht einfach neue Technologien schaffen und dasselbe weiterbetreiben. Wir müssen anders leben. Mit anderen Modellen des Konsums, mit auf Harmonie basierende Beziehungen zwischen Menschen und Natur und mit einer Abkehr von der Ungleichheit, die auf dem Planeten herrscht. Die privilegierten Teile der weltweiten Gesellschaft werden ihren Konsum drastisch einschränken müssen. Wenn wir an dem Mythos festhalten, technologische Erneuerung würde unsere Problem lösen, werden weiter jene die Kontrolle haben, die schon jetzt unverhältnismäßig großen Zugang zu den gemeinsamen Gütern des Planeten haben. Die anderen sollen indes auf technologische Antworten warten. Doch die Erde wird zerstört sein, bevor diese Technologien ankommen.
Dieser Artikel ist erschienen in Poonal Nr. 1103