Ukrainisches „Great Game“
von Tomasz Konicz
Diesmal war es die US-Politikern Hillary Clinton, die mit ihrer Gleichsetzung Wladimir Putins mit Adolf Hitler mal wieder Godwins Gesetz bestätigte. Die vom Sachbuchautor Mike Godwin entdeckte Gesetzmäßigkeit besagt, dass mit fortschreitender Dauer einer Diskussion oder Auseinandersetzung eine Streitpartei zwangsläufig einen Nazi-Vergleich zur Diskreditierung der Gegenseite heranführen wird. In diesem Fall weist Clintons Hitleranalogie eine besondere tragigkomische Komponente auf, da gerade innerhalb der westlich gestützten Opposition starke rechtsextremistische Strömungen aktiv sind.
Den bislang peinlichsten Ausrutscher im Propagandakrieg um die Ukraine – der noch absurder erscheint als die russischen Behauptungen, eine Menschenrechtsintervention nach westlichem Muster durchführen zu wollen, leistete sich der amerikanische Außenminister Kerry, der in einer klassischen Projektion Russland vorwarf, sich wie eine imperialistische Großmacht des 19. Jahrhunderts zu benehmen und „unter einem erfundenen Vorwand“ in ein anders anderes Land einzumarschieren – dies rund ein Jahrzehnt, nachdem die Vereinigten Staaten unter frei erfundenen Vorwänden in den Irak einmarschierten (Peinliche Rhetorik von Putin und Kerry).
Doch selbst in den Bemerkungen Kerrys findet sich ein Körnchen Wahrheit. Die „Großmächte“ – der Westen wie auch Russland und China – scheinen tatsächlich immer rücksichtsloser, offensiver und auch offener ihre macht- und geopolitischen Interessen zu vertreten, was durchaus den Eindruck erwecken lässt, das kapitalistische Weltsystem befinde sich auf einer Zeitreise zurück ins 19. Jahrhundert, als die imperialistischen Staaten bei ihrem Expansionsstreben in Dutzenden von Konflikten und Krisen aneinandergerieten.
Differenzen innerhalb der westlichen „Wertegemeinschaft“
Dabei scheinen sich beim gegenwärtigen Ukraine-Konflikt innerhalb der westlichen „Wertegemeinschaft“ zunehmend Differenzen aufzutun. Während die USA und die osteuropäischen Natostaaten eine harte Haltung gegenüber Russland einnehmen und auf umfassende Sanktionen drängen, versucht die Bundesregierung sich in einer Vermittlerrolle zu positionieren und die Sanktionen gegenüber Russland auf ein Minimum zu beschränken.
Dieser deutsche Kurswechsel – der im scharfen Kontrast zu dem Jubel über den deutschen Verhandlungserfolg in Kiew steht, der dem Umsturz vorausging – ist vor allem durch wirtschaftliche Überlegungen motiviert. Russland bildet einen wichtigen Absatzmarkt für die deutsche Exportwirtschaft und ist ein wichtiger Lieferant von Energieträgern. Während die deutschen Investitionen in Russland sich inzwischen auf 22 Milliarden Dollar summieren, importierte die Bundesrepublik 35 Prozent ihres Erdöls und 40 ihres Erdgases aus der Russischen Föderation. Jede Sanktion habe „ihren Preis“, warnte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Gazprom kündigt „Störungen“ der Öl- und Gaslieferungen an Westeuropa an).
Den deutschen Kurswechsel – der Differenzen zwischen Berlin und Washington aufzeigt – erläuterte die New York Times am 3. März. Demnach hätten sich deutsche Diplomaten den US-Plänen zur Verhängung scharfer Sanktionen und zum Ausschluss Russlands aus der G8 verweigert. Stattdessen habe die Kanzlerin wie auch viele ihrer westeuropäischen Partner auf „diplomatische Lösungen“ und „beschränkte Aktionen“ gegen Russland gesetzt. Frau Merkel sei aber auch eine „Verfechterin enger Bindungen der Ukraine an die Europäische Union“ gewesen, die durchaus eine harte Linie gegenüber Russland einnehmen konnte – etwa in „Menschenrechtsfragen“, so die NYT. Da ein rascher und geräuschloser Umsturz in der Ukraine mitsamt der intendierten Westeinbindung des Landes nicht gelang, betreibt Berlin nun offensichtlich Schadensbegrenzung, um den wirtschaftlichen Fallout dieser Krise zu minimieren.
In den Vereinigten Staaten braucht man auf solche wirtschaftlichen Erwägungen kaum Rücksicht zu nehmen, da die wirtschaftlichen Verflechtungen beider Länder marginal sind. In Teilen Mittelosteuropas, wie etwa in den baltischen Ländern oder Polen, wird ebenfalls auf eine harte Haltung gegenüber Russland gedrängt. Hier sind Befürchtungen vor einem gen Westen gerichteten russischen Expansionsstreben – und mittelbar vor dem Verlust der eigenen Souveränität – zumindest innerhalb der politischen Klasse noch sehr lebendig. Es war etwa Polen, das eine Sitzung des NATO-Rats einberufen ließ, da es sich durch die russische Intervention in der Ukraine bedroht sah (Polen: Die antirussischen Klischees bestätigen sich). Bei vielen östlichen NATO-Ländern ist das geopolitische Bemühen präsent, zwischen den eigenen Grenzen und Russland einen möglichst großen Puffer westlich orientierter Staaten aufzubauen.
Ukraine ist entscheidender Baustein der geplanten Eurasischen Union
Angesichts dieser aktuellen Differenzen geraten die gemeinsamen Interessen des Westens in den Hintergrund, die zuvor diesen zu einer gemeinsamen, von Washington bis Berlin getragenen Intervention in der Ukraine verleiteten. Zum einen ging es Washington und insbesondere Brüssel darum, die Formung eines eurasischen Konkurrenzbündnisses zur EU zu verhindern. Die vom Kreml forcierte „Eurasische Union“ sollte etliche Volkswirtschaften des postsowjetischen Raums in einem nach dem Vorbild der EU strukturierten transnationalen Bündnissystem zusammenschließen. Neben Kasachstan und Belarus sollte diese Union auch die Ukraine umfassen. Die Zollunion, die der Kreml einführte, gilt als erster Schritt zu diesem ambitionierten geopolitischen Projekt Putins. Hierdurch würde den Europäern, die sich längst angewöhnt haben, den Osten als ihren Hinterhof zu betrachten, ein ernsthaftes Gegengewicht erwachsen, wie die Wiener Zeitung anmerkte:
Die „Eurasische Union“ wäre der russische Wirtschaftsblock zwischen dem „Westen“ und China. Und mächtiger als die EU, denn Russlands Militär würde wohl eine gemeinsame Sicherheitspolitik anführen. Dieser Arm fehlt der Europäischen Union völlig. Mit einer voll ausgebildeten Eurasischen Union wäre die EU – auf Basis der jetzigen Warenströme – bei etlichen Rohstoff- und Energiesparten von Moskau abhängig. … Auf Basis all dieser Informationen versuchte die EU, die Ukraine mit einem Assoziierungsabkommen auf ihre Seite zu ziehen. Leider sagte Brüssel davon kein Wort.
Ohne das sozioökonomische Potenzial der Ukraine bleibt dieses russische „Prestigeprojekt“ kaum realisierbar, der Kreml würde sich auch künftig nicht „auf Augenhöhe“ mit der EU befinden. Neben diesem zentralen strategischen Motiv spielen auch militärische und wirtschaftliche Überlegungen bei der Intervention des Westens eine Rolle. Die Ukraine verfügt über ausgezeichnete landwirtschaftliche Nutzflächen, zudem könnte der Osten des Landes aufgrund des niedrigen Lohnniveaus zu einer „verlängerten Werkbank“ westlicher Konzerne umgebaut werden. Ein Beitritt der Ukraine zur NATO, der bereits diskutiert wird, käme einer schweren militärischen Niederlage Russlands gleich, das nun einen „Pufferstaat“ zum westlichen Militärbündnis verlieren würde. Die mittelfristige Verdrängung Russlands aus der Flottenbasis in Sewastopol würde schließlich den Aktionsradius russischer Streitkräfte massiv beschneiden.
Für Russland stellt die Auseinandersetzung um die Ukraine somit eine letzte Chance dar, auch zukünftig den Status einer Großmacht innezuhaben. Ohne die Ukraine sei Russland „kein eurasisches Reich mehr“, bemerkte etwa der US-Geopolitiker Zbigniew Brzezinski in seinem geopolitischen Klassiker „The Grand Chessboard“. Der „Verlust“ der Ukraine käme für den Kreml somit einem geopolitischen Super-GAU gleich, der die machtpolitischen Ambitionen Putins zunichte machen würde.
Der geopolitische Spagat der Ukraine
Mittelfristig würde sich bei einer Westintegration der Ukraine die wirtschaftliche und militärische Stellung der Russischen Föderation gegenüber dem Westen massiv verschlechtern, der gesamten Region drohte so die Zurichtung zur Peripherie des Westens, wie sie in Mittelosteuropa stattfand. Deswegen war eine scharfe Reaktion Moskaus auf den Umsturz in Kiew, bei dem die anscheinend als „Vermittler“ agierenden europäischen Außenminister plötzlich für die vertragsbrüchige Opposition Partei ergriffen, eigentlich vorhersehbar (Geopolitisches Déjà-vu). Russland wird alle machtpolitischen Möglichkeiten ausschöpfen, um die Westintegration der Ukraine zu verhindern. Sollten diese Bemühungen nicht fruchten, wird Moskau bestrebt sein, neben der Krim möglichst weite Regionen der Süd- und Ostukraine aus dem ukrainischen Staatsverband herauszulösen.
Am Ende dieses geopolitischen Ringens um die in einer schweren Wirtschaftskrise versinkende Ukraine könnte der Westen sich mit einem westukrainischen „Rumpfstaat“ zufriedengeben müssen, in dem gerade die rückständigsten Regionen dieses auch sozioökonomisch gespaltenen osteuropäischen Landes zu finden wären. Dabei war es gerade die seit Jahren schwelende Wirtschaftskrise, die das Land zu einem Objekt geopolitischer Machtkämpfe machte. Der Status quo der Ukraine als ein unabhängiger „Pufferstaat“ zwischen Russland und dem Westen war nicht mehr aufrechtzuerhalten, da diese durch hohe Handels- und Leistungsbilanzdefizite gekennzeichnete Volkswirtschaft nicht mehr ohne ausländische Finanzierung überlebensfähig war (Ukraine am Abgrund). Folglich musste sich Kiew irgendwann für eine West- oder Ostintegration – für Brüssel oder Moskau – entscheiden. Die um ihre Unabhängigkeit kämpfende ostukrainische Oligarchie, deren politischer Vertreter Janukowitsch war, bemühte sich jahrelang durchaus erfolgreich, diese Entscheidung durch einen geopolitischen Spagat, bei dem Kiew zwischen Moskau und Brüssel pendelte, bis zur Zuspitzung der Wirtschaftskrise 2013 hinauszuschieben.
Die Krise des kapitalistischen Weltsystems spiegelt sich aber nicht nur in der ukrainischen Tragödie. Auch die weltweit zunehmenden geopolitischen Spannungen (etwa in Südostasien), die Kerry zu der anfangs erwähnten Analogie zum Imperialismus des 19. Jahrhundert verleiteten, sind auf die sich entfaltende Krisendynamik zurückzuführen. Die Staatsapparate reagieren auf die krisenbedingt zunehmenden Spannungen im Innern in der sattsam bekannten Art und Weise: mit forcierten Expansionsbemühungen nach außen. Hierbei gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen Russland und dem Westen.
Nichts wäre für die Gegenöffentlichkeit somit verkehrter, als die an Hollywood-Filme erinnernde Gut-Böse-Einteilung, die die öffentliche Berichterstattung über den Ukrainekonflikt maßgeblich prägt, einfach mit verkehrten Rollen (guter Putin, böser Westen) zu reproduzieren. Die in dem Mainstream der Medien betriebene Dämonisierung Russlands blamiert sich genauso an der Realität wie die Glorifizierung des autoritären und homophoben Putins zu einem Antifaschisten oder „Antiimperialisten“.
Staaten agieren als Subjekte auf der Weltbühne, die die Interessen derjenigen Bevölkerungsgruppen durchzusetzen trachten, die dies sich leisten können – sie fungierten aber noch nie als Subjekte menschlicher Emanzipation.