Sehnsucht nach dem „Starken Mann“

Tomasz Konicz

Was machen Deutschlands Meinungsmacher, wenn sie merken, dass ihre Möglichkeiten, Meinungen in der Bevölkerung zu produzieren, immer weiter erodieren? Sie schieben selbstverständlich Wladimir Putin die Schuld dafür in die Schuhe.

Angesichts des klaffenden Abgrunds zwischen Leitartikel und Kommentarspalten bei der Haltung zur Krise in der Ukraine sah die Süddeutsche Zeitung sich veranlasst, gegen eine Armee von „Putin-Trollen“ zu Felde zu ziehen: Hunderte von bezahlten „Manipulatoren“ versuchten, „weltweit die Meinung in sozialen Netzwerken und in Kommentar-Bereichen wie auch bei Süddeutsche.de im Sinne des Kreml zu beeinflussen“, klagte die SZ im Juni.

Wohl kaum lag die Süddeutsche mit einer Einschätzung weiter daneben als in diesem Fall. Denn selbstverständlich ist die lautstarke Opposition zur aggressiven und brandgefährlichen Expansionspolitik des Westens in der Ukraine ganz und gar „hausgemacht“. Es sind gerade die von der SZ verteufelten „sozialen Netzwerke“, die das Meinungsmonopol der Mainstream-Medien unterhöhlen. Schon früh wurde für alle, die es wissen wollten, offensichtlich, dass die prowestliche ukrainische Opposition von Neonazis unterwandert ist. Wenige Mausklicks jenseits von SZ und SPON konnte jeder Interessierte erfahren, wie brutal und rücksichtslos die mit Rechtsextremisten aufgestellten Kampfverbände der ukrainischen „Regierung“ in der Ostukraine vorgehen. Immer mehr Internetnutzer sind in der Lage, selbstständig in den sozialen Netzwerken Informationen zu beschaffen – und genau dieser Umstand lässt die Deutungshoheit unserer Meinungsmacher in den Massenmedien erodieren.

Dieser Abgrund zwischen den tatsächlichen Vorgängen in der Ukraine und der primitiven antirussischen Propaganda in deutschen Massenmedien hat gerade zur breiten Opposition gegenüber der westlichen Interventionspolitik in der Ukraine, sowie zur Empörung über diese platte Propagandakampagne in weiten Bevölkerungsschichten beigetragen. Deutschlands Meinungsmacher haben sich bei ihrer Berichterstattung weitgehend selbst diskreditiert – der Vertrauensverlust gegenüber den Massenmedien ist kein Werk von „Putin-Trollen“, er ist in den Redaktionsstuben „hausgemacht“ worden.

Bei der hiesigen Opposition gegen die westliche Interventionspolitik in der Ukraine schwingt aber noch ein anderes, ein erzreaktionäres Moment mit. Längst hat sich eine regelrechte Fangemeinde gebildet, die über alle politischen Grenzen hinweg in unverbrüchlicher Treue zum russischen Staatschef steht. Dieser wachsenden Schar von Putinfans – die in den Massenmedien irrigerweise als „Putinversteher“ bezeichnet werden – haben die Autoren Mathias Bröckers und Paul Schreyer mit dem Buch „Wir sind die Guten“ nun ihre Bibel geschenkt.

The Show must go on

In dankenswert hochkonzentrierter Form bringen die Autoren in ihrem Telepolis-Beitrag genau das auf den Punkt, was die deutsche Fangemeinde des russischen Präsidenten umtreibt. Schon in den ersten beiden Absätzen machen sie klar, dass es ihnen gerade nicht darum geht, das Phänomen Wladimir Putin zu „verstehen“:

Wladimir Putin ist Macho und Macher, Zar und Star, coole Sau und weiser Patriarch – der Alleskönner in der Champions League der Weltpolitik. Er angelt die dicksten Fische, reitet zu Pferd durch die Taiga, fliegt mit Kranichen im Ultraleichtflieger und steuert Düsenjets. Er betäubt den sibirischen Tiger mit einem gezielten Schuss, spielt Klavier, singt Fats Domino und kann Goethe rezitieren. Er ist sportgestählt und trägt den schwarzen Gürtel im Judo, ist Doktor der Rechtswissenschaft, Ex-Major des Geheimdiensts und Präsident des größten Flächenlands der Erde. Ohne Frage: ein Held. Kaum ein Tag vergeht ohne Fototermine, deren Bilder diesen Mythos bis in den hintersten Winkel des russischen Riesenreichs transportieren. Solche Inszenierungen gehören überall in der Welt zum Alltag politischer PR, doch kaum einer aus der Riege internationaler Spitzenpolitiker kann es in Sachen Multitasking und Allroundtalent mit der Show dieses Supermanns aufnehmen – Putin ist Kult.

Was hier offensichtlich durchschimmert, ist die – notdürftig durch eine halbherzige und zutiefst opportunistische Ironie kaschierte – Sehnsucht nach dem starken Mann, nach dem genialen „Macher“, der durch hartes Zupacken endlich Ordnung schafft im gegenwärtig um sich greifenden Chaos. Implizit machen die Autoren auch schon hier klar, dass es sich beim System Putin um keine „Alternative“ zum westlichen Politikbetrieb handelt. Was sie an Putin bewundern, ist die Vollkommenheit seiner politischen Inszenierung, die besser sei, als die Show, die seine westlichen Konkurrenten aufziehen.

Dass der Politikbetrieb im Zeitalter der Postdemokratie weltweit zu einer bloßen Inszenierung verkommt, wird von den Autoren einfach hingenommen, ohne es auch nur zu hinterfragen. Was sich Putinfans wie Bröckers und Schreyer somit von der Politik wünschen und erhoffen, ist eine ordentliche, von harten Kerlen aufgeführte Politshow. Kurz: Den Autoren gelüstet es nach einer stärkeren Ästhetisierung des Politischen. Das System Putin stellt somit keine Alternative zum postdemokratischen Politikbetrieb des Westens dar, sondern dessen konsequente Weiterentwicklung.

Autoritärer russischer Staatskapitalismus

Die historische Leistung, die der „Macher“ Putin tatsächlich vollbracht hat, besteht in der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung der Russischen Föderation, die in den Jahren der Jelzin-Ära sich in einem andauernden Zerfallsprozess befand. Und es ist zweifelslos genau diese historische Leistung des Kremlchefs, mit der eine Zurichtung Russlands zu einer ökonomischen Kolonie des Westens verhindert wurde, die Putin den Hass der westlichen „Wertegemeinschaft“ einbrachte.

Dabei ist dieser „Raubtierkapitalismus“ aber nicht von außen über Russland hergefallen – er war ein russisches Produkt, das gerade aus dem Zusammenbruch der an inneren Widersprüchen zugrunde gehenden Sowjetunion hervorging. Die russischen Oligarchen, die sich Räuberbaronen gleich über die Überreste der postsowjetischen Wirtschaft stürzten, rekrutierten sich zum überwiegenden Teil aus der sogenannten Nomenklatura, aus den kommunistischen Funktionseliten der Sowjetunion. Ein Ausverkauf der heimischen Wirtschaft an westliche Konzerne, wie er etwa in den ehemaligen Ostblockstaaten Mittelosteuropas vonstatten ging (Deutsch-Mittelost), fand weder in Russland noch in der Ukraine statt.

Die Stabilisierung der russischen Wirtschaft unter Putin wurde tatsächlich durch die Zurückdrängung der Macht der Oligarchie und durch weitgehende staatliche Monopolisierung des Energiesektors erreicht. Die Einnahmen aus dem Export von Energieträgern bilden das Rückgrat der russischen Wirtschaft, die ansonsten – mit Ausnahme der Waffenindustrie – über keinerlei international wettbewerbsfähige Industriezweige verfügt. Der geopolitische Aufstieg des putinschen Russlands fußt ausschließlich auf dem Ressourcenreichtum des größten Flächenstaates der Welt, während die heimische Industrie sich von dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie erholt hat. Damit ist aber Russland im hohen Maße von der wirtschaftlichen Entwicklung in den westlichen Zentren des kapitalistischen Weltsystems abhängig, wie der schwere Wirtschaftseinbruch während der Weltwirtschaftskrise 2008 belegte. Das putinsche Russland ist somit nicht nur auf politischer Ebene ein semiperipherer Teil des kapitalistischen Weltsystems, sondern auch auf wirtschaftlicher.

Zudem blieb Russland auch unter Putin eines der korruptesten Länder der Welt. Der Sieg Putins über die räuberische Transformationsoligarchie wurde mit dem Aufkommen einer aus den Machtministerien und dem Sicherheitsapparat hervorgegangenen Staatsoligarchie erkauft, deren Reichtum und Macht gerade aus der Kontrolle von Staatsbetrieben erwachsen. Geschäftlicher Erfolg auch in der Privatwirtschaft hängt in Russland somit, wie einstmals zur Zarenzeit, von guten Kontakten zum Kreml oder zur Staatsbürokratie und einer sicheren Stellung innerhalb dieser Seilschaften ab. Der Staat ist hier nicht nur das politische, sondern auch das wirtschaftliche Machtzentrum. Russlands Gewerbetreibende müssen nun keine Schutzgelder an „mafiöse Banden“ (Bröckers/Schreyer) mehr zahlen, sondern an korrupte Staatsfunktionäre. Wer will, kann hierin einen gewissen Fortschritt sehen, da es nun eine breite Schicht von staatlichen Funktionsträgern in Russland gibt, die aus eigenem finanziellen Antrieb ein Interesse am Fortbestand und an der Stärkung des russischen Staates haben.

„Menschenrechtsimperialismus“

Und dennoch: Selbstverständlich ist die permanente und selektive Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in Russland nur vor dem Hintergrund des geopolitischen Machtkampfes zwischen dem unter Putin erstarkten Russland und dem Westen zu verstehen. Die Autoren haben Recht, wenn sie anmerken, dass diese westliche „Kritik zur Waffe eines Werteimperialismus“ geworden ist, der unter dem Mantel humanitärer Interventionen knallharte Geopolitik betreibt. Doch dabei schütten sie gewissermaßen das Kind mit dem Bade aus, wenn sie die Menschenrechtsverletzungen in Russland als Verstöße gegen den westlichen „Wertekanon“ bezeichnen.

Die Kritik der Autoren an diesem westlichen „Menschenrechtsimperialismus“ verwirft somit zugleich die paar universalen Menschenrechte, die der Spätkapitalismus uns zumindest offiziell noch zugesteht. Sie werden nicht als eine – wenn auch unvollkommene – zivilisatorische Errungenschaft angesehen, sondern als kulturell fundierte „Werte“, die andere Kulturkreise halt eben nicht teilen. Folter, Genitalverstümmelung, Versammlungs- oder Meinungsfreiheit verkommen so zu einer Frage des kulturellen Backgrounds. Mit dieser Deklarierung von Menschenrechen zu bloßen kulturellen Werten befinden sich die pseudo-rebellischen Autoren wiederum ganz auf der Höhe einer Zeit, in der die Erosion demokratischer Freiheiten rasant voranschreitet. Bröckers und Schreyer geben hier witzigerweise genau die russische Sicht der Dinge wieder, die den westlichen „Menschenrechtsimperialismus“ mit dem Verweis auf unterschiedliche kulturelle Wertvorstellung kontert.

Kalter Krieg oder Neoimperialismus?

Wir wissen nun: Der deutsche Putinfan wünscht sich von der Politik vor allem gute Showeinlagen und hält Menschenrechte für eine kulturelle Marotte des „Westens“. Zudem scheint es der Fangemeinde des russischen Präsidenten, als ob der „Kalte Krieg“ nie so richtig zu Ende gegangen sei. Der „verfrüht beendet“ geglaubte Kalte Krieg erlebe in der Ukraine eine „Neuauflage“, die wiederum mit Stellvertretern ausgefochten werde, schreiben die Autoren in ihrer Einleitung. Ein „Kalter Krieg“ setzt ja bekanntermaßen die Existenz zweier unterschiedlicher Gesellschaftssysteme voraus, wie das System des sowjetischen Staatssozialismus und das des westlichen Kapitalismus. Da Russland sowohl auf politischer wie wirtschaftlicher Ebene eindeutig Teil des kapitalistischen Weltsystems und mit diesem eng verflochten ist – welchen Sinn würden sonst die aktuellen Wirtschaftssanktionen machen? -, würde diese Aussage nur dann einen Sinn machen, wenn man die Ideologie Moskaus und des Westens für bare Münze nehmen würde – Menschenrechtsimperialismus gegen den russischen Traditionalismus.

Da die Autoren ja selber schreiben, die aktuellen geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und dem Westen würden sich in den seit „Jahrhunderten währenden Kampf der großen Nationen um die Rohstoffe und Ressourcen dieser Erde“ einreihen, kann es sich hier nicht um eine Neuauflage des Kalten Kriegs handeln. Sinnvoller ist es, hier Parallelen zum klassischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts zu ziehen, zum globalen Machtkampf der imperialen Großmächte, der in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges kulminierte. Alle kapitalistischen Großmächte – auch Russland! – streben nach einer Erweiterung ihrer Machtfülle durch Expansion. Der wichtigste Unterschied zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem derzeitigen Neoimperialismus besteht in der globalen Krisendynamik, die gerade diese neoimperiale Expansion antreibt. Die zunehmenden inneren Widersprüche in den kapitalistischen Machtblöcken (Eurokrise, Folgen der geplatzten US-Immobilienblase) sollen durch diese Expansion kompensiert werden. Der Westen handelte in der Ukraine nur rücksichtsloser als Moskau, indem er nicht davor zurückscheute, auch Neonazis zur durch Durchsetzung seiner Ziele zu instrumentalisieren.

Damit erübrigt sich die Einteilung der Akteure dieses neoimperialen „Great Game“ in Gut und Böse, wie sie von den westlichen Massenmedien wie auch von den Autoren – trotz gegenteiliger Beteuerungen – in vertauschten Rollen vorgenommen wird. Eine schlichte Umkehrung der westlichen Propaganda, die aus Putin einen verschlagenen Bösewicht macht, kommt der Realität dieser neoimperialen geopolitischen Auseinandersetzung nicht näher. Deswegen muss die Opposition gegen die aggressive und brandgefährliche Politik des Westens in der Ukraine ohne eine Idealisierung des stockkonservativen und autoritären russischen Regimes auskommen.

Verschwörungsglaube und Antiamerikanismus

Bei der Suche nach den Ursachen der Eskalation in der Ukraine ist vor allem Mathias Bröckers voll in seinem Element: In der Ukraine „lief alles lange einigermaßen gut, bis sich die USA mit der CIA und unzähligen NGOs massiv einmischten, um eine ‚orangene‘ Revolution vom Zaun zu brechen“. Eine verdeckte Intervention der USA – das sind die Bösen – habe also die Ukraine vor die Hunde gehen lassen. Nur ein paar Zeilen später müssen die Autoren eingestehen, dass „auch unzufriedene, weil verarmte und perspektivlose Bürger auf dem Maidan“ protestierten. Wie soll in der Ukraine „alles lange einigermaßen gut“ gelaufen sein, wenn es dort viele „verarmte und perspektivlose Bürger“ gibt, die sich an den Protesten gegen Janukowitsch beteiligten?

Tatsächlich war die Ukraine schon nach dem Krisenausbruch 2008 wirtschaftlich stark angeschlagen. Das Land befand sich Anfang dieses Jahres aufgrund zunehmender Leistungsbilanzdefizite am Rande einer Staatspleite, was Janukowitsch dazu nötigte, sich zwischen einer Einbindung in die russische oder die europäische Einflusssphäre zu entscheiden (Ukraine am Abgrund). Und selbstverständlich spiegelt sich in der nun anbahnenden ukrainischen Tragödie die objektive Systemkrise des kapitalistischen Weltsystems, das aufgrund permanent voranschreitender Produktivitätssprünge an eine innere Schranke seiner Reproduktionsfähigkeit stößt und eine ökonomisch „überflüssige Menschheit“ auf globaler Ebene produziert. Die Ukraine stellte somit schon vor dem westlich gesponserten Regierungsumsturz einen sozioökonomischen Leichnam dar, um den die neoimperialen Geier aus Ost und West kreisten. Die westliche „Verschwörung“ zum Sturz Janukowitschs konnte nur deswegen erfolgreich sein, weil die Ukraine in eine Phase krisenbedingter Instabilität eintrat.

Für die Putinfans wie auch die russische Propaganda stellen somit US-amerikanische Verschwörungen die Triebkraft der überall um sich greifenden Kriege und Krisen, und nicht die eskalierenden inneren Widersprüche des Spätkapitalismus. Dieser Verschwörungsglaube mündet folgerichtig in einen Antiamerikanismus, der in den USA den Urquell aller derzeitigen Krisen und Verwerfungen sieht.

Neudeutscher Alternativimperialismus

Unstrittig ist, dass die Vereinigten Staaten seit der Erlangung ihrer Stellung als Welthegemon in zahllosen Kriegen und Interventionen die breiteste Blutspur in der Weltgeschichte nach 1945 hinterlassen haben. Doch ist diese Stellung der USA als globale Hegemonialmacht, die der „unsichtbaren Hand“ des Weltmarktes immer wieder mit der eisernen Faust ihrer Militärmaschinerie zum Durchbruch hilft, nicht neu. Seit der Ausbildung des kapitalistischen Weltsystems haben immer wieder Großmächte die Stellung einer Hegemonialmacht erobert; dies ist ein konstitutionelles Merkmal des Kapitalismus. Vor den USA hatte beispielsweise Großbritannien diese Stellung inne, und die britische Kolonialpolitik gegenüber Indien war nicht weniger massenmörderisch als etwa der Krieg der USA in Vietnam.

Beim Antiamerikanismus wird somit die Tatsache ignoriert, dass das kapitalistische Weltsystem durch die Herausbildung einer global dominierenden Hegemonialmacht gekennzeichnet ist. Ein Ende dieser massenmörderischen Politik der Hegemonialmächte wäre nur durch eine Überwindung des ihr zugrunde liegenden Kapitalverhältnisses möglich. Wenn nun Russlands Staatsmedien und Deutschlands Putinfans unisono konkret die USA für die derzeitigen Krisen und Verwerfungen verantwortlich machen, ohne die diesen Verwerfungen zugrunde liegende Krisendynamik auch nur zu beachten, dann fordern sie objektiv betrachtet nur die Ablösung der ohnehin im imperialen Niedergang befindlichen USA. Das an seine Entwicklungsgrenzen stoßende Kapitalverhältnis, das die systemische Grundlage der imperialen Hegemonialbestrebungen von Großmächten darstellt, wird ja weder von Russia Today noch von Bröckers thematisiert oder gar infrage gestellt.

Somit wandeln sich Antiamerikanismus mitsamt Verschwörungsglauben in einen Alternativimperialismus. Neid auf die Machtfülle der USA treibt diese Ideologie an. Nicht das Ende des massenmörderischen neoimperialen Systems wird angestrebt, sondern ein Wachwechsel an dessen hegemonialer Spitze. Andere Großmächte sollen an die Stelle der USA treten (oftmals wird dies etwa von Putin unter dem Stichwort „multipolare Weltordnung“ propagiert).

Dass mit solch einem „Wachwechsel“ nichts gewonnen wäre, wird beispielsweise ein jeder Bürger Griechenlands bejahen, der unter dem deutschen Spardiktat zu leiden hatte, mit dem das Mittelmeerland in den ökonomischen Zusammenbruch getrieben wurde. Mit welcher imperialen Konstellation wird sich der deutsche Alternativimperialist in der machtpolitisch aufsteigenden Bundesrepublik zufriedengeben? Wenn Russland und Deutschland die eurasische Landmasse unter sich in Einflusssphären aufteilen?

Putins ideologischer Bauchladen

Beeindruckend an Putins deutscher Fangemeinde ist aber vor allem der Umstand, dass sie ein sehr breites politisches Spektrum abdeckt. Die Bandbreite reicht hier vom linken orthodox-antiimperialistischen Spektrum über wirre Verschwörungstheoretiker und Querfrontler wie Jürgen Elsässer bis zu den Neonazis der NPD. Wie ist es nun möglich, dass solch unterschiedliche, ideologische verfeindete Kräfte ihre Zuneigung zum Kremlherrscher entdeckt haben?

Als Putin an die Macht kam und die Trümmerlandschaft Jelzins beerbte, in die sich die junge Russische Föderation Ende der 90er Jahre verwandelte, sah er sich auch mit einer ungeheuren ideologischen Aufgabe konfrontiert. Die aus der Konkursmasse der Sowjetunion hervorgegangene Russische Föderation hatte noch keine nationale Identität herausgebildet. Das neu entstandene Russland stellte nach 70 Jahren Sowjetunion gewissermaßen ein traditionsloses Gebilde dar. Der Kreml ging somit daran, eine russische Identität und eine entsprechende Tradition neu zu erfinden. In gewisser Weise stellte dies Unterfangen eine nachholende Entwicklung ähnlicher Prozesse in Westeuropa dar, die von Eric Hobsbawn unter dem Begriff „Invention of Tradition“ zusammengefasst wurde – in Russland liefen diese Prozesse der „Traditionsbildung“ nur rascher und unter bewusster Förderung des Staates ab.

Dabei war man in Moskau nicht allzu wählerisch. Als Symbole, die die Größe Russlands versinnbildlichen sollen, wurden russische Zaren wie Ivan Grozny und Peter der Große ebenso herangezogen wie Wladimir Lenin und Josef Stalin. Die wichtigste zivilisatorische Leistung der Sowjetunion, der Sieg gegen Nazideutschland, stellt ebenso einen zentralen Eckpfeiler der neuen russischen Identität dar wie die Rückbesinnung auf den russisch-orthodoxen Glauben und die Propagierung erzkonservativer Werte. Die starke Betonung russischer Traditionen als Gegenpol zum „westlichen Liberalismus“ resultiert gerade daraus, dass die Russische Föderation ein traditionsloses Gebilde ist.

Somit finden alle möglichen politischen Kräfte in der Bundesrepublik in Russland ihre Projektionsfläche. Der orthodoxe deutsche Kommunist freut sich, wenn sowjetische Fahnen am 8. Mai in Moskau wehen, während der Nazi sich für einen Ideologen wie Alexander Dugin erwärmen kann, der einen erzreaktionären Kulturalismus predigt und gemeinsam mit Mathias Bröckers die Menschenrechte für „westliche Wertvorstellungen“ hält. Die Vermischung alter sowjetischer Ästhetik mit stockkonservativer Politik in Russland macht diese breite, spektrumsübergreifende Identifikation mit Putin hierzulande erst möglich. Deswegen bildete die Ukraine-Krise auch die Initialzündung, mit der Tendenzen zur Bildung einer Querfront zwischen „linken“ und rechten Kräften in Deutschland im Rahmen der sogenannten Montagsdemos aufkamen (Gemeinsam gegen Rothschild?).

Russlands Vergangenheit ist Europas Zukunft

Den wichtigsten Faktor, der zur Popularität Putins in Deutschland beiträgt, stellt aber nicht die russische Ideologieproduktion oder Geschichtspolitik dar, sondern die absehbare krisenhafte Zukunft der Europäischen Union. Die nach jahrelangem Berliner Spardiktat am Rande der Deflation taumelnde Eurozone könnte in einer ähnlichen tief greifenden Krise versinken wie die Russische Föderation der 90er Jahre. Russlands Vergangenheit könnte sich somit als Europas Zukunft erweisen. Es reicht, Bröckers und Schreyers affirmative Darstellung der autoritären Maßnahmen zu lesen, mit denen Putin die Russische Föderation stabilisierte, um die Aktualität einer solchen Krisenpolitik zu begreifen:

Dass Putin zu diesem Zweck rabiate Mittel einsetzte – den demokratischen Pluralismus einschränkte, das Parlament entmündigte, die Oligarchen unter Kontrolle brachte, die Schlüsselindustrien wieder in Staatseigentum überführte und einen zentralistisches Präsidialsystem schuf -, wurde und wird von westlicher Seite gern als das Ende des postkommunistischen Aufbruchs in die „Freiheit“ gesehen. Für die große Mehrheit der russischen Bevölkerung indessen war es das Ende des unter Gorbatschow und Jelzin entstandenen Chaos, das eine „Freiheit“ gebracht hatte, die vor allem durch sozialen Niedergang gekennzeichnet war.

Freiheit im Kapitalismus ist nur die Freiheit zur Kapitalakkumulation und zur Ausschaltung des Konkurrenten. Da der Kapitalismus offensichtlich keine Freiheit bringt, entsorgen die Autoren den Begriff der Freiheit, die durch „sozialen Niedergang“ gekennzeichnet gewesen sein soll. Offensichtlich wird hier um Verständnis für eine autoritäre Krisenpolitik geworben. Diese Logik, die ein Übermaß von Freiheit – und nicht etwa die Widersprüche der kriselnden Wertvergesellschaftung – für Krisenverwerfungen verantwortlich macht, bildet die Grundlage jeder autoritären Krisenpolitik. Wie wird der deutsche Putinfan reagieren, wenn in der EU eine eskalierende Systemkrise es erforderlich machen würde, dass „starke Männer“ dazu übergehen, den demokratischen Pluralismus einzuschränken oder das Parlament zu entmündigen, um dann ein zentralistisches Präsidialsystem zu oktroyieren? Sie werden wohl auf eine gute One-Man-Show hoffen.

erschienen in: Telepolis 23.8.2014