Nervöse Endzeitstimmung
von Uwe von Bescherer
Mir wird zunehmend unwohl in meiner Haut. Das Zeitgeschehen bedrängt und bedrückt mich bis in die Poren meines Alltags. Auch fühle ich mich allein. Meine Mitstreiter aus früheren Zeiten können und wollen mit der Welt der Wertkritik wenig anfangen oder sind gleich ganz vom Sog ihrer Sorgen verschluckt. Um mich als gesellschaftskritischer Mensch überhaupt noch anderen Menschen ähnlichen Gedankenguts zugehörig zu fühlen, bin ich Anfang 2014 nach vielen Jahren treuen Lesens eurer „Streifzüge“ Trafoclubmitglied geworden. Mit diesem Brief nehme ich die Aufforderung von Lorenz Glatz an, mich mit Kritik und Anregungen in eure Transformationslust einzubringen.
Die letzte Ausgabe der Streifzüge trug den dunklen Titel „Apokalypse“. Ich könnte mir vorstellen, dass bei der Wahl dieses Begriffs auch eine Resonanz zur Aura der Nürnberger Gruppe „Krisis“ mitschwingt. Robert Kurz und seine Gruppe kamen im Zuge der Entfaltung der Wertkritik zu dem Resümee, dass der Kapitalismus durch die konsequente und flächendeckende Anwendung der „Produktivkraft Wissenschaft“ im Allgemeinen, insbesondere durch die „mikroelektronische Revolution“, die lebendige Arbeit als Quelle allen Werts eliminiert, und wir heutzutage zu Zeitzeugen des endgültigen Ausbrennens der Wertlogik werden. Wen will es verwundern, dass sich angesichts eines solchen Resultats – in Verschränkung mit dem Zweifel, ob das von der Krisis bisher Geleistete nicht womöglich ohne gesellschaftlichen Einfluss auf die Bewältigung der aus dem Kollaps resultierenden Krisendynamiken bleibt – in ihren Analysen und Abhandlungen des Öfteren eine „nervöse Endzeitstimmung“ zeigt?
Schon in den 90er Jahren äußerte Robert Kurz anlässlich seiner Reflexionen über die Fetisch-Konstitution des modernen Subjekts Zweifel, ob denn die Aufhebung der Selbst-Unbewusstheit wohl gelingen mag. Im Schatten einer „wahnsinnig und selbstzerstörerisch gewordenen totalen Warengesellschaft“ wächst für ihn nämlich vor allem die Kraft der Vernichtung: „Vielleicht ist diese Vernichtung nicht unbedingt eine absolute, physische, wie sie noch in den Atomtod-Apokalypsen beschworen wurde. Auch diese Version ist zwar weiterhin nicht völlig auszuschließen. Aber perverser noch und grauenhafter wäre das Hinübergleiten des warenproduzierenden Systems in die sekundäre Barbarei, wie es heute bereits in vielen Erscheinungen zu beobachten ist.“ Auch Claus-Peter Ortlieb wagt eine Prognose über den Niedergang der zivilisierten Welt: „Die … Wahl zwischen Pest (dem allmählichen Verschwinden der Arbeit und den damit im Kapitalismus verbundenen sozialen Folgen) und Cholera (dem ökologischen Kollaps) ist noch nicht einmal eine Alternative, sondern vermutlich blüht uns beides zugleich – eine fallende Mehrwertproduktion bei gleichzeitig wachsendem Ressourcenverbrauch -, überlagert von der Aussicht auf Kriege um die immer knapper werdenden, in der Kapitalverwertung verschleuderten stofflichen Ressourcen und um die Chancen, auch noch ihre letzten verbliebenen Reste verwerten zu dürfen“ und meint anschließend recht trocken: „von einem Ende – so oder so – des Kapitalismus als Gesellschaftsformation sollte schon gesprochen werden“. Anselm Jappe kommt in seinem Buch „Die Abenteuer der Ware“ zu dem deprimierenden Schluss: „… eine überflüssige Menschheit scheint das Endstadium des Kapitalismus und seines ständigen Zwangs zur Mehrwertschöpfung darzustellen“, und Peter Klein beschreibt auf die ihm eigene, eindringliche Weise, was die Selbst-Unbewusstheit des modernen Menschen alles hervorbringt, wenn sich das Gefühl des Überflüssigseins ausbreitet: „Mit einem Mal spürt das abstrakte Individuum doch etwas: nämlich, dass die ganze Veranstaltung schon bisher vergebens war, dass das Mühen, Hasten und Rennen im Dienste der „objektiv“ gebotenen Chancen und Gelegenheiten von vornherein nicht aufs Glücklichsein angelegt war. … Entsprechend abrupt ist der Übergang vom „Gut-Drauf-Sein“ zum Ausrasten. Für dasjenige, was Enzensberger ein „psychotisches Um-Sich-Schlagen“ nennt, ist jetzt jeder Anlass geeignet.“
Die Endzeitstimmung der „Krisis“-Gruppe wird getragen von dem Wissen, dass der Kapitalismus keine immanenten Möglichkeiten besitzt, die von ihm entfesselten Problematiken der vielfältigsten Art positiv aufzulösen. Im Laufe seines historischen Verfalls werden die Krisen stattdessen zu Lasten der Menschheit fortschreitend negativ verstärkt. Diese Feststellung macht die Transvolution (schönes neues Wort!) hin zu einer bewussten Form gesellschaftlicher Kommunikation und Vermittlung unabweisbar und prioritär. Als konkret praktisches Geschehen muss der Akt der Transvolution wohl von sehr vielen Menschen gleichzeitig gewollt, durchdacht und vollzogen werden. Aber schon das Sprechen über Revolution (mit dem Wort Transvolution können wohl noch zu Wenige etwas anfangen) scheint im Moment in keiner Ecke gesellschaftskritischer Kommunikation „en vogue“. Die von den Nürnbergern so hochgelobten „Situationisten“ meinten zu dieser Merkwürdigkeit: „Wenn es etwas Lächerliches daran gibt, von der Revolution zu sprechen, dann natürlich deshalb, wie die organisierte, revolutionäre Bewegung aus den modernen Ländern, in denen die Möglichkeiten zu einer entscheidenden Gesellschaftsveränderung konzentriert sind, seit langem verschwunden ist. Noch viel lächerlicher aber ist alles andere, denn es handelt sich um das Bestehende und um die verschiedenen Formen seiner Duldung.“ Es gibt keine erkennbare gesellschaftliche Kraft, die den Zumutungen und der Macht der kapitalistischen Vergesellschaftung trotzig und umstürzlerisch gesinnt die Stirn bieten würde. Aber warum nicht?
Wenn die Gruppe „Krisis“ diese Frage auch sicher anders formulieren würde, so spiegelt sich dasselbe Fragezeichen doch immer wieder in der Wahl ihrer Schwerpunktthemen. Zentralfigur ihrer Krisentheorie wurde die Verwertung des Werts: die gesellschaftliche Maschine eines subjektlosen Selbstzwecks. Parallel dazu entfalteten sie aber auch das Konstrukt der bewusstlosen Fetischkonstitution bürgerlicher Subjektivität. Das Subjekt der Moderne repräsentiert demnach sozusagen die historisch höchste Form der Form-Bewusstlosigkeit. Vom Bewusstsein ausgeblendet wird der allgemeine gesellschaftliche Handlungsrahmen, der historisch „entstanden“ ist und blind vorausgesetzt wird. Um ihr Leben zu sichern und zu gestalten, müssen die Menschen des kapitalistischen Gesellschaftssystems ihre Waren zu Markte tragen und reduzieren sich dabei zu Charaktermasken ihrer Waren. Dieses Geschehen ist den Menschen nicht bewusst, steht ihnen vielmehr wie eine „Naturgewalt“ gegenüber, der sie sich fügen müssen. Als zentrales Moment gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion umfasst und überzieht die Fetisch-Konstitution alle menschlichen Lebensaspekte. Robert Kurz: „Wir haben es also mit einer Strukturierung bzw. Kanalisierung sowohl von gesellschaftlicher (sozial-ökonomischer) Reproduktion als auch von sozialen und sexuellen Beziehungen, von Ich-Bewusstsein und von Außenwahrnehmung, ebenso wie von psychischen Tiefenschichten und Über-Ich zu tun. Und da dieser Prozess schon mindestens einige hunderttausend Jahre andauert, haben sich auch die verschiedenen historischen Formationen gewissermaßen „geologisch“ abgelagert in verschiedenen Graden der Verwitterung und Überformung. „Über“ dem ursprünglichen biologisch-tierischen Substrat liegen zahlreiche Schichten vergangener Fetisch-Konstitution auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, die jedoch von der jeweils jüngsten und „gültigsten“ Fetisch-Konstitution dominiert und determiniert werden.“ Auch Franz Schandl beschreibst das Wirken des „automatischen Subjekts“ in der kapitalistischen Lebenswelt: „Fetischismen, die auf dem Wert resp. Tauschwert beruhen, bedürfen keines Objekts im eigentlichen Sinne. Sie sind auf etwas fixiert, ohne sich fixieren zu müssen. Die Fixierung wird hier rein synthetisch durch die Handlungen vollzogen (Arbeit, Kauf, Vertrag etc.). Das Heilige hat sich nicht verflüchtigt, weil es sich völlig im Weltlichen aufgelöst hat. In den Metamorphosen des Kapitals ist die Transzendenz nichts Äußeres (z.B. ein Gott), sondern liegt in der Immanenz der Geschäfte und Praxen selbst. Dieser Fetisch erscheint überhaupt nicht oktroyiert, er kommt nicht hinzu, er ist schon da. Er verfügt über keine eigene Sphäre, denn er sitzt in allen gesellschaftlichen Bereichen und Sektoren. Dass wir nicht tauschen und handeln, nicht einkaufen und verkaufen, nicht Geld verdienen und ausgeben, nicht arbeiten und arbeiten lassen, kein Parlament wählen, keine Rechtsverträge abschließen, keine Staaten oder Nationen bilden, das alles scheint völlig abwegig zu sein. Man ist Fetischist, auch wenn man gegen das Geld oder gegen den Tausch ist. Da herrscht eine Begierde, die jeder zu haben hat.“
Strukturalisten und Systemtheoretiker bescheinigen den Tod des Subjekts und Robert Kurz versucht nur halbherzig, sich von ihnen unterscheidbar zu machen und das Ruder herumzureißen: Die Bewusstheit werde zwar in allen Ansätzen als eine bloße Binnenbewusstheit innerhalb einer Fetisch-Konstitution verstanden, die aber in der Marx´schen Fassung nichts Äußerliches darstelle, sondern die Form des eigenen Bewusstseins selber sei und auf gesellschaftlichen Konventionen beruht. Folgerichtig kommt er zu dem Schluss: „Allgemein könnte gesagt werden, dass das, was bisher bewusstlose Form von Gesellschaftlichkeit war, aufgelöst und durch direkte menschliche Kommunikation in vielfältig organisierter und vernetzter Form ersetzt werden muss. An die Stelle der bewusstlos codierenden „Form“ tritt „kommunikatives Handeln“ (Habermas) der Menschen, die ihre eigene Gesellschaftlichkeit und ihre gesellschaftlichen Handlungsketten bewusst reflektieren und dementsprechend organisieren.“ Die Schreibweise „ersetzt werden muss“ beinhaltet nicht im Ansatz die Lösung des Problems, ob und in welcher Weise die bewusstlose Form von Gesellschaftlichkeit denn zu Bewusstsein kommen kann. Franz Schandl hat das Dilemma, in das sich die Nürnberger hineingeritten haben, hervorragend zusammengefasst: „Natürlich stellt sich der Fetischismus nicht durch den Fetisch her, sondern durch die Fetischisierung. Indes, Fetischisierung ist keine Aktion, die wir einfach tun oder lassen könnten, ja sie ist nicht einmal eine Aktivität, sondern Reaktivität eines absurden Daseins. So erscheint sie als eine unmittelbare und stets notwendige Reproduktion des Lebens und nicht als dessen Usurpation. Wie sollen nun aber die Leute mit etwas aufhören, von dem sie gar nicht wissen, dass sie es tun? Sich Aktivitäten abzugewöhnen ist zweifellos leichter als Reflexen nicht mehr zu entsprechen.“
Das erste Ziel der „Krisis“-Arbeiten zum Thema „bewusstlose Fetischkonstitution bürgerlicher Subjektivität“ war die berechtigte Demontage der althergebrachten marxistischen Vorstellungswelt, nach der ein klassenkämpferisches Proletariat als revolutionäres Subjekt der Geschichte die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse vom Tisch fegen würde. Robert Kurz zeigt überzeugend auf, dass „die per se immer schon kapitalimmanente Mobilisierung der „Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit“, die nur einen Gegensatz innerhalb des Kapitals selber bewegen konnte, historisch zum Stillstand gekommen ist“ – (wie er sich halt so ausdrückt). Nach meinem Geschmack hätte das Thema letztlich mit den Ausführungen zum Marx’schen Begriff der „Charaktermaske“ beendet werden können. Stattdessen legt die „Krisis“-Gruppe noch ordentlich auf, zeigt mit dem Finger auf jeden einzelnen Gesellschaftsteilnehmer und walzt ihm die Fetischkonstitution bis unter die Haut. Ich habe mir lange überlegt, was sie damit überhaupt erreichen oder erreichen wollen. Wo wollen sie hin?
Zum einen bauen sie damit ein beeindruckendes Bild von menschlicher Unterjochung auf, auf das ein Betrachter mit der Empfindungsqualität „Empörung“ wirklich nicht intensiv genug reagiert. Gemalt wird Knechtschaft in einer Totalität, die Herbert Marcuse mit seinem Terminus „der eindimensionale Mensch“ schon vorgedacht hat. Zum anderen steht man als Fetischkonstituierter vor der schwierigen Frage: Wer bin ich eigentlich? Gibt es ein authentisches Ich? Ist dieser Gedanke oder jenes Gefühl, das ich erlebe, wirklich von mir? Gibt es überhaupt einen mit mir authentischen Willen? Und wenn nein, gibt es dann einen Grund, irgendetwas zu verantworten oder zu verändern? Und gilt das nicht auch für alle anderen? Drittens – aus eins und zwei resultierend – kann der Fetischkonstituierte gar nichts für seinen Lebenswandel und dem, was er damit anrichtet, da er ja keine Verantwortung für Etwas übernehmen kann, das er nicht weiß und kontrollieren kann. Der Fetischkonstituierte verhält sich zum „automatischen Subjekt“ wie der Gläubige zu Gott – dem Gott einer säkularisierten Religion, in der es auch wieder gottergebene Hirten und Schafe gibt. Jetzt wird erklärbar, warum wertkritische Argumentation an bürgerlichen Subjekten abprallt wie ein Gummiball und warum trotz heftigster Zumutungen von Seiten eines neoliberal entfesselten Kapitalismus keine antikapitalistische Bewegung auszumachen ist. Die Leute sind vom Fetisch paralysiert. Eine Tür, die den Weg öffnet zur praktischen Veränderung dieses unerträglichen Zustandes, wird von der Gruppe „Krisis“ gar nicht erst gesucht. Mit dem revolutionären Rüstzeug, das sie erarbeitet und anbietet, fängt sie selbst nichts an. Die „Situationistische Internationale“ erwies sich beim Thema „Fetischkonstitution“ als wesentlich unkomplizierter und pragmatischer: „Die Kultur ist ein wesentlicher Bestandteil von uns selbst. Das Gleiche können wir von der Kultur behaupten.“
Stell dich Samstagmittag in einen Supermarkt und versuche, mit den Einkaufenden in ein Gespräch über egal welche wertkritische Position der „Krisis“ zu kommen. Wir wählen als Gesprächseröffnung einige Worte von Norbert Trenkle über die „Aufklärung“: „Die in der Aufklärung enthaltenen Momente, die auf gesellschaftliche Befreiung verweisen, sind nur durch die Kritik der Aufklärung und ihrer Kategorien hindurch zu haben. Diese sind nicht zu „verwirklichen“, sondern müssen zusammen mit der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise aufgehoben werden, aufgehoben im dreifachen Hegelschen Sinne. Was meinen sie dazu?“ Antwort: „Dreifachen Was? Ist das sowas wie dreifacher Flickflack mit anschließender Schraube? Hör auf mich vollzulabern mit deinen Pornos, Alter, von wegen Aufklärung und so!“ – für ein wirkliches Begreifen wertkritischer Zusammenhänge bringen die meisten Menschen schon von ihrer intellektuellen Ausbildung her nicht annähernd den nötigen komplexen Wissenshintergrund mit und können auch den abverlangten Abstraktionshöhen nicht folgen. Hier prallen Welten sehr verschiedener Qualität aufeinander. Es kann und darf aber nicht sein, dass nur Intellektuelle mit einem ganz spezifischen Ausbildungsweg beispielsweise das Wesen der eigenen Fetischkonstituiertheit erfassen können und die Chance erhalten, mit ihr umzugehen und sie abzuschütteln. Als veränderungswilliger Gesellschaftsformationskritiker ist man zwecks Aufhebung seiner gesellschaftlichen Isolierung darauf angewiesen zu lernen, aus der begrifflichen Abstraktion ins allgemeine Leben zu gelangen.
Zum einen geht das über die Wahl der richtigen Wörter: „Jede revolutionäre Theorie musste ihre eigenen Worte erfinden, den herrschenden Sinn der anderen Worte zerstören und neue Positionen in der „Welt der Bedeutungen“ schaffen, die der neuen, im Entstehen begriffenen Wirklichkeit entsprechen und die es vom herrschenden Wust zu befreien gilt… Es ist unmöglich, sich von einer Welt zu lösen, ohne sich auch von der Sprache zu lösen, die sie verdeckt und garantiert, ohne ihre Wahrheit aufzudecken. Die Macht ist die permanente Lüge und die „gesellschaftliche Wahrheit“; ebenso ist die Sprache ihre permanente Garantie und das Wörterbuch ihr universeller Bezug“(SI). Mehr noch als das Wort vermitteln Empfindungen und Gefühle Identität. Sie liegen tiefer und sind kräftiger, bestimmender. Wenn ich mir meine Lebenserfahrung anschaue, komme ich zu dem Schluss, dass das reine Denkvermögen zwar zu Einsichten verhilft, die Energie etwas zu tun oder zu verändern sich aber zu viel größeren Anteilen aus einer mit der Einsicht verbundenen Emotion speist. Alle jemals historisch relevant gewordenen gesellschaftlichen Kräfte hatten große Emotionen im Gepäck.
Warum die Welt der Gefühle vom wertkritischen Ansatz so stiefmütterlich angegangen wird, ist mir nicht verständlich. Zum Thema wird sie z.B. bei der Betrachtung der „Aufklärungsvernunft“. Die Aufklärung erbaut danach das Konstrukt einer Vernunft, die das Denken auf pure, körperlose und sinnenfreie Aktivität reduzieren will. Diese Reduktion resultiere aus der Zurichtung der gesellschaftlichen Vermittlung auf das abstrakte Prinzip von Wert und abstrakte Arbeit. Abgespalten werde in diesem Akt die „äußere Natur“, die mittels Technik nutzbar gemacht und zugerichtet wird aber auch die „innere Natur“: „Bedeutsamer noch für die Konstitution des modernen (strukturell als „männlich“ bestimmten) Subjekts ist der gewaltsame Kampf gegen die „innere Natur“, also gegen das vorgebliche Ausgeliefertsein an die eigene Sinnlichkeit. Diese wird abgespalten und auf das konstruierte „Andere“ projiziert: die „Frauen“ und die „Naturvölker“, und in diesen „Anderen“ zugleich idealisiert und verachtet, begehrt und bekämpft“ (Norbert Trenkle). Die Welt der Emotionen erscheint in den Augen der Aufklärungsvernunft als „Das Andere“, das zu Verachtende, das in die Privatsphäre moderner Subjektivität verbannt wird, während der öffentliche, gesellschaftliche Sektor keine Emotionen gebrauchen kann und auch keine duldet. Wenn aber Emotionen die energetische Grundlage für mögliche Veränderung erzeugen oder sind, müssen wir „Transvoluzzer“ sie aus ihrem „Privat“-Gefängnis befreien und in der gesellschaftlichen Sphäre nutzbar machen. Die Studien des Norbert Elias eröffnen einen anderen Blickwinkel auf unser Thema. Mit seinem dreibändigen Werk „Prozess der Zivilisation“ zeigt er auf, wie jedes einzelne unserer höchsteigenen, spezifischen Gefühle aus dem Fundament einer Matrix „a priori“ erwächst, von ihr geformt wird und seinen jeweiligen Bewegungsspielraum zugewiesen bekommt. Im Dienste vieler vorgelagerter Herrschaftskonstitutionen – aber vor allem im Dienste der gegenwärtigen Herrschaft – wirkt diese Matrix verkleinernd, verbiegend und verkrüppelnd auf die Gefühle ein. Ich denke, dass es uns ein Anliegen sein müsste, die einzelnen Gefühle auf ihre Funktionalisierung innerhalb der kapitalistischen Lebenswelt hin zu fokussieren, zu problematisieren und in unserem Sinne auszurichten.
Wörter und Begriffe wie „abstrakte Arbeit“, „automatisches Subjekt“ oder „Fetischkonstitution“ sind von brillanter analytischer Tiefe und bieten unabdingbare Einblicke in eine „entschleierte“ Welt, lassen sich aber nur in nackter Rationalität vermitteln. Mehr Emotionalität ist mit Gegensatzpaaren wie Recht/Unrecht oder Reichtum/Armut zu erzeugen und zu kanalisieren, mehr noch mit Wörtern der Situationisten wie Bedürfnisse, Begierden, Leidenschaften, Revolution. „Charakterpanzer“ und „emotionale Pest“ von Wilhelm Reich finde ich grandios. Interessant ist auch das Gegensatzpaar Gesundheit/Krankheit. „Krankheit“ wurde Anfang der 70er Jahre zur zentralen Begrifflichkeit des Heidelberger „Sozialistischen Patienten Kollektivs“ (SPK), die einen für die damalige Zeit weit vorangetriebenen Ansatz in Richtung Wertkritik und Fetischkonstitution vertraten.
Aber was erzähle ich euch eigentlich von Wörtern und Gefühlen. In den Aufsätzen der „Streifzüge“ sehe ich meine Gedanken immer wieder aufs Schönste einfließen. Ihr aktualisiert sozusagen ein SI-Kriterium für sinnvolle, revolutionäre Arbeit in „schweren“ Zeiten: „In unseren Tagen erscheint das revolutionäre Projekt als Angeklagter der Geschichte: Ihm wird vorgeworfen, dass es schlechten Erfolg gehabt und eine neue Entfremdung mit sich gebracht habe. Das heißt nichts anderes, als dass die herrschende Gesellschaft sich auf allen Gebieten der Wirklichkeit viel besser wehren konnte, als die Revolutionäre es vorausgesehen hatten; und nicht, dass sie annehmbarer geworden ist. Die Revolution ist aufs neue zu erfinden – das ist alles.“
Aus meinem Brief ist unschwer herauszulesen, dass ich einige Aspekte der Gesellschaftskritik anders beleuchten würde, als das bei euch üblich ist. Verantwortlichkeiten nachzuspüren und bloßzustellen wäre für mich kein Tabu. Wie kommt z.B. die Verblendung und Dummheit so massenhaft in die Köpfe der Menschen? Sind es nicht konkrete Machtmenschen in Konzernen wie Axel Springer und um die Vergrößerung ihrer Vorteile sich sorgende Eliten, die die Pressefreiheit und die Medien dazu missbrauchen, Zusammenhänge systematisch zu verfälschen und zu verschleiern? Zeigt sich da nicht etwas anderes als die „Charaktermaske“ des Kapitals? Oder- huch! – sind diese Fragen schon Verschwörungstheorie?
Ein Thema liegt mir zum Abschluss noch am Herzen, das seltsamerweise nie zur Sprache kommt, obwohl es wie ein Alp auf sämtlichen wertkritischen Überlegungen liegen müsste: Wenn die Geburtenrate sich nicht ändert, hat sich die Zahl der Menschen bis zum Ende des Jahrhunderts auf weit über 20 Milliarden erhöht. Ist eure schon öfters vorgetragene These, dass es „eigentlich“ allen Menschen gut gehen könnte, angesichts dieser Zahlenprognose noch haltbar? Kein Fachmann kann sich vorstellen, dass mit den heutigen Methoden und den jetzigen Voraussetzungen mehr als 10 Milliarden Menschen ernährt werden können. Folglich geht es in Zukunft nicht darum, ob alle ein Fortbewegungsmittel, eine Handtasche und gute Socken haben, sondern darum, wer zu essen und zu trinken bekommt und wer nicht. Wie unter diesen Umständen eine weltweit gemeinsame Revolution der verschiedensten Kulturen mit ihren diversen, oft mehrfachen Fetischkonstitutionen und Ungleichzeitigkeiten der mannigfaltigsten Art vorstellbar ist, wäre vielleicht ein interessantes Thema einer neuen Streifzüge-Ausgabe.