Möglichkeiten statt Chancen
von Stefan Meretz
Der Kapitalismus produziert systematisch soziale Ungleichheit. So lag und liegt es nahe, die soziale Gleichheit zum Programm der Linken zu erheben. Historisch geschah dies in Ost wie West gleichermaßen. Doch gesiegt hat der Liberalismus, denn er hat auf eine Individualität statt auf »Gleichmacherei« gesetzt. So nimmt es nicht Wunder, dass nach dem Niedergang des Realsozialismus viele Linke ins Lager des neu aufgelegten Liberalismus wechselten.
Traditionell war der Staat für Linke die Handlungsinstanz der Wahl. Über den Staat sollte soziale Gleichheit hergestellt werden, ob in voller Gestaltungsfreiheit (Ost) oder als Korrektiv gegen den Markt (West). Gleiche Bedingungen sollten es allen Menschen ermöglichen, ihre individuellen Potenzen zu entfalten. Fortan war von einer Chancengleichheit die Rede. So auch heute: Google liefert zu »Die Linke« und »Chancengleichheit« 173 000 Treffer.
»Als Chance wird eine günstige Gelegenheit oder ein Glücksfall bezeichnet, … die Wahrscheinlichkeit, mit der ein günstiges Ereignis eintritt«, erklärt Wikipedia. Genau hier liegt das Problem. Es geht nicht um Entfaltung für alle, sondern nur um die Chance dazu, also um eine gewisse Wahrscheinlichkeit oder gar nur um einen Glücksfall. Es ist mitgedacht, dass Entfaltung niemals allen in gleicher Weise möglich ist und schon gar nicht unbeschränkt.
Nimmt man die strukturellen Bedingungen im Kapitalismus mit in den Blick, sieht die Lage noch düsterer aus. In einer Logik der Exklusion, also einer strukturellen Situation, in der sich die Einen auf Kosten von Anderen durchsetzen, ist die Rede von der Chancengleichheit ideologisch verbrämter Selbstbetrug. Wenn im Kino die vorne Sitzenden aufstehen, um besser sehen zu können, dann nutzt die Chancengleichheit, nun auch aufzustehen, den hinten Sitzenden keineswegs, den Film genießen zu können. Die gleiche Chance, die anderen auszubooten, schafft die Struktur des Ausbootens nicht ab. Darum ginge es aber.
Die Forderung nach Chancengleichheit wird dann sinnlos, wenn alle Menschen ihre Individualität in gleicher Weise entfalten können. Das können sie aber nur dann, wenn alle auch tatsächlich die Möglichkeit dazu haben. Dafür bräuchte es jedoch »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« – so die Einsicht von Marx und Engels. Sie brachten die strukturelle Inklusion, die die Entfaltung aller ermöglicht und erfordert, auf den Punkt. Freie Entwicklung für alle statt Chancengleichheit in der allgemeinen Konkurrenz.
Gleichheit der Chancen und Gleichheit der Möglichkeiten klingen sehr ähnlich, unterscheiden sich jedoch grundlegend. Chancen umsetzen können am Ende immer nur einige, Möglichkeiten wahrnehmen können hingegen alle. Es hilft nichts, wenn alle die gleiche Chance haben, schließlich aber viele unter die Räder der exkludierenden Konkurrenz kommen, wenn einige erfolgreich ihre Chance realisieren. Eine Möglichkeit wahrzunehmen, bedeutet hingegen nicht notwendig, dass dies andere für sich nicht auch können. Allerdings muss die strukturelle Seite stets mit benannt werden: Es geht um Möglichkeitsgleichheit in struktureller Inklusion statt Chancengleichheit bei struktureller Exklusion.
Ein weiterer Aspekt kommt hier ins Spiel. Chancengleichheit wird von Institutionen bereitgestellt, Möglichkeitsgleichheit können sich die Menschen nur selbst schaffen. Chancengleichheit soll durch gleiche Bedingungen erreicht werden: gleiche Schulen, gleiche Ausstattung, gleiche Inhalte. Wer die Chance nicht nutzt, ist dann selber daran Schuld. Anstatt die strukturell ausgrenzenden Bedingungen zu erkennen, wird die Erklärung für das Scheitern gleich mitgeliefert. Chancengleichheit ist eine ideologische Falle.
Möglichkeiten hingegen müssen so individuell sein wie es die Menschen wirklich sind. Die Gleichheit der Möglichkeiten liegt darin, dass sich jede und jeder in gleichem Maße, aber individuell völlig unterschiedlich entwickeln kann. Gleichheit und Individualität gehen hier zusammen, und das geht nur in einer freien Gesellschaft. Gegen die Ideologie des Neoliberalismus gewendet bedeutet das: Wer wirklich entfaltete Individualität will, die nur die reale Möglichkeit der Entfaltung für alle sein kann, muss den Kapitalismus beenden.
[Erschienen in der Kolumne »Krisenstab« im Neuen Deutschland vom 31.3.2014]