Keimformen und Konvivialität
von Andrea Vetter
Wie stellen wir uns eine freiere Gesellschaft vor? Welche Dinge brauchen wir dort – Open-Source-Traktoren, Mikrovergaser, Rennautos oder Komposttoiletten? Tragen diese Dinge, wenn es sie heute schon gibt, vielleicht sogar den Keim für eine freiere Gesellschaft in sich? Eine freiere, künftige Gesellschaft wird nicht plötzlich über Nacht entstehen, sondern kann sich nur durch das Ausprobieren von anderen gesellschaftlichen Praktiken im Zusammenspiel mit anderen (von Menschen hergestellten) Dingen langsam herausbilden (Habermann 2009, Gibson-Graham 2008). Wie aber wird diese Gesellschaft, wie werden ihre Dinge aussehen? Vielleicht ist es sinnvoll, sich dafür intuitiv auf die Suche zu begeben nach Dingen, die es jetzt schon gibt und die für eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus brauchbar sein könnten.
Möglichkeit eins
Der junge Mann lächelt breit in die Kamera. Voller Stolz erklärt Marcin Jakubowski die Funktionsweise der Open Source Ecology. Sein Traum ist es, 50 Open-Source-Landmaschinen herzustellen, „ein Startpaket für eine kleine Zivilisation“ namens „Global Village Construction Set“. Ziegelpresse, Windrad, Traktor und viele andere technische Geräte werden gerade auf seiner Farm in Missouri, USA, von Freiwilligen gebaut, die Pläne dazu mal mehr oder weniger vollständig im Netz dokumentiert. Das Spendenaufkommen für das Projekt liegt bei hundertausenden Dollar, Jakubowski ist ein guter Verkäufer. Open Source Ecology ist in aller Munde, wenn es um alternative zukunftsträchtige Technikmodelle geht, auch in der Blogosphäre im deutschsprachigen Raum. Eine Keimform?
Warum ist es hilfreich, über „Dinge“ für eine freiere Gesellschaft nachzudenken, was ist darunter zu verstehen? Dinge können natürlich alle möglichen unbelebten Objekte sein: Steine und Sandkörner oder Holzscheite. Die allermeisten Dinge, die uns heute umgeben, sind aber von Menschen sehr stark bearbeitet (Sie können sich beim Lesen gerne als Test kurz umschauen). Das bedeutet, dass diese Dinge nicht einfach gegeben sind, sondern sich in ihnen ein spezifisches Zusammenspiel von Materiellem und Sozialem ver-ding-licht – Soziales wie das Wissen der Ingenieurin oder ein bestimmter Fertigungsablauf in einer Fabrik, Materielles wie Rohöl oder Erze oder die Maschine, die den Stoff in Form fräst. Dinge wie ein Traktor oder ein Tisch sind selbst sozio-technische Netzwerke, die wiederum mit ihrer Umwelt agieren, und zu bestimmten Nutzungsweisen einladen und andere erschweren (Test: Versuchen Sie mal, ihren Drehstuhl als Leiter zu benutzen) (Latour 2008). Welche dieser Dinge können nun aber Teile von Keimformen sein?
Möglichkeit zwei
Ein kleines Erdgeschoss-Ladengeschäft in Berlin-Kreuzberg. Der „Weltraum“ ist der zentrale Ort der lokalen Transition-Town-Initiative. Joachim Betzl, Kompostologe, schneidet mit einem scharfen Klappmesser Löcher in die Seite einer Großküchen-Konservendose. 14 Menschen zwischen 15 und 75 schauen ihm interessiert zu. Betzl erklärt, wie die Dose zur äußeren Hülle eines Mikro-Holzvergasers werden kann. Das Gerät wird nur aus Abfall – alten Weißblechdosen – hergestellt. Mit gesammeltem Holz bestückt, kann man auf der größeren Variante durchaus eine Suppe kochen. Das zu Holzkohle eingebrannte Holz dient nachher als wertvoller Zusatzstoff beim Kompostieren. Eine Keimform?
Wenn wir über brauchbare Dinge für eine freiere Gesellschaft nachdenken, dann ist es wichtig, zu sagen, was „freiere Gesellschaft“ hier heißen soll. Ich meine damit eine Gesellschaft, die lebende und künftige Menschen (mit ihren je eigenen Vorstellungen vom guten Leben) und alle andere Lebewesen (seien es Tiere oder Pflanzen in ihrem Daseinswunsch) respektiert und die Regeln ihres Zusammenlebens (auf lokaler und globaler Ebene) immer wieder möglichst hierarchiearm gemeinsam überprüft und festlegt. Und was bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man ein Ding für eine freiere Gesellschaft „brauche“ oder es „brauchbar“ sei? „Brauchbar“ bezeichnet schlicht ein Ding, das jemandem nützt, ohne dabei massiv anderen Lebewesen zu schaden.
Möglichkeit drei
Ein Foto von einem kleinen schnittigen Rennwagen auf einer Bühne – eine Produktpräsentation. Wikispeed ist das erste Auto, das in einer netzwerkbasierten Peer-to-Peer-Produktionsweise hergestellt worden ist, mit extrem kurzen Innovationszyklen. Ein Vorzeigeprojekt der neuen Commons-Bewegung. Die ersten Prototypen fahren bereits auf US-amerikanischen Straßen. Der Gründer von Wikispeed weist stolz darauf hin, dass das Auto nur 1,5 Liter verbraucht und irre schnell fahren kann. Stauraum für Gepäck, Sitzplätze für mehrere Mitfahrer oder einen Kindersitz sucht man allerdings vergeblich. Aber die Baupläne sind ja Open Source – einem Wikispeed-Kombi-Modell stünde prinzipiell also nichts im Wege. Eine Keimform?
Verschiedene Eigenschaften des Kapitalismus wie Privateigentum und instrumentelles Denken blockieren Möglichkeiten für eine freiere Gesellschaft. Das bedeutet also, dass eine Keimform nur dann Keimform sein kann, wenn sie sich bestimmten Funktionsweisen des Kapitalismus verweigert. Daraus ergeben sich nun aber zwei Fragen: 1. Welche Funktionsweisen sind das? Und 2. Reicht das für die Definition von Keimformen aus bzw. ist jede nicht-kapitalistische Wirtschaftsform gleich brauchbar für eine freiere Gesellschaft?
Möglichkeit vier
Eine junge Frau mit leicht gequältem Gesichtsausdruck fährt sich über den Bauch. Sie steht auf einem Permakultur-Selbstversorger-Hof in der Lausitz, neben einem kleinen Häuschen auf Stelzen. „Ich find’ das ja vom Kopf her eine gute Sache, aber ich kann in den ersten Tagen einfach nicht …“, sagt sie. Ihr Körper verweigert die Mitarbeit, sich auf dem Kompostklo vollständig zu entleeren. Dazu braucht es Eingewöhnung, Übung. Klappt es dann, sorgt ein Kompostklo dafür, dass die menschlichen Ausscheidungen direkt wieder zu Humus weiterverarbeitet werden können – dazu braucht es keine größere Infrastruktur, kein Geld, nur etwas Holz und Erde. Eine Keimform?
Widerständige Dinge
Welchen Funktionsweisen kapitalistischen Wirtschaftens verweigern sich nun bestimmte Dinge wie ein Open-Source-Traktor oder ein Mikrovergaser? Basierend auf den Gedanken von u.a. J. K. Gibson-Graham soll an dieser Stelle betont werden, dass „der Kapitalismus“ kein monolithisches System ist, sondern selbst von einer Vielfalt von existierenden Wirtschaftsformen profitiert, die auch in der jetzigen Ökonomie schon da sind (sonst könnte es auch überhaupt keine Keimformen geben). Und es gibt ganz verschiedene widerständige Praktiken, die sich einer kapitalistischen Verwertungslogik auf verschiedene Arten entziehen können.
Da sind zunächst das Global Village Construction Set und Wikispeed – Beispiele für Peer-to-Peer-Produktion von physischen Gütern, die häufig als Keimform genannt wird. Im Wesentlichen verweigert sich die P2P-Produktion der Funktionsweise des privaten Eigentums an Wissen, denn die Baupläne dieser Dinge sind nicht patentiert, sondern quelloffen zugänglich. Ein einzelnes hergestelltes Ding selbst (ein Traktor oder ein Rennauto) könnte zwar durchaus zur Ware werden, nicht aber das Wissen darüber, wie man ein solches Ding herstellt.
Wie sieht es dagegen mit einem Mikrovergaser oder einem Kompostklo aus? Beide Dinge werden in Kontexten der Permakultur entwickelt. Permakultur ist eine in den 1970er Jahren entstandene Art ursprünglich des Land- und Gartenbaus, mittlerweile aber auch der Projektplanung im Allgemeinen, die letztlich auf der Tiefenökologie beruht. Diese spirituelle Position ist es, die eine gewisse Widerständigkeit gegen Kommodifizierung bietet. Denn dem Kapitalismus eigen ist eine Flachheit der Welt: Alle Objekte, ob lebend oder tot, sind ihm gleich und prinzipiell handelbar. Permakulturelles Denken dagegen folgt nicht einem instrumentellen Naturverständnis und folgt nicht der Profitlogik. Dinge, die entwickelt werden, werden meist für den Eigengebrauch genutzt, und das oberste Prinzip ist die Achtung lokaler ökologischer Kreisläufe und der bedächtige und behutsame Eingriff darin.
Allen oben genannten Möglichkeitsräumen wohnen also an ganz bestimmten Stellen bestimmte Widerständigkeiten gegen kapitalistische Verwertung inne, von denen augenblicklich nicht unbedingt gesagt werden kann, wie weitreichend diese noch werden können. Sind sie damit aber alle gleich brauchbar für eine freiere Gesellschaft?
Konvivialität
Der Querdenker Ivan Illich hat dafür vor über 40 Jahren in seinem Buch „Tools for Conviviality“ einen Vorschlag gemacht: Er schlug vor, als Kompass für die gesellschaftliche Wünschbarkeit bestimmter Dinge (statt Dinge sagte er „tools“) die Kategorie der Konvivialität heranzuziehen. Konvivialität ist für ihn das „Gegenteil der industriellen Produktivität“, und sie meint konkret eine Eigenschaft der Lebensfreundlichkeit und des Gerne-miteinander-Seins und auch des Aufeinander-bezogen-, Aufeinander-angewiesen-Seins, kurz: freudige und sensible Kooperation. Konvivialität ist damit letztlich eine ethische Kategorie. Und solche ethischen Kategorien können durchaus nützlich sein, wenn es um die Bestimmung von Keimformen geht. Denn notwendigerweise ist die endgültige Form in einem Keim zwar angelegt, aber noch nicht vollständig ausgeprägt. Selbst für Gärtner ist es bisweilen schwierig, nur anhand der beiden Keimblättchen, die am Pflanzenstängel als Erste sprießen, die Pflanzenart auszumachen. Denn Keimblätter sehen sich verteufelt ähnlich. Wir können also abwarten, wozu sich ein solcher Keimling entwickelt, und dann lässt sich ex post feststellen, ob es sich überhaupt um die Keimform für eine freiere Gesellschaft gehandelt hat oder nicht.
Aufbauend auf Kriterien, die potentielle Keimform-Projekte selbst entwickeln, um ihrer Arbeit ethische Leitlinien zu geben, und den Ideen von Illich, bieten sich fünf Dimensionen an, die die gesellschaftliche Sinnhaftigkeit eines Dinges näher bestimmen können: Gesundheit, Gerechtigkeit, Autonomie, Ressourcenintensität und Beziehungsfähigkeit. Jede dieser Dimensionen hat natürlich auch verschiedene Ebenen im zeitlichen Verlauf der Lebensdauer und in der Einbettung eines Dings, die betrachtet werden müssen: 1. Infrastruktur, 2. Herstellung, 3. Nutzung.
Diese Dimensionen sind keinesfalls vollständig, sondern lediglich ein erster Vorschlag, um über die ethischen Implikationen sprechen zu können. Anhand dieser Dimensionen ist es interessant, nochmal auf den Open-Source-Traktor und den Mikrovergaser, das Wikispeed-Auto und das Kompostklo zurückzukommen. An alle diese Projekte lassen sich viele Fragen stellen:
Beziehungsfähigkeit: Fördert ein Ding Konkurrenz oder Kooperation? Verbindet oder trennt es Menschen? Ist es vielfältig einsetzbar? Bedarfsorientiert? Ist es netzwerkbasiert oder nur monetär vermittelt? Welche Hierarchien erfordert es? Ist es einseitig gerichtet oder wechselseitig nutzbar?
Gerechtigkeit: Was würde passieren, wenn alle Menschen auf der Welt dieses Ding hätten? Ist es geschlechtergerecht, für Männer und Frauen gleichermaßen nutzbar? Ist der Umgang damit einfach zu erlernen? Wie kann das Wissen zur Herstellung oder Nutzung erworben werden – kostet es Geld, muss man einer bestimmten Elite angehören? Ist es patentiert oder offen zugänglich? Wo ist es offen zugänglich? Wer hat Zugang zu diesen Orten?
Autonomie: Macht das Gerät abhängig von ExpertInnen? Ist es einfach zu reparieren, oder ist der Verschleiß eingebaut? Kostet es viel Geld? Ist es anschlussfähig oder nicht erweiterbar? Ist es für den lokal angepassten Gebrauch einfach veränderbar? Ist es autonom nutzbar oder infrastrukturell gebunden? Ist es zeitsparend oder zeitaufwändig – für wen und auf welcher Ebene?
Gesundheit: Fördert das Ding die Gesundheit oder führt es zu Krankheit und Tod vieler Menschen? Macht es den Boden fruchtbarer, das Wasser und die Luft sauberer oder vergiftet es sie? Sorgt es für den Erhalt von Tierarten oder rottet es Arten aus? Ist seine Funktionsweise bekannt, oder birgt es nicht erforschte Risiken?
Ressourcenintensität: Funktioniert das Ding effizient? Sind seine Materialien nachwachsend? Ist es multifunktional oder eindimensional? Nutzt es lokale Rohstoffe? Ist es so gebaut, dass die Materialien recycelt werden können? Nutzt es natürliche Funktionsweisen oder arbeitet es gegen sie? Benötigt es für den Betrieb erneuerbare Energien wie Wind- oder Solarkraft, Muskelkraft von Mensch und Tier oder funktioniert es nur mit fossilen Energieträgern?
Ergänzende Konzepte
Die Diskussionen um Keimform und um Konvivialität können sich gegenseitig befruchten. Denn ein Keimform-Begriff, der sich nur auf Aspekte wie die Überwindung des Privateigentums an Wissen bezieht, greift zu kurz. Wikispeed ist dafür ein gutes Beispiel: Das Projekt ist zwar hinsichtlich vieler Faktoren begrüßenswert und „besser“ als die herkömmliche Autoindustrie, das Ding, das am Ende steht, ist aber immer noch ein Auto – eine lebensgefährliche, verschmutzende, ressourcenverschwendende, teure und sozial ausschließende Art sich fortzubewegen, wie es André Gorz (2009) in seinem Aufsatz so schön beschrieben hat. Kurz: Es ist ein Ding, das keine Antwort darauf gibt, wie Mobilität in einer freieren Gesellschaft organisiert werden könnte.
Umgekehrt läuft ein Konvivialitätsbegriff ohne Kapitalismuskritik Gefahr, die systemischen Ursachen dafür auszublenden, dass sich viele brauchbare Alternativen so schwer oder gar nicht durchsetzen. Es muss an dieser Stelle eine offene Frage bleiben, ob tendenziell konviviale Dinge immer auch einer oder mehreren Funktionsweisen des Kapitalismus Widerstände entgegensetzen – dafür bräuchte es mehr Gedanken, als in diesen Essay passen. Am Beispiel der Permakultur zeigt sich jedoch, dass die dort entwickelten Dinge sehr schnell warenförmig werden können, wenn sie die Sphäre des Eigenbaus verlassen. Deshalb wären diese Projekte sicherlich eher Keimformen (und im Übrigen auch eher konvivial!), wenn das Wissen, das sie generieren, prinzipiell quelloffen wäre.
Das Prinzip der Konvivialität mit seinen verschiedenen Dimensionen könnte ein hilfreicher Kompass für Menschen sein, die in Projekten arbeiten, in denen tendenziell Keimformen entstehen. Denn dieser Kompass macht deutlich, dass P2P-Projekte zwar punktuell über den Kapitalismus hinausführen können, aber nicht notwendig zu einer freieren Gesellschaft. Denn der Kapitalismus ist nicht die einzige Gesellschaftsform, die Menschen unterdrückt.
Literatur:
Gibson-Graham, J.K. (2008): Diverse Economies: Performative Practices for „Other Worlds”, Progress in Human Geography 32 (5): S. 613–632.
Gorz, André (2009): Die gesellschaftliche Ideologie des Autos, in: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich: Rotpunkt, S. 52–64.
Habermann, Friederike (2009): Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag, Sulzbach: Helmer.
Illich, Ivan (1975): Selbstbegrenzung. [Tools for Conviviality], Reinbek: Rowohlt.
Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.