Kapitalismus ohne Wachstum?
Von Stefan Meretz
Vom 2. bis 6. September treffen sich 2500 Aktivist_innen in Leipzig zur Degrowth-Konferenz. Degrowth? Das ist schwer zu übersetzen, Vorschläge reichen von Postwachstum, Schrumpfung oder Wachstumswende bis zu Entwachstum. Es geht um eine Gesellschaft, die »unabhängig von Wirtschaftswachstum ein gutes Leben für alle ermöglichen« kann – so die Organisator_innen. Geht das?
Produktion und Konsum sollen verringert, ökologische Grenzen beachtet, Ressourcen gerechter verteilt und mehr Gleichheit erreicht werden. Die Wirtschaft soll eine andere Ausrichtung bekommen. Wachstum wird zur »Ideologie« erklärt. Schnell sind Wirtschaftsethiken bei der Hand, die sich an einem »Genug« orientieren sollen anstatt an immer mehr Produktion in immer kürzerer Zeit. Suffizienz statt Effizienz. Man muss nur wollen, oder?
Spielen wir es durch. Nehmen wir an, eine Gruppe degrowth-ethischer Unternehmer_innen beschließt die Produktion nicht zu steigern oder, was auf das selbe rauskommt, die gleiche Warenmenge nicht mittels effizienterer Produktion in kürzerer Zeit herzustellen, also zu verbilligen. Andere Unternehmen wären wohl schnell zur Stelle und füllten die Lücke. Aber nehmen wir weiter an, sie täten das nicht, etwa weil Konsument_innen gleichzeitig weniger konsumierten. Die Folge wäre stockende oder sinkende Produktion, weniger Beschäftigung, weniger Einkommen, weniger Nachfrage – eine Abwärtsspirale käme in Gang. Super für die Ökologie, katastrophal für die soziale Lage der Menschen. Wir kennen das Phänomen unter dem Namen Krise.
Mal abgesehen von den unrealistischen Annahmen: Warum haut das schöne Modell nicht hin? Weil es in unserer Gesellschaft zwei gegenläufige Reichtumsformen gibt: sinnliche Produkte und abstrakten Wert. Hinter den sinnlich-stofflichen Produkten steckt der Ressourcenverbrauch, hier setzt Degrowth an. Hinter dem abstrakten Wert steckt der Wachstumszwang, das thematisieren Degrowth-Aktivist_innen selten. Doch letzteres treibt ersteres, die Verwertungslogik bestimmt die Warenproduktion. Aus Geld muss am Ende mehr Geld werden, sonst kann sich das Unternehmen vom Markt verabschieden. Ob Panzer-Produzent oder Gemeinwohl-Entrepreneur.
Ließe sich aber vielleicht die Verwertungslogik auf »gute« Waren begrenzen? Kapitalismus gemeinwohlig anwenden? Wachstum in öko? Investitionen in Ressourceneinsparung? Der englische Ökonom und Mitbegründer der neoklassischen Schule William Stanley Jevons stellte schon 1865 fest, dass eine durch Technikeinsatz getriebene effizientere Ressourcennutzung den Verbrauch nicht senkt, sondern steigert. Was billiger wird, wird auch mehr genutzt und verbraucht und fließt in neue, billigere Produktion ein. Und wo ein Markt ist, findet sich ein Unternehmen, das ihn bedient. In der Konkurrenz muss jede Chance genutzt werden. Kurz: Kapitalismus kann alles produzieren, das Geld bringt. Und tut das dann auch, unabhängig vom »Sinn«. Denn Geld kennt keinen Sinn, ist sinnlos und blind. Aber es ist der Bestimmer. Es erzwingt das Wachstum und damit den Ressourcenverbrauch, hinter unserem Rücken und mit Gewalt. Eine Begrenzung geht vielleicht im Kleinen, aber nicht systemisch. Kapitalismus ohne Wachstum ist nicht zu haben.
Wer Degrowth will, muss vom Kapitalismus reden. Oder besser: von der Aufhebung des Kapitalismus. Es mangelt allerdings an Ideen und Konzepten, wie eine Produktion jenseits des Wachstumszwangs für ein gutes Leben für alle Menschen auf dem Planeten aussehen kann. Darüber wird viel zu wenig geredet. Der erste Schritt wäre der mentale Abschied vom Kapitalismus, wenngleich wir auch praktisch noch eine Weile mit ihm zu tun haben werden. Oder wie die Ökonomin Friederike Habermann es in einem lesenswerten Beitrag zur Degrowth-Konferenz ausdrückt: »Es ist eine gute Nachricht, dass jetzt endlich Schluss sein muss mit dem Kapitalismus«.
Eine Alternative, das habe ich in zahlreichen Kolumnenbeiträgen versucht zu zeigen, sind die Commons, die gemeinschaftliche Produktion jenseits von Markt und Staat. Ja, auch jenseits von Geld und Ware. Wer Degrowth will, muss anders produzieren, muss die Verwertungslogik des Kapitalismus abschalten. Und die Bedürfnisorientierung anschalten. Selbstentfaltung statt Selbstverwertung, Selbstorganisation statt Marktdiktat. Commonismus ist nicht nur machbar, sondern unabdingbar.
Erschienen in der Kolumne »Krisenstab« im Neuen Deutschland vom 18.8.2014