Im Weltbürgerkrieg
von Tomasz Konicz
Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges befanden sich so viele Menschen aufgrund gewaltsamer Vertreibungen auf der Flucht wie 2013 – dies ist das niederschmetternde Fazit eines anlässlich des Weltflüchtlingstages veröffentlichten UNHCR-Berichts. Im vergangenen Jahr mussten aufgrund von „Konflikten oder Verfolgungen“ täglich durchschnittlich 32.200 Menschen ihre Wohnorte verlassen. 2012 waren es 23.400, in 2011 „nur“ 14.200.
Die offiziellen UN-Zahlen gehen insgesamt von 51,2 Millionen Flüchtlingen aus, die durch Kriege, Bürgerkriege oder ethnisch- und religiös motivierte Terrorkampagnen vertrieben wurden. Gegenüber 2012 wuchs dieses Flüchtlingsheer, das zu mehr als 50 Prozent aus Minderjährigen besteht, um weitere sechs Millionen verzweifelter Menschen an. Den größten Teil dieser Ausgestoßenen stellen laut UNHCR rund 33,3 Millionen Binnenflüchtlinge, die vor Bürgerkriegen in andere Regionen ihrer oftmals im Zerfall befindlichen Staaten fliehen mussten. 16,7 Millionen Menschen mussten hingegen ihr Geburtsland auf der Flucht verlassen. Zudem zählte das Flüchtlingskommissariat weltweit 1,2 Millionen Asylsuchende.
Aufgrund der voranschreitenden Zerfalls von Staaten in der Peripherie und Semiperipherie des kapitalistischen Weltsystems gelten inzwischen zehn Millionen Flüchtlinge als „staatenlos“. Die Ursprungsländer dieser anschwellenden Flüchtlingsströme sind vor allem die „gescheiterten“ oder in Auflösung begriffenen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens und Afrikas: 53 Prozent aller außerhalb ihrer Ursprungsländer gestrandeten Flüchtlinge kommen laut UNHCR aus Afghanistan, Syrien und Somalia. Die den arabischen Raum erschütternden staatlichen Zerfallsprozesse spiegeln sich auch in den vorläufigen Zielländern dieser Flüchtlingsströme: Die meisten Vertriebenen vegetierten 2013 in Pakistan (1,6 Millionen), Iran (857.000), Libanon (856.000), Jordanien (641.000) und der Türkei (609.000). Im Libanon, wo immer wieder Übergriffe von Einheimischen auf syrische Flüchtlingslager gemeldet wurden, ist inzwischen jeder fünfte Einwohner ein Flüchtling. Binnen eines Jahres sind die Flüchtlingsströme im „Mittleren Osten und Nordafrika“ Laut UNHCR insgesamt um 64 Prozent angeschwollen.
Die größten Fluchtbewegungen in Afrika wurden hingegen durch den Zerfall der Zentralafrikanischen Republik und erneute Kampfhandlungen auf dem poststaatlichen Territorium der ehemaligen „Demokratischen Republik Kongo“ ausgelöst. Rund 800.000 Binnenflüchtlinge mussten in der Zentralafrikanischen Republik vor den Kämpfen und wechselseitigen Massakern zwischen christlichen und muslimischen Milizen fliehen. Zudem flohen 88.000 Zentralafrikaner in die benachbarten Länder. In der Demokratischen Republik Kongo verursachte eine neue Runde in dem seit Dekaden tobenden Bürgerkrieg eine gigantische interne Flüchtlingswelle von annähernd einer Million Menschen. Größere Fluchtbewegungen meldete UNHCR überdies aus den von Bürgerkriegen zerrütteten Staaten Mali und Südsudan sowie dem poststaatlichen Gebilde Somalia.
Im Hinblick auf die absoluten Flüchtlingszahlen stellen somit Zentral- und Ostafrika (Zunahme der Fluchtbewegungen um 7,7 Prozent in 2013) und der Nahe und Mittlere Osten mit jeweils rund 2,6 Millionen Vertriebenen die mit Abstand größten – zumeist in Anomie versinkenden – Ursprungsgebiete der global anschwellenden Flüchtlingsströme. Zum Vergleich: In Süd- und Nordamerika blieb die Anzahl der Flüchtlinge mit rund 806.000 stabil.
Entgegen der Rhetorik rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte tragen gerade die „Entwicklungsländer“ der Peripherie des kapitalistischen Systems die Hauptlast dieser globalen Flüchtlingswelle. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt sehen sich laut UNHCR Länder wie Pakistan, Äthiopien, Kenia, Tschad, Uganda oder Südsudan mit enormen Herausforderungen konfrontiert, die in keiner Relation zu den minimalen Almosen stehen, die den wenigen Flüchtlingen, die es etwa bis nach Europa schaffen, zugestanden werden. Rund 86 Prozent aller Flüchtlinge fanden 2013 Zuflucht in Entwicklungsländern; dies sei „der höchste Wert seit 22 Jahren“, konstatierte UNHCR trocken.
Und die Flüchtlingspolitik der EU wird auch weiterhin dafür sorgen, dass dies so bleibt. Derzeit wird laut einem Bericht des britischen „Guardian“ die Errichtung von „Aufnahmezentren“ in Nordafrika und dem Nahen Osten in Brüssel debattiert. Griechenland und Italien würden diese Idee während ihrer Ratspräsidentschaften forcieren, hieß es in dem Anfang Juni veröffentlichten Bericht. Diese Ideen decken sich mit den Vorschlägen des UNHCR, das groß angelegte Einrichtungen zur „Abwicklung“ von Flüchtlingen in Transitstaaten wie Ägypten, Libyen oder dem Sudan einrichten möchte, um „eine kolossale humanitäre Katastrophe“ am Mittelmeer zu verhindern, wo sich „Hunderttausende von Menschen“ auf eine Überfahrt gen Norden vorbereiteten, so der „Guardian“. Die Flüchtlinge sollen diesen Planungen zufolge in gigantischen Lagern in den repressiven oder im Staatszerfall befindlichen arabischen Ländern versammelt werden. Der enorme Anstieg der Flüchtlingsströme Richtung Europa, die durch dieses Lagersystem eingedämmt werden sollen, wird allein durch die versuchten Mittelmeerüberquerungen nach Italien deutlich. In den ersten vier Monaten des Jahres 2013 zählte Frontex 3.362 solcher Vorfälle; im selben Zeitraum dieses Jahres waren es schon rund 42.000.
Dabei ist noch eine weitere Zunahme der Flüchtlingsströme zu erwarten. Die Zahlen des UNHCR erfassten beispielsweise noch nicht die massiven Vertreibungen, die mit dem Vormarsch der Steinzeitislamisten der ISIS im Irak einhergehen. Der Sunnitische Aufstand und der totale Zusammenbruch staatlicher Strukturen in weiten Teilen des Irak habe die „Flut“ der irakischen Binnenflüchtlinge verdoppelt und auf über 1,1 Millionen Menschen anschwellen lassen, berichtete CNN Mitte Juni. Hunderttausende Iraker fliehen zudem nach Jordanien oder Kurdistan, wo schon sehr viele Flüchtlinge vor dem syrischen Bürgerkrieg Zuflucht suchten. Weite Teile des Nahen Ostens scheinen in einem grenzüberschreitenden regionalen Bürgerkrieg zu versinken, der die verbliebenen einigermaßen stabilen Staatsgebilde zu erodierenden Inseln in einem Meer aus Krieg und Anomie werden lässt.
Etliche der Länder, die bislang die Hauptlast der global anschwellenden Flüchtlingsströme getragen haben, wie etwa Pakistan oder Libanon, sind selber von staatlichen Erosionsprozessen und zunehmenden bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen gekennzeichnet, sodass hier mittelfristig weitere Fluchtbewegungen zu erwarten sind. Diesen verzweifelten, ausgestoßenen Menschenmassen eines in Agonie befindlichen kapitalistischen Weltsystems wird gar keine andere Option bleiben, als die Flucht in die wenigen Zentren, die noch nicht in Anomie versinken. Das global anschwellende Flüchtlingselend stellt das Endprodukt der Weltkrise des Kapitals dar, das – an seinen inneren und äußeren Widersprüchen kollabierend – eine buchstäblich überflüssige Menschheit produziert.
Die expandierenden länderübergreifenden Bürgerkriegsgebiete, die nun die Flüchtlingsströme auf immer neue Höchstwerte treiben, finden sich zumeist in den peripheren Zusammenbruchsregionen des Weltmarktes, in denen eine nennenswerte Kapitalverwertung nach dem Kollaps der nachholenden Modernisierung in den 80ern und 90ern nicht mehr stattgefunden hat und deren Staatsapparate, die ihre finanzielle Basis in Form von Steuereinnahmen verloren haben, in einen Prozess der „Verwilderung“ übergegangen sind. Der spätkapitalistischen Produktion des Flüchtlingselends ging die Produktion eines Arbeitslosenheeres voraus; es besteht aus Menschen, die dem Terror des Weltmarktes ausgesetzt bleiben, obwohl sie nichts auf diesem feilbieten können. Aus ihren Reihen rekrutieren die von Zusammenbruchsideologien (Islamismus, Rechtsextremismus) verblendeten Rackets und Milizen ihre wachsende Anhängerschaft.
Immer mehr Menschen sehen ihre nackte physische Existenz bedroht, weil sie ihre Reproduktion nicht mehr wertvermittelt realisieren können – und weil kein alternativer Modus der Reproduktion zur Verfügung steht. Die bürgerkriegsähnlichen Konflikte bilden somit Momente eines „Weltbürgerkriegs“ (Robert Kurz), der das finale Stadium der Zersetzung des kapitalistischen Weltsystems ist. Die sich zuspitzenden systemischen Widersprüche würden das kapitalistische Weltsystem zu einer irrationalen „Flucht nach vorn“ in einen neuen Weltkrieg treiben, prognostizierte Kurz 2008 (Weltmacht und Weltgeld), doch könne es sich auf „dem Entwicklungsniveau der Globalisierung“ nicht mehr um einen Krieg zwischen nationalimperialen Machtblöcken für die „Neuaufteilung der Welt“ handeln: „Man müsste vielmehr von einem Weltbürgerkrieg neuen Typs sprechen, wie er sich in den ‚Entstaatlichungs‘- und Weltordnungskriegen seit dem Untergang der Sowjetunion bereits angedeutet hat, die vielleicht nur die Vorboten waren.“
Unbewusst ringen die Akteure dieses Weltbürgenkriegs um eine neue, postkapitalistische Form der Vergesellschaftung. Der linke Soziologe und Weltsystemtheoretiker und Immanuel Wallerstein sah das Weltsystem bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts in eine Phase des Zusammenbruchs eintreten, da es nach einer gut 500-jährigen Entfaltungsperiode an eine Schranke seiner Entwicklungsfähigkeit stößt und an seinen eskalierenden Widersprüchen zugrunde gehe. Das System tritt laut Wallerstein nun in eine Phase des chaotischen Umbruchs ein, wobei die Richtung und der Ausgang dieses Prozesses nicht prognostizierbar seien: „Wir leben in einer Phase des Übergangs von unserem existierenden Weltsystem, der kapitalistischen Wirtschaft, zu einem anderen System oder anderen Systemen. Wir wissen nicht, ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren sein wird. Wir werden dies erst wissen, wenn wir dorthin gelangt sind, was möglicherweise noch weitere 50 Jahre dauern kann. Wir wissen allerdings, dass die Periode des Übergangs für alle, die in ihr leben, sehr schwierig sein wird. … Es wird eine Zeit der Konflikte oder erheblicher Störungen … sein.“ Doch zugleich eröffnet das Aufbrechen der festgefahrenen gesellschaftlichen Strukturen Manövrierräume für eine bewusste, emanzipatorische Überwindung des kollabierenden Kapitalregimes, um einen Absturz in die in der Peripherie sich bereits abzeichnende Barbarei zu verhindern. Die gegenwärtige weltgeschichtliche Übergangsperiode sei „eine Zeit .., in der der Faktor des freien Willens zum Maximum gesteigert wird.“ Dies bedeute, so Wallerstein, „dass jede individuelle und kollektive Handlung eine größere Wirkung beim Neuaufbau der Zukunft haben wird als in normalen Zeiten, also während der Fortdauer eines historischen Systems.“ (Immanuel Wallerstein, Utopistik, Wien, 2002, S. 43)
Erschienen in KONKRET 08/14