Endgame um die Ukraine?
von Tomasz Konicz
Es ist ein Déjà-vu mit vertauschten Rollen: Am 9. August publizierte das Weiße Haus die Zusammenfassung eines Gesprächs zwischen US-Präsident Barack Obama und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, in der Russland mit scharfen Worten vor einer „humanitären“ Intervention in der Ukraine gewarnt wurde. Ein solches Verhalten wäre „inakzeptabel“, es würde gegen „internationales Recht“ verstoßen und „zusätzliche Konsequenzen“ nach sich ziehen.
Die Führer der westlichen Wertegemeinschaft, die unter dem Vorwand „humanitärer Interventionen“ in den vergangenen Dekaden ein gutes Dutzend Länder zusammenschießen ließen (zuletzt Libyen), warnen nun Russland vor einer „humanitären Intervention“ in der Ukraine. Man könnte über diese Realsatire eigentlich nur lachen, wäre die Lage in der Ukraine aufgrund des rücksichtslosen Vorgehens der prowestlichen ukrainischen Streitkräfte nicht dermaßen verzweifelt. Die humanitäre Krise in der Ukraine ist ja kein Propagandaprodukt des Kreml, sondern bittere Realität (Ukrainisches Todesroulette).
Auch die NATO sieht inzwischen eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ für eine militärische Intervention Russlands in der Ukraine, die unter dem Deckmantel humanitärer Hilfsleistungen erfolgen würde. Er sehe in Russland die Ausbildung einer entsprechenden „Argumentation“, die den Vorwand für eine „illegale militärische Operation“ liefern solle, erklärte der NATO-Chef Fogh Rasmussen im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters.
Der riesige russische Hilfskonvoi, der derzeit in Richtung Ostukraine rollt, wird vor allem von Kiew als ein Initialzünder einer solcher russischen „humanitären Intervention“ angesehen. Die prowestliche Führung in Kiew hat den rund 280 mit Hilfsgütern beladenen Lastwagen die Einreise in die Ostukraine verweigert – ob sie die Machtmittel zur Durchsetzung dieses Einreiseverbots hat, ist hingegen fraglich.
Ansteigender Interventionsdruck
Tatsächlich steigt der Druck auf den Kreml, in der Ukraine zu intervenieren. Die militärische Lage der Aufständischen in der Ukraine scheint inzwischen hoffnungslos. Donezk ist von der ukrainischen Armee eingekesselt worden, sodass der Fall der größten ostukrainischen Stadt nur noch eine Frage der Zeit ist. Sobald die Vorräte der Aufständischen an Material und Munition zu Ende gehen werden, können die rechtsextremen Bataillone, die Kiew bei der Eroberung der Millionenstadt einzusetzen gedenkt, in den Häuserkampf ziehen, ohne größere Gegenwehr zu erwarten.
Damit gerät die Strategie der ostukrainischen Aufständischen ins Wanken, die letztendlich auf Zeit spielen: Der Aufstand sollte so lange fortgesetzt werden, bis die zunehmenden inneren Widersprüche in der Ukraine eine Fortführung der Militäroperation im Osten unmöglich machen würden. So hoffte man im Osten darauf, dass die Verluste der ukrainischen Armee die Kriegsmüdigkeit in der Ukraine verstärken werden, die sich derzeit erst in spontanen Protesten gegen die Teilmobilmachung äußert.
Doch es ist vor allem die sich rapide verschlechternde Wirtschaftslage, die der prowestlichen Kiewer Führung mittelfristig die Fortführung des Bürgerkrieges unmöglich machen wird. Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise – das BIP sank im zweiten Quartal 2014 um 4,7 Prozent -, die dabei ist, aufgrund der rabiaten Sparvorgaben des IWF die Dimensionen eines ökonomischen Zusammenbruchs nach dem Vorbild Griechenlands anzunehmen (Die Ukraine als Griechenland des Ostens?).
Spätestens mit dem Einsetzen der Heizperiode im Herbst/Winter dürften sich die daraus resultierenden sozialen und politischen Zentrifugalkräfte nicht mehr unter dem Teppich einer Kriegsmobilisierung kehren lassen – so das Kalkül der prorussischen Kräfte. Der prorussische Blog vineyardsaker spricht ausdrücklich von einem „Wettlauf gegen die Zeit“, den Kiews Militärmaschine im Osten veranstaltet.
Sollte Russland nicht entscheiden, in der Ostukraine zu intervenieren, dann wird Kiew diesen Wettlauf gegen die Zeit aller Voraussicht nach gewinnen. Donezk wird fallen, bevor die Ukraine zerfällt. Der Kreml steht somit vor einer Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder nimmt Moskau eine strategische Niederlage in der Ukraine hin, die Russlands Ambitionen auf die Errichtung einer Eurasischen Union zerschmettern dürfte, oder der Kreml riskiert mit der direkten Intervention eine unkalkulierbare Eskalation des Konflikts.
Aus den Reihen der ostukrainischen Aufständischen sind bereits kaum verhüllte Drohungen an den Kreml gerichtet worden, sollte Russland die sich abzeichnende Niederlage nicht abwenden. Er hoffe, dass die ukrainische Tragödie „weder zu einer Tragödie für Russland noch zu einer persönlichen Tragöde für Putin“ sich auswachsen werde, warnte ein enger Berater des bekannten Rebellenkommandeurs Igor Strelkow Ende Juli. Der Verlust der Ostukraine würde die Machtstellung Putins gefährden, so die implizite Logik dieser Warnung.
Putin müsse am derzeitigen Scheideweg entscheiden, wie weit er gehen will, erklärte die an der Russischen Akademie der Wissenschaften arbeitende Soziologin Olga Kryshtanovskaya gegenüber der Helsinki Times. Eine offene russische Intervention sei deswegen wahrscheinlich:
Putin steht vor einer sehr schwierigen Wahl. Er muss die Position Russlands verteidigen. Er muss zeigen, dass er erfolgreich seine Ziele verfolgt. Er kann es sich nicht erlauben, in den Augen seines Volkes wie ein Verlierer auszusehen.
Ähnlich argumentierte der private Nachrichtendienst Stratfor in einer Analyse der machtpolitischen Stellung Putins. Der Stratfor-Gründer George Friedman fragte gar provokativ, ob Putin die derzeitige Krise politisch überleben könne. Friedman erinnerte daran, dass viele russische oder sowjetische Staatslenker ihrer Machtpositionen gerade nach verlorenen geopolitischen Kämpfen und aufgrund einer miserablen Wirtschaftspolitik verlustig gingen.
Der KPdSU Generalsekretär Chruschtschow sei nach der Cuba-Krise 1964 entmachtet worden, der erste russische Präsident Boris Jeltsin, unter dessen Regentschaft Russland einen beispiellosen ökonomischen Zerfall erfuhr, war unfähig, die NATO-Aggression gegen Jugoslawien während des Kosowo-Krieges zu verhindern.
Wie Chruschtschow oder Jeltsin könnte Putin bei einer durch Sanktionen eskalierenden Wirtschaftskrise und einer geopolitischen Niederlage „durch einen seiner Kollegen“ aus dem Politbüro ersetzt werden, in dem sich gerade seine engsten Vertrauten sammelten. Es sind ja gerade Kräfte innerhalb der russischen Geheimdienste, aus denen Putin hervorging, und „Machtministieren“, die auf eine Intervention drängen.
„You break it, you own it.“
Während seine eigene Machtbasis im Sicherheits- und Militärapparat Putin zur Intervention drängt, ist die Mehrheit der Bürger Russlands gegen eine Militärintervention in der Ukraine, wie jüngste Meinungsumfragen enthüllten. Rund 51 Prozent der vom Umfrageinstitut Levanda befragen Umfrageteilnehmer sprachen sich gegen eine Intervention aus, nur 29 Prozent befürworteten sie.
Tatsächlich hat der Kreml aus wohlverstandenen taktischen Erwägungen auf eine Intervention in der Ostukraine verzichtet, da die politischen und wirtschaftlichen Kosten eines solchen Unterfangens kaum abschätzbar sind. Ausgehend von den Erfahrungen in Afghanistan und dem Anschauungsunterricht, den die desaströsen Interventionen der USA etwa im Irak lieferten, hat Moskau es bislang erfolgreich verhindert, irreversibel in dem Morast einer direkten ukrainischen Intervention zu versinken.
Das Grundprinzip einer solchen Intervention hat der ehemalige US-Außenminister Colin Powell am Vorabend des amerikanischen Einmarsches im Irak festgehalten: „You break it, you own it.“ Mit der Intervention in einem Bürgerkrieg wird auch die Verantwortung für dieses Bürgerkriegsgebiet übernommen.
Bislang kann der Westen dafür verantwortlich gemacht werden, mittels seiner Interventionspolitik und der Unterstützung einer mit Rechtsextremen durchsetzten „Opposition“ die Ukraine an den Rand des Zerfalls getrieben zu haben („Ukraine über Alles!“).
Die Kosten für diesen westlich unterstützten Regierungsumsturz in Kiew belaufen sich für die EU und die USA bereits auf Dutzende von Milliarden Euro, die in Form von Krediten und sonstigen Hilfsleistungen fließen. Die Aufwendungen Russlands, die den Aufständischen oder der Bürgerkriegsflüchtlingen zukommen, fallen dagegen kaum ins Gewicht. Dies würde sich bei einer direkten Intervention und einer etwaigen Annektion schlagartig ändern.
Die Kosten des geopolitischen Kräftemessens um die Ukraine würden für die ökonomisch stagnierende russische Föderation explodieren. Russland wäre beispielsweise kaum in der Lage, eine ähnlich schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse in dieser kriegsverwüsteten Region zu gewährleisten, wie es auf der Krim der Fall war (etwa durch eine Angleichung des Rentenniveaus).
Zudem bietet die Ostukraine – im Gegensatz zur Halbinsel Krim – keine geografischen Grenzen eines mehrheitlich russischen Siedlungsgebietes. Wo sollten Russlands Truppen bei einer Intervention halten? Dies wäre eigentlich erst am Dnjepr sinnvoll, doch findet sich in dieser Region keine einigermaßen einheitliche Unterstützung für eine Abtrennung von der Ukraine.
Ein guter Teil der Bevölkerung würde einer russischen Intervention ablehnend gegenüberstehen, was die Perspektive einer lang anhaltenden Instabilität eröffnen würde. Zudem hat der politische Fallout der Annektion der Krim durch Russland zu einer weiteren Rechtsverschiebung in der Ukraine beigetragen: Die Stimmung in der restlichen Ukraine ist „antirussischer“ geworden, nachdem die Krim von Russland annektiert wurde.
Die Ostukraine weist somit das Potenzial auf, sich zu einem russischen Irak, zu einem blutigen und ungeheuer kostspieligen Militärabenteuer zu verwandeln, sollte der Kreml intervenieren. Russland könnte hier in dem Morast eines Bürgerkrieges versinken, wie es die USA im Irak taten.
Und es dürften gerade diese Erwägungen gewesen sein, die den Kreml bisher – solange die ostukrainischen Aufständischen militärisch standhalten konnten – vor einer Intervention abhielten. Nun steht Moskau vor der geopolitischen Wahl zwischen Pest und Cholera.
Telepolis 13.8.2014