Der kontemporäre Zustand der Welt

von Lukas Hengl

Liebes,
ich war gerade vier, als die verspiegelten Parabole in den Erdumkreis gebracht wurden. Jetzt, vierzig Jahre später, weiß ich mit Gewissheit, dass die Sonne in meiner Lebenszeit nicht mehr direkt auf die Erde strahlen dürfen wird.

Ich bin einer von genau 4.004.423 Menschen, die momentan auf der Erde leben. In diesem eigenartigen Jahrhundert gibt es genaue Kenntnis darüber wie viele Menschen leben und wie viele sterben, um daraus zu schließen, wie viele geboren werden dürfen, ohne die verbliebene Lebensfläche zu überfordern. Falls es dich jemals geben sollte und du diesen Brief jetzt gerade lesen solltest, dann nur, weil irgendeine unvorhersehbare Katastrophe etwa vierundzwanzigtausend Menschen in den Tod gerissen hat und deine Mutter und ich dadurch weit genug auf der Geburtenwarteliste vorgerückt wären, um in unserer gebärfähigen Zeit ein Kind bekommen zu dürfen.

Oder der Meeresspiegel sank und gab Land frei, doch das ist eher nicht anzunehmen. Wieso auch? Tatsächlich steigt der Meeresspiegel noch immer an. Die Versuche, das Eis in den Weltraum zu verfrachten, sind gescheitert, auch alle anderen Bemühungen, die Erdtemperatur zu senken, sind missglückt oder ihre Effekte blieben weit unter den Erwartungen. Selbst der gewagte und unermesslich aufwendige Versuch, die Sonne mittels gigantischer halbdurchlässiger Spiegel, die in der Erdumlaufbahn wie eckige Monde mitkreisen, zu entkräften, brachte nur wenig. Die Kontinente versinken unaufhörlich im Meer.

Ich habe übrigens schon Teile der versunkenen Welt, der Städte unter dem leer gefischten Meer, mit eigenen Augen gesehen, es erinnerte mich an das Märchen von Dornröschen. Ich werde eine Kopie dieses Märchens an den Brief heften, eigentlich solltest du jetzt, wenn du diesen Brief umdrehst, sie dort vorfinden. Diese Städte, die wir mit U-Booten befahren, um dort Brauchbares zu sammeln, wirkten auf mich, als ob sie, durch die Katastrophen der Geschichte in ewigen Schlaf versetzt, nun ihrer Erweckung durch einen hoffnungsfrohen Kuss harrten.

Über die jüngere Vergangenheit kann und will ich Dir nicht viel erzählen, einiges müsstest Du aber durch Geschichtsbücher schon erfahren haben. Die letzten großen Kriege, welche jene vom Wasser zurückgedrängten, in immer kleineren Lebensräumen sich gegenseitig bekämpfenden und, als Nahrung knapp wurde, gar auffressenden Menschen (insofern dieser Begriff da noch zutraf) solange ausfochten, bis die wenigen Überlebenden, die dann immer noch zu viele waren, sich auf eine weltumspannende Geburtenkontrolle einigten und diesen Vollzug von Computer gesteuerten, nach demokratisch gewählten Vorgaben programmierten Drohnen durchführen ließen, waren wohl das grässlichste was dem Menschengeschlecht je widerfahren sollte. Insofern Du, und das wäre mein größter Wunsch, dich solchen Schrecken, wie dem Eingriff einer solchen Drohne in das Glück einer jungen Familie, die ohne Erlaubnis ein Kind in die Welt setzte, bisher entziehen konntest, so möchte ich dir Details solcher Art gerne ersparen, muss aber befürchten, dass du viel irrsinnigere Erlebnisse über dich ergehen lassen, oder wenigstens beobachten musstest; denn sofern heutigen Schätzungen geglaubt werden kann, müsste die Bewohnerzahl der schrumpfenden Kontinente mittlerweile zumindest um ein Zehntel verkleinert worden sein, um die Menschheit vor weiteren territorialen Konflikten und Hunger zu bewahren.

Nun mein Kind, ich wünsche Dir jedenfalls das Allerbeste und verbleibe hoffnungsvoll,

Dein Vater Sigismund