Democrazy!
von Franz Schandl
Große Hoffnungen setzte man einst auf die Demokratie, aber Demokratie bedeutet lediglich, dass das Volk durch das Volk für das Volk niedergeknüppelt wird. Man ist dahintergekommen,“ schrieb Oscar Wilde 1891 in seinem brillanten Essay Der Sozialismus und die Seele der Menschen (Zürich 1982, S. 29). Doch der Spuk ist nicht vorbei, er hatte zu Wildes Zeiten noch nicht einmal so richtig begonnen. Selbstbeherrschung, als Selbstzüchtigung schon richtig beschrieben, stand erst in den Startlöchern.
Heute ist sie sakrosankt. Dass man Markt und Geld, Konkurrenz und Kapital, Politik und Staat verwirft, mag angehen, solange die Demokratie unbescholten und unversehrt bleibt. Gegen alles darf man sein, nicht aber gegen die Demokratie. Mit der Anrufung der Demokratie ist es tatsächlich gelungen, diverse und oft widersprechende Projektionen zu assoziieren. Da mag nichts zusammen zu passen, aber alle fühlen sich aufgehoben und wohl. Wenn es um die Demokratie geht, scheinen alle Fans, also Fanatiker geworden zu sein. Applaus wird erwartet. Nichts wird so glorifiziert wie sie. Demokratie soll nicht als Problem, sondern stets als Losung und Lösung gedacht werden.
Als Luftschloss diverser Wünsche ist sie das unverbindlich Verbindliche der bürgerlichen Subjekte. Nirgendwohin wird soviel hineingepackt und hineingemogelt wie in die Demokratie. Noch stärker als zu Kelsens Zeiten trifft dessen Aussage zu, dass der Begriff einem politischen Modezwang folgt, den man „zu allen möglichen Zwecken und bei allen möglichen Anlässen benützen zu müssen glaubt, (es) nimmt dieser missbrauchteste aller politischen Begriffe die verschiedensten, einander oft sehr widersprechenden Bedeutungen an, sofern ihm nicht die übliche Gedankenlosigkeit des vulgär-politischen Sprachgebrauches zu einer keinen bestimmten Sinn mehr beanspruchenden, konventionellen Phrase degradiert.“ (Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen, 2. Aufl. 1929, S. 1)
Affirmation statt Historisierung
Selbst uns wohlgesinnte Initiativen und Leute schicken immer wieder Aufrufe und Aufsätze, die vom demokratischen Vokabular nur so strotzen. Im Wettbewerb der Demokraten wollen alle die besseren Demokraten sein. Alle sind dafür, ja sich vorzustellen, das nicht zu sein, ist unvorstellbar. Der Vorwurf, nicht demokratisch zu agieren, ist allerdings ebenso alltäglich und ergeht an die Adresse der jeweiligen Kontrahenten. Demokratie hat auf jeden Fall bejaht zu werden. Beschworen wird die Gemeinsamkeit der Demokraten, der Verfassungsbogen, das Grundgesetz. Hier hat Kritik partout nichts zu suchen. Bevor wir uns über die Demokratie äußern, haben wir uns einmal zu bekennen. Die Demokraten fungieren als ein mehrstimmiger Befangenchor der Macht. Gleich Mönchen singen sie einen Choral der Affirmation, diesmal halt zu einem weltlichen Gott, dafür aber an allen öffentlichen Plätzen.
Der Demokrat hat Mittel und Zweck verinnerlicht. Er zweifelt die Form, in der er sich bewegt nicht an, er kennt keine andere und er meint, wird er danach gefragt, dass es wohl nur noch diese eine geben darf. Das historisch Zugewachsene erscheint ihm als organisch eingefleischt. Wenn der Terminus des Totalitären überhaupt Sinn macht, dann dahingehend, dass die Demokratie die totalitärste Form der Herrschaft ist, eben weil sie keiner äußeren Zwänge mehr bedarf, weil Unterdrückung und Beherrschung geleugnet werden können. Es ist unsere Pflicht uns frei zu fühlen und es ist unsere Aufgabe das fortwährend zu benennen. Wir sind die freie Welt, sagt der Westen und all seine Parteigänger nicken eifrig.
Demokratie ist Berufungsinstanz und Lösungsmittel. Vademecum. Dauerlutscher. Es ist die „vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht“, stellte Karl Marx bereits in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ von 1875 fest (MEW 19:29), um gleich anschließend die deutschen Sozialdemokraten zu tadeln, dass „solcherart Demokratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten“ sich bewege. Daran hat sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil, die Vorurteile haben sich nicht bloß gefestigt, sie haben sich regelrecht verschärft. Wer sich dieser Community nicht verschreiben will, gilt als verdächtig und bekämpfenswert. Der Konsens unserer Zeit besteht darin, für die Demokratie zu sein. Müntefering sprach sogar von einer „Pflicht zur Demokratie“. Der abgewetzte Begriff findet permanent zu neuen Ehren. Fast alle sind ihm verfallen, getreu dem Motto des mittelalterlichen religiösen Mystikers Bernhard von Clairvaux: „Nicht im Begreifen liegt die Frucht, sondern im Ergriffensein.“
Demokratie wird keineswegs als Realisierungsform kapitalistischer Herrschaft gesehen, sondern als letztgültige Form sozialer Kommunikation. Immer und ewig anstrebbar. Die höchste Stufe menschlicher Zivilisation. Nach ihr kann nichts mehr kommen, glauben ihre Hohepriester: „Das Ideal der liberalen Demokratie ist nicht verbesserungsbedürftig“, schreibt allen Ernstes Francis Fukuyama (Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, S. 11). Wie all seine Vorgänger will sich auch dieser Herrschaftstypus als endgültiger präsentieren. Demokratie wird als ultimatives Resultat der Geschichte verstanden.
„Als Wertvorstellung hat die politische Demokratie keine Rivalen mehr“, doziert auch Paolo Flores d’Arcais (Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet, Berlin 1997, S. 7). In gewisser Hinsicht hat er sogar Recht, denn Demokratie ist zweifellos eine Vorstellung, also eine Inszenierung des Werts. Dazu meint er dann noch, dass „Demokratie nur eine Spielerfigur an(erkennt): den Bürger“ (S. 16). Auch da fällt ihm nicht auf, dass er ausschließlich eine spezifische Kategorie Mensch benennt und befähigt. Die Bürgerei ist mittlerweile überhaupt fester Bestandteil linker Rhetorik geworden.
Indes wäre Demokratie wie alles andere zu historisieren. Das historische Subjekt, das sie erkämpfte, war die Arbeiterbewegung, das historische Objekt, das sie ermöglichte, war die sich durchsetzende Herrschaft des Kapitals. Dass Demokratie und Kapital geschichtlich sozusagen eins sind, ziehen die meisten Linken nicht in Betracht. „Die Gleichzeitigkeit von Demokratisierung und kapitalistischer Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hat das politische Denken im 19. Jahrhundert in Verlegenheit gebracht“, schreibt Urs Marti in der Zürcher Zeitschrift Widerspruch (Nr. 55, S. 119). In Verlegenheit konnte so etwas aber nur bringen, wenn man diese beiden Entwicklungen partout auseinander halten will. Nicht zufällig kann Marti dann die obligate Gretchenfrage bloß so stellen: „Ökonomisierung der Politik oder Demokratisierung der Ökonomie?“ (ebenda, S. 123).
Dass die Gleichzeitigkeit auf eine Gleichartigkeit verweise, dieser verwerfliche Gedanke will den linken Demokraten gar nicht erst kommen. Dass Demokratie und Kapitalismus zusammenhängen, das darf in ihren Augen nicht sein. So erscheinen Wirtschaft und Politik wie ferne Parallelwelten, die eigentlich nichts miteinander zu tun hätten, außer dass sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort stattfänden. Seltsam. Die Gegenüberstellung einer formalen Demokratie mit einer wirklichen hat in der Linken eine unendliche wie unselige Tradition. Die übereifrigen Denkverbote, die als strikte Bekenntnisse zur sozialistischen Demokratie oder zum demokratischen Sozialismus auftreten, rühren möglicherweise aus den Schrecken des Stalinismus, auf keinen Fall aber aus den Anstrengungen kritischer Theorie. Hier gilt es jedenfalls die Demokratie von der Phrase zu lösen, sie zu einem handhabbaren Begriff zu machen, der jenseits des ideologischen Muster etwas taugt.
Demokratie als Kapitalismus
Den Kapitalismus nicht wollen, die Demokratie aber schon, geht nicht. Demokratie ist mit dem Kapitalismus untrennbar verknüpft, gehört zu seinen Formprinzipien ebenso wie die Diktatur, diese ungeliebte Schwester, für die heute niemand mehr offen einzutreten wagt, auch wenn sie aus jeder demokratischen Luke blickt. Was die Konkurrenz am Markt, ist die Demokratie in der Politik resp. im Staat. Demokratie fragt die Demokraten, was sie aus dem Sortimente der Politik kaufen möchten. Die Angebote werden als Waren formiert und durch die jeweilige Reklame präsentiert.
Demokratie ist eine politische Form des Kapitalismus. Sie entfaltet sich gemeinsam mit ihm, entpuppt sich nur auf seinem Boden. Was die Warensubjekte in der Ökonomie, sind die Staatsbürger in der Politik. Grundlage der Demokratie ist ein sachlich-rationales und formal-gleiches Verhältnis zwischen Menschen: „Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehn, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so dass der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willenakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Das Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- und Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, dass die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.“ (Karl Marx, MEW 23:99 f.)
Es ist übrigens auch der Markt, der die Demokratie aushält. Ihr gemeinsames Medium ist das Geld. Was in der Demokratie verhandelt wird, ist nichts anderes, stets geht es um dessen Aufbringung und dessen Verteilung. „Der Umkehrbeweis besteht darin, dass demokratisches Denken jeglicher Couleur von sich aus niemals auf die Idee kommt, die Ressourcen und den gesellschaftlichen Reichtum anders als in der Waren- bzw. Geldform mobilisieren und organisieren zu wollen; und dass somit seine vermeintliche Freiheitlichkeit und Humanität sich immer bewusstlos die Systemgesetze der modernen Warenform selber als harte Grenze setzt. Die Demokratie ist also ihrer Logik nach niemals ein mündiger Diskurs von gesellschaftlich selbst-bewussten Menschen über die Produktion und Verwendung des gemeinsamen Reichtums, sondern nichts anderes als der kollektive Götzendienst von gesellschaftlich bewusstlosen Fetischdienern, deren Diskurs lediglich liturgischer Natur ist, d.h. sich einzig und allein auf die Art und Weise der Exekution blinder Systemkriterien beziehen kann. Demokratie ist nicht das Gegenteil von Kapitalismus, sondern die Art und Weise, wie das kapitalistisch organisierte ‚Volk‘ sich nach kapitalistischen Kriterien mit blinder, selbstzerstörerischer Wut ‚selbst beherrscht‘.“ (Robert Kurz, Die Demokratie frisst ihre Kinder; in: Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein 1993, S. 18)
Demokratie kann nicht von der Marktwirtschaft, vom Kapitalismus, abgezogen werden. „Mit dem Alltäglichwerden der Ware-Geld-Beziehung mussten auch die zu dieser Beziehung gehörenden formalen Elemente alltäglich werden und in den ‚Besitz‘ eines jeden Menschen übergehen. Der moderne Mensch, dessen sämtliche Unternehmungen das Geld als die allgemeine Ware entweder voraussetzen oder zu ihrem Zwecke haben, weiß sich als Mensch immer schon innerhalb jener vom Staat garantierten Rechtsstruktur, die ihn frei und gleich macht, ohne dass ihm dies zu Bewusstsein käme.“ (Peter Klein, Demokratie und Sozialismus. Zur Kritik einer linken Allerweltsphrase, in: Marxistische Kritik, Nr. 7/89, S. 115) Demokratie mit anderen Inhalten zu füllen, ist zum Scheitern verurteilt. Das zeigten zuletzt auch alle Versuche der Basisdemokratie, die nie mehr als eine Karikatur der demokratischen Konvention gewesen ist. Demokratie ist dem Kapitalismus immanent, was umgekehrt bedeutet, dass sie auch mit ihm verschwinden wird.
Die Demokratie ist ein logisches Produkt des Kapitalismus, genauer eines ökonomisch prosperierenden Kapitalismus. Dagegen spricht auch nicht, dass die Demokratie erobert und erstritten werden musste. Sie konnte eben nur durchgesetzt werden, weil sie durchsetzbar gewesen ist. So gesehen erkämpfte die Arbeiterbewegung als die relevanteste soziale Bewegung des bürgerlichen Zeitalters die Demokratie nicht gegen den Kapitalismus, sondern für ihn und in ihm. Die Demokratie ist die Entsprechung formal gleicher Warensubjekte im politischen Sektor. Sie verbindet das konstante mit dem variablen Kapital gegen frühere Formen gesellschaftlicher Kommunikation. Demokratie ist eine bürgerliche Kategorie, ihr Betriebssystem ist der Markt.
Robert Kurz hat das schon vor zwanzig Jahren sehr prägnant und in kaum zu überbietender Deutlichkeit zusammengefasst: „Demokratie und Marktwirtschaft alias Kapitalismus gehören zusammen als die zwei Seiten einer Medaille, darin haben die offiziellen Demokraten gegen ihre linken Stiefbrüder zweifellos recht. Die offizielle Demokratie sagt mehr, als sie weiß, wenn sie Liberalität, Individualität und Marktwirtschaft positiv identisch setzt. Denn in der Tat: diese Freiheit ist die Freiheit, als Warensubjekt auf dem Markt kaufen und verkaufen zu können, und die Freiheit, über die institutionelle Regulation und über die Rahmenbedingungen des Kaufens und Verkaufens ‚verhandeln‘ zu können (Rechtssystem und Gesetze, Moderation warenförmiger Interessenvertretung, infrastrukturelle und soziale Transfers usw.); nicht jedoch die Freiheit, in einer anderen Gestalt als in der eines Warensubjekts (eines immerwährenden Verkäufers und Käufers) überhaupt ein Mensch sein zu können. Mit dem Verweis auf die Identität von Freiheit und Markt ist also implizit zugegeben, dass die demokratische Freiheit durch den Markt definiert und damit auch begrenzt ist. Deswegen ist es durchaus passend, zur besseren Kennzeichnung von ‚Marktwirtschaftsdemokratie‘ zu sprechen, um diese strukturelle Identität hervorzuheben.“ (Kurz, a.a.O., S. 18)
„Während die offizielle Demokratie Freiheit und Gleichheit auf die ihnen strukturell tatsächlich zukommende Sphäre der Zirkulation beschränkt, und die Kehrseite der Unterwerfung unter die Leiden der abstrakten Arbeit achselzuckend als unvermeidlich hinnimmt, wollten die linken Edeldemokraten stets widersinnig das Prinzip der Zirkulation auf die (betriebswirtschaftliche) Produktion ausdehnen, weil sie die strukturelle Identität nie begreifen konnten und das negative Moment der abstrakten Arbeitsdiktatur fälschlich der bloßen Subjektivität von ‚Kapitalisten‘ (‚Verfügungsgewalt‘, ein systemisch gesehen geradezu dümmlicher Ausdruck) zuschrieben statt der Strukturidentität des warenproduzierenden Systems.“ (Kurz, a.a.O., S. 19)
Diese Dimensionierung ist den Menschen nicht bewusst. Der freie Staatsbürger ist kapitalistisch konstituiert, er ist eine Instanz des Kapitals. Er ist Warenhüter, Arbeitskraftbesitzer, Käufer, Verkäufer, Rechtssubjekt, Staatsangehöriger. Als politische Person, als Demokrat, hat er all diese Interessen wahrzunehmen, ohne sie in Frage zu stellen.
Bestimmung als Selbstbestimmung
Was heißt Selbstbestimmung, wenn die Bestimmungen (Arbeit-Wert-Tausch-Markt-Geld) schon vorgegeben sind? Selbstbestimmung ist somit identisch mit Selbsbeherrschung. Demokratie meint auch dezidiert Herrschaft und nicht Herrschaftslosigkeit. Demokratie ist eine Herrschaftsform und nicht die Überwindung von Herrschaft. Doch um letztere geht es, um die Befreiung der Menschen aus beständiger Abhängigkeit und Unterwerfung, nicht um das Installieren und Funktionieren kapitalkonformer Strukturen des Politischen. Herrschaft sagt aus, dass die Menschen nicht Selbstzweck sind, sondern Mittel eines über sie herrschenden Inhalts, der als unhintergehbare Form verkleidet sich quasi als Natur setzt. Bürgerliche Exponate sind also nicht emanzipiert, sondern formatiert für die jeweilige Entsprechung.
Demokratie ist aber nur möglich, wenn die Selbstunterwerfung unter Wert und Arbeit, Markt und Geld, ein Niveau erreicht hat, wo kein äußerer Druck mehr nötig ist, weil der innere Druck ausreicht. Ein Zwang, der seine Äußerlichkeiten abgestreift hat, erscheint vielfach als zwangloser Zwang. Jederzeit kann er in die autoritäre Form, aus der er geboren wurde, umschlagen. Die gegenwärtige Toleranz ist primär Ausdruck der Irrelevanz radikaler Opposition. Leicht ist zu dulden, was so ungefährlich ist.
Der Rechtstheoretiker Hans Kelsen schreibt: „Demokratie ist die Idee nach einer Staats- oder Gesellschaftsform, bei der der Gemeinschaftswille, oder ohne Bild gesprochen, die soziale Ordnung durch die ihr Unterworfenen erzeugt wird. Demokratie bedeutet Identität von Führer und Geführten, von Subjekt und Objekt der Herrschaft, bedeutet Herrschaft des Volkes über das Volk.“ (Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 14)
Indes: Warum muss das Volk sich beherrschen, wo es doch herrscht? Warum hebt diese Herrschaft sich nicht selbst auf? Wozu beherrschen die Herrschenden sich? Warum erzeugt diese Ordnung partout Unterworfene? Das alles kann nur beantwortet werden, wenn wir den Rechtspositivismus beiseite lassen und eine äußere Instanz vermuten, die weiterhin nach Herrschaft verlangt. Wir sehen diesen Zwang durch die Wertform gesetzt. Das Abgefeimte der Demokratie besteht darin, dass die Unterworfenen sich selbst unterwerfen dürfen und dass sie diese fiktive Souveränität auch noch als Selbstbestimmung halluzinieren. Der freie Wille ist ja etwas, das nicht der oder die Einzelne aus sich entwickelt, sondern der in ihnen gleich einem Brutkasten produziert wird. Wenn Staat und Markt kopulieren entstehen viele kleine Subjekte. Dass zuzugeben, fällt den ichversessenen Nichtichen der Staatsbürger freilich nicht nur schwer, es kommt ihnen gar nicht in den Sinn.
Der Demokrat muss gelten als Selbstführer und Selbstverführer. Er hat sein Außen deswegen minimiert, weil sein Innen so stark oder selbständig ist, dass er jenes als Mittel zum Zweck nicht obligatorisch benötigt. Er gehört sich. Er befehligt sich. Im Demokraten vollzieht sich die direkte Einlagerung der Herrschaft ins Subjekt. Und die Demokratie ist das erste Herrschaftsverhältnis, in dem es flächendeckend gelingt, die Herrschaft selbst zu verstecken, sie unsichtbar zu machen. Sie gleicht der „invisible hand“, und zweifelsfrei ist das kein Zufall, denn genau dort liegt ihr Ursprung. Demokratie macht „immer mehr Menschen herrschaftsfähig“ wie Panajotis Kondylis hellsichtig behauptet. (Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992, S. 16) Sie stehe für soziale Mobilität und flexible Hierarchien. In der Demokratie verflüssige sich die Herrschaft selbst, überwinde ihre starren Formen, zeichne sich aus durch Geschmeidigkeit.
Volk und Staat
Regelrecht ins Gesicht schreit uns der Begriff seine Definition. Demokratie, so lernt es heute jedes Kind, heißt Herrschaft des Volkes. Da wir sowohl gegen die Herrschaft als auch gegen das Volk sind, warum sollen wir ausgerechnet für die Volksherrschaft sein? Demokratie meint ja selbstredend die Selbstbeherrschung der sozialen Rollenträger in der Wahrnehmung ihrer Interessen als Charaktermasken. Sie haben die objektiven Zwänge von Wert und Geld völlig aufgesogen, können sich selbst ohne diese gar nicht mehr vorstellen. Selbst jene, die es erkennen, handeln nicht viel anders als jene, die völlig ahnungslos durchs Leben eilen.
Das Volk beherrscht sich also selbst. Aber wozu muss es sich eigentlich beherrschen? Und warum gerade das Volk? Fragen wie diese finden gleich gar keinen Eingang, obwohl sie dezidiert die spannendsten wären. Volksherrschaft ist eine zutiefst entlarvende Formulierung. Die Nomenklatur verrät, worauf sie hinaus will: Nicht auf die Überwindung der Herrschaft, sondern auf die absolute Identifizierung aller Staatsbürger genannten Volksglieder mit ihr. Das Volk ist auch nicht als Gemeinschaft oder gar Kommune identifizierbar, sondern als nationale Formierung bürgerlich kapitalistischer Gesellschaften in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit. Jenes ist als Staatsvolk zu denken, dessen Exemplare als Staatsbürger auftreten und den jeweiligen Staatszielen unterworfen sind.
„In der Demokratie erscheint der Staat als solcher als Subjekt der Herrschaft.“ (Kelsen, a.a.O., S. 11) Das spüren alle bürgerlichen Exponate, aber eben nicht als obligate Norm des Faktischen, sondern höchstens dann, wenn die Individuen durch Renitenz und Abweichung Repression erfahren. „Die (…) Konsequenz erfordert, dass, weil die Staatsbürger nur in ihrem Inbegriff, dem Staat frei sind, eben nicht der einzelne Staatsbürger, sondern die Person des Staates frei sei.“ (Ebenda, S. 12) Wie dürftig selbst diese Freiheit ist, auch das ist bei Kelsen nachzulesen. Die Freiheit reduziert sich auf das politische Recht und dieses auf das Stimmrecht (S. 25). Der österreichische Rechtspositivist Hans Kelsen kann auch heute noch als der wohl klügste und fundierteste Theoretiker der bürgerlichen Demokratie und des Parlamentarismus gelten. Der nüchterne Rechtspositivist war da den linken Ideologen überlegen. Mit dem kruden Satz „Denn soziale Realität ist Herrschaft und Führerschaft“ (S. 79), vollzieht Kelsen allerdings eine Flucht ins Ontologische.
Demokratie heißt Staat, nur er kann sie mithilfe von Recht und Politik und Steuern garantieren. Demokratisierung führt immer auch zur Verrechtlichung des Lebens. Mehr Demokratie bedeutet stets mehr Recht(e) und somit noch mehr Staat. Niemand könnte z.B. seriöserweise angeben, wie Demokratisierung ohne Bürokratisierung gehen soll. Auf diese Dialektik von demokratischer Organisation des Staates und autokratischer Organisation der Verwaltung hat bereits Kelsen hingewiesen, die Bürokratie könne kein Selbstverwaltungskörper sein (S. 73). Demokratie und Bürokratie gehören zwar zusammen, aber die Koordination erfordert eine ganz bestimmte Ordnung. Aber das wäre ein eigenes, nicht uninteressantes Kapitel betreffend die bürgerliche Herrschaft.
Entrechtlichung und Entbürokratisierung der Politik sind in diesem System lediglich als Kommerzialisierung zu haben. Darin liegt auch die Tücke der direkten Demokratie, in ihrer nunmehr unbürokratischen Auslieferung an Geschäft und Geld. Freiheit führt diesbezüglich von der Formalisierung zur Informalisierung der Abhängigkeiten. Plebiszite etwa sistieren die letzten Reste der Autonomie der Politik, da die Parteiapparate zugunsten kulturindustrieller Praktiken völlig entmachtet werden. Die Wähler sind in diesem Fall überhaupt nur noch Durchlauferhitzer von Medienkampagnen. Aber so weit denken unsere Direktdemokraten nicht, weil sie pausenlos mündige Bürger im Kopf haben. Direkte Demokratie ist jedoch die Forcierung der niedrigsten Instinkte, egal nun, ob man das möchte oder nicht.
Politik wäre in diesem Fall nun nicht mehr bloß eine (oft auch widerspenstige) Dienerin der Marktwirtschaft, sondern sie selbst wäre zu einer Performance des Marktes geworden. Wer jetzt meint, dass sie das bereits ist, liegt so daneben nicht; mit dem Ausbau der direkten Demokratie werden jedenfalls die letzten Bastionen des Repräsentativsystems gesprengt. Solange Staat und Gesellschaft halbwegs austariert werden, sind die Abhängigkeiten, wenn auch nicht ausgeglichen, so zumindest polymorph. Demokraten können sich aussuchen, ob sie für mehr Kommerzialisierung oder für mehr Bürokratisierung eintreten. Gegen beides gleichzeitig zu sein, geht hingegen nicht, das würde den Rahmen sprengen. Demokratie meint nicht zu entscheiden, was man entscheiden will, sondern zu entscheiden, worüber man zu entscheiden hat. Es ist auch unmöglich, staatliche Instanzen anzurufen, ohne sie zu affirmieren. Erst eine freie Assoziation stünde jenseits von Demokratie und Bürokratie, jenseits von Konkurrenz und Kommerz.
Demokratie und Diktatur
In der gängigen Vorschrift sind Demokratie und Diktatur antagonistische, einander ausschließende Gegensätze. Diese Scheidung ist aber letztlich eine methodisch willkürliche, werden doch einige wenige Differenzen des politischen Sektors (Mehrparteiensystem, Wahlmöglichkeiten, taxative Grundrechte) herausgegriffen, an deren Vorhandensein man Demokratie positiv benennt, bzw. an deren Fehlen man die Diktatur der Verurteilung preisgibt. Dieser Code ist ungenügend, da er überhaupt nicht die spezifischen Grundlagen, aktuellen Standards und historischen Bedingungen berücksichtigt. Demokraten laufen so mit ihren Schablonen durch die Gegend, klagen Abweichungen an und fordern Interventionen ein.
Charakterisierungen als „demokratisch“ oder „diktatorisch“ haben meist agitatorischen, nicht analytischen Gehalt. Sie verklären mehr, als sie aussagen. Aber sie sagen, wogegen und wofür man zu sein hat, sind also ideologische Etiketten. Es geht primär darum, andere Niveaus und missliebiges Verhalten zu diskreditieren. Diktatur ist heute eindeutig zu einer denunziatorischen Kategorie geworden. Das Maßband dabei ist stets „unsere Demokratie“ und der gesamte Rattenschwanz ihrer sogenannten Werte. Die imperialistische Verwünschung vermisst die Welt, sie schießt aus vollen Rohren und strahlt aus allen Kanälen. Passt etwas ins Bild, ist seit einigen Jahren von „Demokratiebewegungen“ die Rede. Nach diesen degradierenden Gesichtspunkten müssen alle anderen als unterentwickelt gelten. Doch an solch primitiver Gegenüberstellung hängt das gesamte Herrenmenschentum der westlichen Welt, Wissenschaft und Politik, Medien und Kultur sind darauf programmiert.
Mit der Inflationierung seiner Demokratie versucht der weiße Mann ein letztes Mal durchzustarten. Das Projekt hat unmittelbar durchaus Chancen, weil die meisten Subalternen und Renitenten, nichts anderes vertreten, sie unbedingt dabei sein möchten und mit jenem weißen Mann gleich ziehen wollen. Bewegungen rund um den Erdball schreien in erster Linie immer noch und immer wieder „Wir auch!“. Dass sich das nicht mehr ausgeht, ist eine andere Sache, aber auch wenn es sich ausginge, wäre es eine Katastrophe.
Anstatt so viel über Demokratie zu schwätzen, wäre die (politische) Kommunikation in ihrer gesamten Dimension, also sowohl in ihrer konstitutionellen Immanenz als auch in ihrer emanzipatorischen Transzendenz zu diskutieren. Da ginge es um Hierarchie und Autonomie, Vollzug und Bürokratie, Bürger und Menschen, Kunden und Individuen, Geschäft und Korruption, Erledigung und Entledigung, Basis und Kompetenz, formelle und informelle Macht etc. – Auch das jeweilige Zusammenspiel aus Partizipation, Transparenz und Effizienz wäre ins Zentrum zu rücken, denn dieses wird selten in ihrer Bezogenheit zur gesellschaftlichen Totalität debattiert, sondern losgelöst als zu korrigierender Einzelfall behandelt.
Analysen haben Postulate, die meist nur Vorurteile sind, zu ersetzen. Demokratie und Diktatur sind nicht mehr als idealtypische Frequenzen bürgerlicher Herrschaft. Die scharfe Trennung ist aufzulösen. – Es ist jeweils zu fragen wie Entscheidungen fallen, sich Verwirklichungen vollziehen, vor allem aber wie vielfältig Unterdrückung ausstaffiert ist. Dass ausgerechnet die Demokratie keine Diktatur ist, ist sowieso eines der glänzendsten Staatsbürgermärchen. Die Diktatur ist die Reserve der Demokratie, wie die Demokratie das Reservat der Diktatur. Weil wir gegen die Diktatur sind, sind wir auch gegen die Demokratie.
Spielen wir es an einem Beispiel durch. Vielleicht sollte man ganz hinterhältig nach dem gesellschaftlichen Charakter ökonomischer Einheiten fragen. Ist das nun eine Demokratie, wenn das selbstbestimmte Kommando über andere als Diktatur zu sich kommt? Warum ist der Betrieb einer Demokratie kein demokratischer Betrieb? Da funktioniert doch etwas nicht, oder funktioniert es gerade deswegen? Natürlich letzteres, und außer den Wirtschaftsdemokraten und Selbstverwaltungsfetischisten wissen das auch alle. Zu rekapitulieren wäre, dass Partizipation und Autokratie sich nicht ausschließen, sondern spezifische Ensembles bilden. Demokratie und Diktatur sind in jeder bürgerlichen Herrschaft verzahnt und verkettet. Herrschaftskritik müsste sich schlau machen, wie. Das ist auf jeden Fall erkenntnisreicher als das ständige Etiketten-Kleben.
Freilich sind Betriebe und Büros jene Orte, wo erwachsene Menschen den Großteil ihres Lebens verbringen, wo sie dienen müssen, um leben zu können. Das Bürgerrecht verflüssigt sich dort schnell in Entlassung und Degradierung, Mobbing und Zurechtweisung. Dass Arbeit und freie Aktivität etwas anderes sind, gehört zu unseren Grundüberzeugungen. Auf jeden Fall ist man angestellt, um anzustellen, wozu man angestellt ist. Betriebe und Büros sind die elementaren Räume der bürgerlichen Lebensbestimmung, nicht die Wahlurne, die politische Partei oder irgendeine Zivilgesellschaft.
Die immanente Dialektik von Freiheit und Autorität wäre also offen zu legen. Die bürgerliche Freiheit bedarf der Unfreimachung ihrer Objekte, nur so kann sie uneingeschränkt über sie verfügen, seien es Arbeitsgegenstände oder Arbeitskräfte. Das kommerzielle Unternehmen, jenes eigentümliche Molekül, in dem die Basiskategorien der Produktionsweise (abstrakte Arbeit, Wert, Ware) grundgelegt sind, ist die absolute Negation der Freiheit. Der höchste ideelle Wert der bürgerlichen Gesellschaft, die Freiheit, wird in seiner typischsten Praxisform, dem bürgerlichen Betrieb, obsolet. „Der Fabrikkodex, worin das Kapital seine Autokratie über seine Arbeiter, ohne die sonst vom Bürgertum so beliebte Teilung der Gewalten und das noch beliebtere Repräsentativsystem, privatgesetzlich und eigenherrlich formuliert, ist nur die kapitalistische Karikatur der gesellschaftlichen Reglung des Arbeitsprozesses, welche nötig wird mit der Kooperation auf großer Stufenleiter und der Anwendung gemeinsamer Arbeitsmittel, namentlich der Maschinerie.“ (Karl Marx, MEW 23:447)
In dieser Karikatur der Kooperation allerdings leben wir. Der bittere Begriff des unselbständig Erwerbstätigen offenbart mehr, als seinen Erfindern je bewusst gewesen ist. Er streicht nämlich den „freien Bürger“ entschieden durch. Er verrät die Unselbständigkeit der Betroffenen, womit selbstverständlich nicht gesagt ist, dass die Selbständigen sind, was sie von sich behaupten. Selbständigkeit und Markt sind letztlich unvereinbar. Markt bedeutet immer Abhängigkeit von einer besonderen Erwerbsform. Kurzum, man muss kaufen und verkaufen können. Wenn nicht, wird es ganz eng für die Leute im Gehäuse ihres Waren- und Geldsubjekts. Demokratie hat die Menschen eben nicht in Selbständigkeit und Mündigkeit entlassen, sie hält sie vielmehr in Unselbständigkeit und Hörigkeit gefangen.
Demokratie und Diktatur sind keineswegs sich wechselseitig ausschließende Epiphänomene der Kapitalherrschaft. Diktaturen waren so Vorläufer, die erst durchsetzten, was in den Demokratien obligat geworden ist: die Unterwerfung unter Arbeit, Fabrik, Markt, Bürokratie, Staat, Geld. Vergessen wir nie die tote Gewalt, auf der all diese Errungenschaften, so sie denn welche sind, bauen. Die Diktatur ist nicht der Gegensatz, sondern lediglich die immanente Kehrseite der Demokratie: „Da die Demokratie nichts weiter als eine verinnerlichte und verrechtlichte Diktatur des irrationalen kapitalistischen Selbstzwecks ist, kann sie auch jederzeit wieder aus sich heraus in offen terroristische Verhältnisse umkippen, sobald die ‚schöne Maschine‘ aufhört zu funktionieren oder in ihrem Lauf gestört wird.“ (Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt am Main 1999, S. 580) Wir haben keine offene Diktatur, weil die abstrakten Subjekte in ihrer Selbstdisziplin die Herrschaft durch ihre Handlungen stützen wie schützen.
Aber ist nicht in der Demokratie die Gewalt verschwunden? Im Gegenteil, sie ist so stark, dass sie sich wenig demonstrieren und dekorieren muss. Zumindest in den Inländern der westlichen Hemisphäre, von den Grenzen und den Ausländern reden wir hier nicht. Was den Leuten hierzulande aufgebürdet wird, das erledigen sie zumeist und zuhauf von selbst. Passiv und Aktiv fallen in eins. Was mir angetan wird, tue ich selbst. Willigkeit triumphiert. Gerade in der Demokratie ist das Gewaltmonopol am deutlichsten realisiert worden, mehr als in jeder Diktatur, die ja aufgrund der Repression andeutet, dass das Monopol der Gewalt gefährdet ist, Selbstbeherrschung nicht reibungslos funktioniert, sondern zusätzlich durch äußeren Zwang motiviert und gefestigt werden muss. Die sogenannten Diktaturen offenbaren trotz martialischem Getöse somit ihre Schwächen. Ihre prekären Herrschaftsmechanismen laufen alles andere als geschmiert. Aber seien wir sicher, dass die geschlossene kapitalistische Demokratie die offene kapitalistische Diktatur in nicht nur einer ihrer Abstellkammern versteckt wie parat hält.
Evidente Krise
Fast alles, was die Demokratie trägt (im Sinne jetzt von beinhalten wie konstituieren), ist in Verruf geraten: Parteien, Politiker, Bürokratien, der Parlamentarismus, das Repräsentativsystem, die Gesetzgebung, der Proporz. Bejaht, und das dafür umso frenetischer, wird die leere Hülle, die anzubetende Chiffre. Das soll aber nicht auffallen, so auffällig es auch ist. So ist die Krise der Demokratie evident. Die Demokraten spüren das auch, aber erkennen tun sie es noch nicht.
Der Populismus hat gegen den herkömmlichen, von Funktionären und Mandataren geprägten Parlamentarismus die besseren Argumente, da er die Demokratie zu ihrem Ende denkt. Zu Recht beruft er sich auf das Volk und entzieht so denen, die sich auch auf dieses berufen, die Basis. Der Populist ist der in doppeltem Wortsinn lauterere Demokrat, da er ungeschminkt den alltäglichen Wahnsinn zum politischen Ausdruck bringt, in seiner reflexhaften Reflexionslosigkeit auf jede Abgehobenheit verzichtet. Hirn aus, Schnabel auf, ab die Post! „Ich habe keine Angst vor dem Volk“, sagte der selige Jörg Haider, „daher bin ich für einen weiteren Ausbau der Direkten Demokratie.“ (Befreite Zukunft jenseits von links und rechts. Menschliche Alternativen für die Brücke ins neue Jahrtausend, Wien 1997, S. 99) „Demokratie hält die Demokraten auf Trab, und die Demokratisierung der Demokratie ist unser Anliegen“, so derselbe (ebenda, S. 46). Man sollte das ernst nehmen, und nicht als Demagogie abtun.
Populismus ist Demokratismus. Der Populismus ist seinem Wesen nach nicht der Gegner der Demokratie, sondern ihre Konsequenz. So wie der Krieg die Fortsetzung der Politik, so ist der Populismus die Fortsetzung der Demokratie.
Das merkt man den Wahlkämpfen und Kampagnen auch an. Jede dieser demokratischen Prozeduren folgt in zunehmender Vehemenz den Gesetzen kulturindustrieller Inszenierung. Stimmungen werden produziert und Stimmen werden akkumuliert. Es funktioniert wie Verkaufen und Einkaufen. Ohne große PR-Apparate läuft nichts. Wer welche Summen aufstellen kann, das ist dabei eine nicht zu unterschätzende Frage. Die moderne Demokratie giert nach kommerzialisierter Abstimmung, auch in Form von Rankings und Meinungsumfragen. Selbst die divergierenden Interessen sind inzwischen weitgehend subordiniert.
Kritik hingegen müsste nach der Zurichtung der Stimmung fragen, woher sie rührt, wohin sie möchte. Kritik kann Maß, Anzahl, Quantum nicht als entscheidende Kriterien zulassen oder gar billigen. „Was die Leute wollen, sollen sie auch kriegen“, ist schlichtweg inakzeptabel, sie haben nicht zu wenig, sondern schlicht zu viel davon. Vielmehr geht es darum, die Menschen gegen das Volk in Stellung zu bringen. Wer sich dem Willen des Volkes unterwirft, hat schon verloren. Wir müssen uns nicht hin zum Demokraten emanzipieren, sondern vom Demokraten weg. Demokratiebewegungen und Demokratiepolitik verraten das Neue stets an das Alte. Kein schöner Gedanke, der durch die Demokratie nicht in den Schmutz gezerrt wird.
Muss die Kulturindustrie täuschen, so wollen viele Linksdemokraten tatsächlich getäuscht werden, um ja nicht enttäuscht zu sein. Sie glauben der Demokratie aufs Wort, sie ist das Unschuldslamm der Geschichte. Exemplarisch sei hier der neueste Band von Michael Hardt und Antonio Negri erwähnt, der ja ganz deutlich sagt, was sie wollen: Demokratie! Wofür wir kämpfen (aus dem Englischen von Jürgen Neubauer, Frankfurt/New York 2012). Es ist der politische Jargon des Konventionellen, der förmlich aus den Zeilen rinnt: Subjekt, Politik, Demokratie, Verfassung, Bürger, Nachhaltigkeit. Das Plädoyer „Für eine plurale Politik“ (S. 74) darf da ebensowenig fehlen wie das eifrige Bekenntnis zu den „Demokratiebewegungen“ (S. 73). An Gewaltenteilung und nicht Gewaltenabschaffung ausgerichtet, gelte es „einen Verfassungsprozess anzustoßen“ (S. 14). Da ist nichts Neues unter der Sonne. Kommunismus und Militanz sind nun in der Demokratie ersoffen.
Hardt/Negri gleichen demokratischen Versicherungsvertretern, wenn sie schreiben: „Geld ist ein Instrument zum Austausch von Waren, dem Schutz von Ersparnissen und der Vorsorge für Unfälle, Katastrophen und das Alter“ (S. 83), das freilich „als Instrument der Akkumulation verboten werden sollte“ (ebenda). Immer wieder geht es um „die Möglichkeiten einer neuen partizipativen Demokratie“ (S. 48). Der restaurierte Staatsfetischismus nennt sich dann auch noch „Paradigmenwechsel“ (S. 58). Wie viel Naivität darf man solchen Großtheoretikern und ihren Anhängern durchgehen lassen? Es ist beschämend wie jemand Alternativen zum Kapitalismus entwickeln will und dabei pausenlos die abgestandenen Phrasen der Herrschaft rezitiert. Die Mottenkiste macht mobil. Von kategorialem Bruch keine Spur. Dieses Denken ist absolut befangen. „Gebt die Fackel weiter“ (S. 7), fordern die Autoren. Löscht sie endlich aus, die Fackel, sagen wir.
Abnabelung
Es ist schon crazy: Nach zweihundert Jahren Demokratisierung wirkt diese auch heute noch als linke Zauberformel. Demokratisierung ist jedoch ein Projekt eines aufstrebenden und prosperierenden Kapitalismus gewesen. Nicht mehr und nicht weniger. Die Befriedigung in den Demokratien erfolgte auch ganz klassisch über Brot und Spiele. Selbstverständlich in kapitalistischer Form, als Waren von Industrie und Kulturindustrie. Von der Demokratie ist nichts anderes zu erwarten als sie bisher bereits geboten hat. Eher weniger, weil der Kapitalismus zusehends an seine Grenzen stößt und die Zeit des großen Fressens vorbei ist. Die virtuelle Fütterung wird sie nur bedingt ersetzen können, wenngleich man des Öfteren erstaunt ist, was Surrogate zu substituieren vermögen.
Die Krise der Demokratie ist eine fundamentale. Es ist davon auszugehen, dass ihre besten Tage Vergangenheit sind und trotz gegenteiligem Getöse die Absetzbewegungen größer werden. Vor allem die Politikverdrossenen sind ein Indiz. Der Glaube ist erschüttert, die Form marod. Emanzipation ist endgültig von Demokratie abzunabeln, will sie nicht an ihr ersticken. Transformatorische Theorie und Praxis hat sich nicht an ihr zu orientieren, sondern gegen sie zu positionieren.
Wir wollen also keine Demokratie reformieren, retten oder gar neu erfinden. Wir setzen auch nicht auf Zivilgesellschaft, die Etablierung von Bürgeridentitäten oder gar auf eine Radikalisierung der Demokratie. Letzteres erledigt hierzulande H.C. Strache. Demokratie ist auch kein „unvollendetes Projekt“, sondern eine endende Form, auf keinen Fall eine „kommende“ (Derrida). Nicht die Verteidigung der Demokratie steht an, sondern ihre Überwindung. Dieses Geschäft betreiben zweifellos auch Rechte und Obskuranten. Aber das ist kein Grund, davon abzulassen. Denn die wesentliche Frage ist, wohin die Reise geht. Die Zeiten der Andacht sind vorbei. Wir haben uns des gesamten bürgerlichen Universums zu entledigen.
Natürlich gilt es auch zukünftig Partizipation, Transparenz und Effizienz spezifisch auszutarieren, aber das ist dann jeweils konkret zu bestimmen. Die Folie dafür wird keine Demokratie und somit auch kein Markt und kein Staat sein.