Artpop

von Roger Behrens

Lady Gaga – schon der Name gilt als Programm: Eine verrückte, durchgeknallte, tolle, irre, wilde Frau, die sich trotzdem als ehrbare, vornehme Dame anreden lässt. Charakterisieren soll das die Doppelfigur von vermeintlich reflexiver Selbstironie und ironischer Selbstreflexion, nach der die Maske des Stars geformt ist: Eine starke Persönlichkeit, die mit jeder Bewegung, jeder Geste und jeder Performance, so sehr sich darin auch Verzweiflung, Erbärmlichkeit und Selbsterniedrigung spiegeln mögen, zu einer noch stärkeren Persönlichkeit mutiert. So ist bereits der Name eine Verkleidung, beflügelt durch krude Aufstiegsphantasien: schon Ende des 19. Jahrhunderts bevorzugten weibliche Angestellte unterer Schichten als „Lady“ angesprochen zu werden; in der popkulturell restringierten Alltagssprache hat sich mithin in einer absonderlichen Dynamik von Ab- und Aufwertung durchgesetzt, die auf den reizenden, tanzenden, begehrlichen etc. Körper reduzierte Frau als „Lady“ zu titulieren; die Anrede „Lady“ verleiht der Prostituierten in ihrem würdelosen Job wenigstens die Illusion von Würde. Auch der Name Lady Gaga ist solche soziale Mimikry, und mehr noch: als Etikett einer fixen Idee des lebendigen Stars, als Emblem einer zur Künstlerin stilisierten Figur fungiert der Name überdies als perfektionierte Strategie der Mode, Schein und Sein, Subjekt und Objekt wie ein Vexierbild changieren zu lassen.

Insofern ist der Name tatsächlich Programm, nämlich Vorschrift. Und das Gesamtpaket, das die 1986 geborene US-Amerikanerin Stefani Germanotta als Lady Gaga zu verkörpern sich zum Beruf gemacht hat, ist gleich ein ganzes Bündel an Vorschriften, die, wie bei popkulturindustriellen Produktionen dieser Größenordnung üblich, nichts dem Zufall überlassen und strikt der Logik des Marktes folgen. So war es schon mit Marilyn Monroe, James Dean und Elvis Presley, so war es auch mit Jannis Joplin und Jimi Hendrix, so war es mit Pink Floyd und den Sex Pistols. So war es schließlich mit Michael Jackson, Madonna, Metallica und Nirvana, mit Pink und Eminem, mit Britney Spears und Christina Aguilera. Und so ist es nun mit Lady Gaga. Das Neue an ihr ist indes: dass nichts neu ist – und eben das permanent hysterisch überboten wird. Aus der kulturökonomisch bewährten Gleichung „famous for being famous“ macht Lady Gaga die hypertrophe Masche „famous for being famous for being famous for being famous …“ – sozusagen ein popsymbolischer Leerlauf, die hektische Hamsterradversion von Gertrud Steins bedächtig-meditativem Mantra „Rose is a rose is a rose is a rose“ („Sacred Emily“, 1913). Selbstverständlich hieß das Debüt-Album von 2008 „The Fame“. Dass das Time-Magazin Lady Gaga 2010 zur wichtigsten Künstlerin der Welt wählte, erscheint dann nur noch als reine Formsache.

Was vor einem halben Jahrhundert als Pop Art begann, kulminiert nun im „Artpop“. So heißt das neue Album von Lady Gaga, erschienen im November 2013. Fünfzehn Songs sind zu hören, die das Management schon im Vorwege als „wahnsinnig großartige Aufnahmen“ anpries; tatsächlich ist die Musik brillanter Durchschnitt, gefällige Konsens-Tanzmusik, gut und aufwändig produziert (u. a. mit im Team: David Guetta und Will.i.am). Die Songs heißen „Aura“ oder „Sexxx Dreams“ oder „Swine“ oder „Fashion!“ oder „Dope“. Und zum Schluss gibt es auch noch brav „Applause“. Inhaltlich wird mit vermeintlich brisanten Themen kokettiert: hier ein bisschen Genderkritik, dort ein bisschen Konsumkritik, manchmal auch beides zusammen plus dem obligaten, allgemeinen Toleranz-Credo, ohne das kein einziger Auftritt über die Bühne geht: „Lasst sie machen, was sie will!“ hatte Lady Gaga gerade neulich Miley Cyrus mit deren Nacktaufnahmen verteidigt.

Die Musik schafft einen Raum, in dem Fans und Feuilleton in immer wieder anderen Kostümen, aber stets derselben Rolle, einen Spleen nach dem anderen vorgeführt bekommen: Ein Kleid aus rohem Fleisch, ein angemalter Schnurbart, Straps und Mieder, eine obskure Perücke etc. Wie die Musik einen einfallslosen Strom an Einfällen bietet, so sind auch die Videos als bilderarme Bilderflut gestaltet: unzählige Schnitte, unzählige Variationen des Immergleichen. Die Produktionen waren schon High Definition, als es High Definition noch gar nicht gab. Die Bühne solcher in jedem Detail hochauflösenden wie hochaufgelösten Inszenierungen ist virtuell unbegrenzt (selbst wenn es wie im Clip zu „Telephone“ ein Gefängnis ist) und schafft zugleich die Imagination konkreter, „realer“, greifbarer und gelebter Unmittelbarkeit (und wieder: selbst wenn es wie im Clip zu „Telephone“ ein Gefängnis ist). „Showbusiness“ bekommt bei Lady Gaga eine wirkliche Bedeutung: das „Große Geschäft“ der Pop Art wird in der surreal-banalen Verdrehung des Artpop zur totalen Ökonomie des Zeigens, des Vorführens. Indes: die Welt, die hier vorgeführt wird, ist kein sozialer Gegenentwurf mehr, wie ihn die Popkultur bisher in allen möglichen Versionen von subversiv bis reaktionär und naiv anbot, sondern ein affirmativer Idiotismus, eine hyperventilierende Feier des Pseudoindividuums.

Pop Art war als der letzte Versuch, Kunst in Lebenspraxis zu überführen, Avantgarde; als revolutionäres Projekt löste sie sich in einer Pluralität von Kulturen und Subkulturen auf, die zumindest temporär die Illusion vermittelten, dass dem Kapitalismus mit seiner eigenen Logik ein Schnippchen geschlagen werden könne: das versprach Pop als Lebensweise, als Lifestyle. Im Produkt Lady Gaga erscheint der Kapitalismus selbst als letzte Avantgarde; es ist der Fetischcharakter der Ware ohne jedes Geheimnis. Lady Gaga repräsentiert keine Lebensweise mehr, keinen Lifestyle, keinen Stil – das Produkt Lady Gaga ist nur noch der reine Ausdruck, Reklame für die Reklame: ein Mythos ohne Mythologie. Was als Artpop firmiert, ist keine Kunst, kein Pop, und vor allem ist Lady Gaga keine Ikone.

Brüskiert oder begeistert wird immer wieder darauf hingewiesen, wie gut Lady Gaga das postmodern genannte Spiel mit Oberflächlichkeit beherrscht. Ihre ästhetischen Strategien müssten jenseits von Fake und Authentizität, jenseits des Schönen oder Erhabenen, jenseits von Fakten und Fiktionen verstanden werden. Tatsächlich ist das aber kein Spiel, keine Ästhetik der Freiheit, sondern eine Überreizung des Obszönen, Ordinären, Pornografischen. Und streng genommen ist das nicht einmal auf den Begriff einer Ästhetik zu bringen: Hier geht es nicht um Geschmacksurteile, geschweige denn um Erkenntnis und Wahrheitsgehalt, sondern um das bloße Wohlgefallen. Aber Wohlgefallen nicht an dem ohnehin Gefälligen, sondern am Abstoßenden, Widerwärtigen, Entwürdigenden. Was Herbert Marcuse vor fünfzig Jahren in seinem „One-dimensional Man“ als „repressive Entsublimierung“ bezeichnete, ist hier unumwunden zum Prinzip einer Pseudoästhetik erhoben: eine auf Hochglanz gebrachte Gewaltverherrlichung.

Was den Pop einst in seinen subversiven Bemühungen vom Mainstream unterschied, war der Bruch mit der affirmativen Ästhetik, die Anstrengung, den ideologischen Schein des Ästhetizismus zu durchbrechen; Subversion hieß dabei: Irritation der Hör- und Sehgewohnheiten, Verunsicherung des Gewöhnten wie Gewöhnlichen, bisweilen sogar physisch provozierende Musik und schockierende Bilder.

Pop bewegte sich damit immer schon jenseits des modernen Gebots, die gute Kunst, das authentische Kunstwerk, wäre durch ein ausgewogenes, im Material vermitteltes Verhältnis von Form und Technik bestimmt beziehungsweise bestimmbar.

In den postmodernen achtziger Jahren entwickelte sich dies in zwei scheinbar ähnliche, faktisch aber diametral entgegengesetzte Richtungen: Formal-ästhetisch versuchte der Punk, der Postpunk, Hardcore etc., auch HipHop zum Teil, New Wave sowieso tendenziell die Strategien der Subversion zu erweitern, zu verstärken, zu verfeinern, zu verdichten, kurzum: zu radikalisieren; gleichzeitig übersteigerte sich Rock, Hardrock und schließlich Metal latent in einen technizistischen Brutalismus („schneller, lauter, härter“). Das generierte eine Bilderordnung, die mit kalkulierter Menschenverachtung allenthalben kokettierte (insbesondere Sexismus). Lady Gaga übernimmt diese Bilderordnung, verzichtet allerdings auf die akustische Brutalität (die freilich für das Gesamtkonzept von Metal – von Heavy Metal bis Black Metal – wichtig war und ist); stattdessen wird die technologisch aufpolierte Brutalität mit konventioneller Musik auf ein verträgliches Reiz-Reaktions-Niveau gedrosselt.

Vom Prinzip her ist das ein Grundmechanismus der modernen Spektakelkultur, die schon im 19. Jahrhundert entsteht und sich im 20. Jahrhundert als Kulturindustrie, schließlich bis zur postmodernen Kulmination dann als Pop fortsetzt. Mit dem visuellen Konzept knüpft Lady Gaga genau hier an: dass Jeff Koons, der mit Porno-Kitsch als Künstler berühmt wurde, das Cover des „Artpop“-Albums gestaltete, ist dabei ebenso konsequent wie die Musikvideos unter der Regie von Jonas Åkerlund, der bezeichnenderweise Anfang der Achtziger Schlagzeuger der Metalband Bathory war; berühmt wurde er dann 1997 mit dem Video zu „Smack My Bitch Up“ von The Prodigy. Für Lady Gaga drehte er „Paparazzi“ und „Telephone“. Der FAZ, die ihn als „Enfant terrible“ goutiert, soll er gesagt haben: „Mir geht es immer darum, etwas möglichst stark auszudrücken, und wenn ich Gewalt zeigen möchte, mache ich es eben so gewalttätig, wie ich kann.“ Und: „Sobald ich mitbekomme, dass eines meiner Videos diskutiert wird, denke ich: Mein Job ist getan.“ (FAZ, 28.2.2012)

Das sind auch die Grundsätze Lady Gagas wie überhaupt das Credo der Creative Industries: Dass der Job getan ist, wenn das Produkt nur für genügend Aufmerksamkeit sorgte, verweist die Ökonomie des Zeigens zurück auf die kruden Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie der Arbeit. Und auch das ist Programm: das Produkt Lady Gaga funktioniert ja nur, wenn die Rolle Lady Gaga funktioniert, wenn genügend Images ins System eingespeist werden können, sodass ein medialer Konsens hergestellt werden kann, der sich über ein Sammelsurium von Berichten, Informationen und Skandalmeldungen selbst reproduziert.

Überdies bleibt das Programm allerdings bescheiden, reicht kaum in den Alltag hinein, ist höchstens ein bisschen Freizeit und Entertainment. Nicht einmal Stefani Germanotta lebt im „House of Gaga“, sondern in der trostlosen, konservativen Normalität, bestehend aus Familie, Beziehung, Arbeit und noch einmal Arbeit. Art und Pop gibt es da wenig.

P.S. – Zum Weiterlesen: Dirk Stederoth, „Kulturindustrie und Musik. Willkommen im ,Haus of Gaga‘“, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 34/35, 2012, S. 69 ff.: Er stellt heraus, inwiefern Lady Gagas Bezeichnung ihrer Fans als „Little Monsters“ – sie selbst nennt sich „Mother Monster“ – auf eine Seminararbeit aus ihrer Zeit als Art-School-Studentin zurückgeht, in der sie sich mit Montaignes Essay „Über ein missgeborenes Kind“ (engl. „Of a Monstrous Child“) beschäftigt: Stefani Germanotta hatte hier im vom Gewohnten, also von der Normalität abweichenden Monster eine Gestalt gefunden, die sie nicht nur wie Montaigne als Gott gewollt und naturgemäß interpretiert, sondern darüberhinaus als „Prodigy“, das heißt als „Wunderkind“ (vgl. ebd. S. 72 f.). Des weiteren bietet Stederoth eine luzide Kritik der im Fall von Lady Gaga freilich vorhersehbaren Feuilleton-Deutung ihrer Musikperformance als „Gesamtkunstwerk“ oder „soziale Skulptur“; polemisch bemerkt Stederoth, dass der Zusammenhang zwischen Lady Gaga und Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks oder Beuys’ Idee der sozialen Plastik „ungefähr dem Zusammenhang zwischen einem Smiley und einem wirklichen Lächeln einer Person entspricht“ (ebd. S. 78). – Zum Schluss zitiert Stederoth Adorno, der über den Jitterbug-Tanz 1941 in „On Popular Music“ schreibt: „To become transformed into an insect, man needs that energy which might possibly achieve his transformation into a man.“ So hätte auch Stefani Germanotta ihre Kreativität, mit der sie sich in das Monster Lady Gaga verwandelt hat, nutzen können, um sich in einen Menschen zu verwandeln (vgl. ebd. S. 81).