Apokalypse ohne Reich*
von Günther Anders
Zu denken uns aufgegeben ist heute der Begriff der nackten Apokalypse, das heißt: der Apokalypse, die im bloßen Untergang besteht, die also nicht den Auftakt zu einem neuen, und zwar positiven, Zustande (zu dem des „Reiches“) darstellt. Diese Apokalypse ohne Reich ist kaum je zuvor gedacht worden, außer vielleicht von jenen Naturphilosophen, die über den Wärmetod spekuliert haben. Den Begriff zu denken, bereitet uns um so größere Schwierigkeiten, als wir an dessen Gegenkonzept, an den Begriff Reich ohne Apokalypse gewöhnt sind, und weil uns seit Jahrhunderten die Geltung dieses Gegenkonzepts absolut selbstverständlich gewesen war. Dabei denke ich nicht so sehr an utopische Bilder gerechter und ezechielhafter Weltzustände, in denen die Quellen des Bösen als versiegt gegolten hatten, als an die Geschichtsmetaphysik, die unter dem Titel Fortschrittsglaube geherrscht hatte. Denn dieser Glaube, beziehungsweise diese Theorie, die uns allen zur zweiten Natur geworden war, hatte ja gelehrt, dass es zum Wesen unserer geschichtlichen Welt gehöre, auf unentrinnbare Weise immer besser zu werden. Da der erreichte Stand angeblich den Keim des unentrinnbar Besseren schon immer in sich enthielt, lebten wir in einer Gegenwart, in der die „bessere Zukunft“ immer schon begonnen hatte; nein, gewissermaßen bereits in der „besten aller Welten“, weil etwas Besseres als unentrinnbares Besserwerden eben nicht denkbar war. In anderen Worten: Für den Fortschrittsgläubigen erübrigte sich die Apokalypse als Vorbedingung des „Reiches“. Aufs Ingeniöseste waren Präsens und Futurum ineinander verschlungen. Das Reich kam immer, weil es immer schon da war. Und es war immer schon da, weil es kontinuierlich kam. Ein apokalypseferneres Credo, um nicht zu sagen: einen schärferen antiapokalyptischen Affekt (und damit eine dem apostolischen Christentum fremdere Mentalität) kann man sich wohl kaum vorstellen. Dass sich Amerika, das klassische Land der Vulgarisierung des Fortschrittsglaubens, so gerne „God’s own country“ nannte, war nichts weniger als Zufall. Der Ausdruck bezeichnet eben unverblümt das Schon-da-Sein des Reiches Gottes; den Anklang an den Ausdruck „Civitas Dei“ zu überhören, ist unmöglich. – Gewiss, die Wörter „apokalyptisch“ und „antiapokalyptisch“spielten in der Diskussion der Kategorie „Fortschritt“ keine Rolle, aber in der beliebten Unterscheidung zwischen „evolutionär“ und „revolutionär“ lässt sich trotz der Verwässerung das Gegensatzpaar „apokalyptisch“ und „antiapokalyptisch“ doch noch wiedererkennen. Wer weiß, ob nicht der Abscheu, mit dem die Amerikaner auf den Bolschewismus und auf die Tatsache „Sowjetrussland“ reagiert haben, ursprünglich nicht so sehr dem Kommunismus als solchem gegolten hatte, als der Tatsache, dass die russische Revolution, die ja offensichtlich etwas Apokalyptisches an sich hatte, ihren Glauben an die Unnötigkeit apokalyptischen Geschehens aufs Äußerste brüskiert hatte. Nichts behindert jedenfalls unsere Bemühung, den heute fälligen Begriff zu denken, ernsthafter als diese optimistische These vom „Reich ohne Apokalypse“. Und es ist unbestreitbar, dass, was zu denken gefordert wird, eine wirkliche Zumutung, weil ein wirklicher Sprung in contrarium, ist.
Damit ist aber nicht etwa gesagt, dass die Schwierigkeit auf der Seite der Revolutionäre wesentlich geringer wäre; dass diese, die (auf wie säkularisierte Weise auch immer) das apokalyptische Erbe wiederaufgenommen oder weitergeführt haben, geringere Mühe hätten, den Gedanken an die drohende „Apokalypse ohne Reich“ zu denken. Denn wie lebendig für sie auch der (in den Begriff „Revolution“ verwandelte) Begriff „Apokalypse“ gewesen sein mag, der Begriff des „Reiches“ war für sie nicht minder lebendig. Das Denkmodell der jüdisch-christlichen Eschatologie „Sturz und Gerechtigkeit“ oder „Ende und Reich“ leuchtete deutlich durch die kommunistische Doktrin hindurch, da in dieser nicht nur die Revolution die Rolle der Apokalypse spielte, sondern auch die klassenlose Gesellschaft die Rolle des „Reiches Gottes“. Dazu kommt ferner, dass sie mit der, die Apokalypse vertretenden, Revolution nicht ein einfach eintretendes Ereignis gemeint hatten, sondern eine Aktion, die ohne das Aktionsziel „Reich“ ins Werk zu setzen schlechthin sinnlos gewesen wäre. Von irgendeiner Affinität zu dem heute erforderten Begriffe der „nackten Apokalypse ohne Reich“ kann also auch hier keine Rede sein. Umgekehrt scheinen aus der heutigen Perspektive der möglichen Totalkatastrophe Marx und Paulus zu Zeitgenossen zu werden. Und diejenigen Unterschiede, die bisher die Fronten markiert hatten – selbst der fundamentale Unterschied zwischen Theismus und Atheismus – scheinen zum Untergang mit-verurteilt zu sein.
Trotzdem ist unsere Behauptung, dass der Gedanke der im nackten Nichts landenden Apokalypse unerhört sei, und dass wir die Ersten seien, die diesen Gedanken einzuüben hätten, befremdlich. Und zwar deshalb, weil wir ja schließlich seit beinahe einem Jahrhundert von Nihilismus umgeben gewesen sind, von einer Bewegung also, die uns, da sie das Nihil in den Vordergrund geschoben hatte, an den Gedanken der Vernichtung hätte gewöhnen müssen. Haben uns denn diese Nihilisten auf das, was wir nun (um es zu verhüten) zu gewärtigen und zu lernen haben, überhaupt nicht vorbereitet?
Nein, überhaupt nicht. Und im Vergleich mit der Position, die wir Heutigen, dem Zwang gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, einnehmen, erscheint die ihre als eine von „good old nihilists“, ja sogar von Optimisten. Nicht nur deshalb, weil sie, was sie der Vernichtung zuschoben, als „delendum“, also als vernichtungswürdig ansahen, dessen Vernichtung also bejahten; sondern vor allem deshalb, weil sie die Aktionen oder Vorgänge der Zerstörung innerhalb eines Rahmens geschehen ließen, dessen Unzerstörbarkeit sie keinen Augenblick lang bezweifelten. In anderen Worten: als „delenda“ betrachteten sie „nur“ Gott und „nur“ die sogenannten „Werte“. Und „nur“ dürfen wir deshalb sagen. weil sie die Welt selbst nicht der Klasse der „delenda“ zurechneten; weil der Gedanke, der für uns Heutige der zu denkende Gedanke ist: der der Weltvernichtung, innerhalb ihres Horizontes, des Horizontes dessen, was sie zu fürchten oder zu hoffen fähig waren, nicht auftauchen konnte.
Im Gegenteil: Wenn diese Nihilisten für Zerstörung plädierten, so war ja ihre Leidenschaft durch ihre Weltbejahung genährt. Ihre Herkunft aus dem Naturalismus, der Naturwissenschaft und der Technik ihrer Zeit, ist ja unzweideutig. Selbst wenn einige von ihnen den Optimismus der Naturwissenschaften dubios oder sogar ruchlos fanden – auf indirekte Weise waren sie kaum weniger optimistisch als die von ihnen verachteten oder verhöhnten Advokaten des Fortschritts, und gewiss nicht weniger diesseitig. Was ihnen ihren Mut zum großen Nein verlieh, war die Tatsache, dass sie das große Ja ihrer Zeit: das naturwissenschaftliche Vertrauen auf die Welt und die restlose Weltbeherrschung – kurz: das Vertrauen auf den „Fortschritt“ mehr oder minder bewusst teilten. Wobei ich vor allem an die russischen Nihilisten denke.
Die Vieldeutigkeit der christlichen Frist
Obwohl sich Geschichte nur dadurch, dass die christliche Erwartung auf das Heil hin ausgerichtet war, zur „Geschichte“ im modernen Sinne, nämlich zur Geschichte mit Richtungssinn ausgebildet hat; und obwohl ihre Jahre als „Jahre des Heils“ zählen, hat sich doch die faktische Geschichte nicht als Heilsgeschehen abgespielt. Vielmehr lief sie, sofern man sich nicht an ihr Weitergehen gewöhnt und die Erwartung vergessen hatte, als eine Kette von Heilsenttäuschungen ab, als ein täglich neues und niemals abreißendes Nichtkommen des „Reichs“, als stete Einübung im Sich-Bescheiden mit dem Weiterbestand τούτου τοῦ κόσμου. Eigentlich, nämlich urchristlich gesehen, ist die Tatsache der zweitausend abgelaufenen Jahre ein Skandal, eigentlich hätte es diese gar nicht geben dürfen – es sei denn man fasste sie so auf, wie Jesus die Zeit zwischen der Aussendung der Jünger und seinem Tode, oder wie Paulus seine apostolische Zeit aufgefasst hatte; als Frist; als dasjenige Zwischenstück, das sich zwischen die Verkündigung (bzw. die Kreuzigung) und die Parusie einschiebt oder gar einschieben muss: also als letzte Zeit der Konvulsionen oder des Triumphs Satans vor der Entscheidung. Christlich, also eschatologisch gesehen, lebt das Christentum zwar post Christum natum, aber doch im Zeitalter „ante“.
Eine zweideutige Situation. Die Erwartung, die für Jesus die Erwartung des morgigen Reiches gewesen war, auf Grund der Erwartungsenttäuschung einfach abzuschreiben und das Erwartete expressis verbis zu verleugnen, das war wohl nur für diejenigen möglich gewesen, die sich dazu verstanden, den Glauben als ganzen aufzugeben. Denn wer auf das „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel“ verzichtete, der gab das Christentum als ganzes auf. Aber vielleicht waren das, mindestens in der Epoche, ehe das Christentum zur Staatsreligion wurde, gar nicht so wenige. Und auch Paulus und Petrus werden ihre Warnungen ja nicht grundlos ausgesprochen haben. Für diejenigen dagegen, die trotz der Parusie-Enttäuschung im Glauben beharrten, und die sich gerade durch ihre Geduld, die sich als die Christentugend der enttäuschten Christen ausbildete, ihren Glauben vordemonstrierten – für die war die Situation von einer kaum zu überbietenden, kaum zuzumutenden Vieldeutigkeit. Nicht nur in der christlichen Theologie, auch in der christlichen Seele, gab es, und zuweilen sogar gleichzeitig, einander widersprechende Überzeugungen:
Erstens die, dass die Apokalypse (bzw. Reich Gottes, Rechtfertigung) auch heute noch ausstehe;
zweitens die, dass die Parusie nicht in Form einer Weltkatastrophe vor sich gehe, sondern als ein Geschehen im Menschen. (Wenn Paulus und die Seinen in der Taufe Sterben und Auferstehen mit Christus erfahren haben, also glaubten, bereits ein Stück des Reiches Gottes zu sein, dann war der entscheidende Augenblick bereits vorweggenommen, und zwar innerhalb der Weltzeit.)
Oder drittens die, dass das Reich, wiederum ohne Apokalypse, in der Form der bestehenden Kirche, bereits da sei. – In diesem Falle ist die Apokalypse, wie paradox das auch klingen mag, obwohl sie überhaupt nicht stattgefunden hat, in die Vergangenheit relegiert.
Abgesehen von Einzelnen, die nicht darauf verzichten konnten, herauszufinden, woran sie nun eigentlich waren, und die dann auf einer bestimmten Deutung bestanden, war wohl die Geschichte des Christentums zum großen Teil eine Geschichte der Verschleifung dieser einander widersprechenden und ausschließenden Möglichkeiten.
Es besteht nun die größte Gefahr, dass eine ähnlich eschatologische Vieldeutigkeit auch diesmal zur Herrschaft komme; dass auch unsere Position so clair-obscure werde, wie es die eschatologische Situation des Christen gewesen war. Nichts wäre verhängnisvoller, als wenn Ungewissheit darüber einträte, ob wir die Katastrophe als noch vor uns stehend anzusehen (und uns dementsprechend zu benehmen) haben; oder ob wir es (z. B. auf Grund des überwundenen Atom-Monopols) uns leisten können, uns so in der Welt einzurichten, als wären wir schon über den Berg; oder ob wir gar das Ende als etwas „ständig Geschehendes“ (und darum letztlich nicht so Furchtbares) betrachten dürfen. Vielleicht ist die Unverblümtheit eines Ungläubigen, eines, der so ungläubig ist wie der Schreiber dieser Zeilen, dazu nötig, um mit aller Deutlichkeit auszusprechen, dass sich die Zwielichtigkeit, wenn sie heute einträte, noch verhängnisvoller auswirken würde als die Zwielichtigkeit damals. Damals hatte es sich eben, wie die zweitausend unterdessen verflossenen Jahre beweisen, um eine bloß eingebildete Bedrohung gehandelt. Während diesmal eine unzweideutige, im alltäglich-technischen Sinne wirkliche Bedrohung bevorsteht, die wahr werden wird, wenn wir ihr nicht mit einer ebenso unzweideutig wirklichen Antwort-Aktion zuvorkommen.
Was hinter uns liegt – aber im Sinne des nun ein für alle Male Gültigen – ist die Voraussetzung, auf Grund derer die Katastrophe möglich ist.
Was vor uns liegt, ist die mögliche Katastrophe.
Was immer da ist, ist die Möglichkeit des Katastrophenaugenblicks.
Analogie: So wie man damals, und zwar mit Hinweis auf die Frist, die Gläubigen im Glauben (an das Kommen) zu halten versuchte, so versucht man heute, wiederum mit Hinweis auf die Frist, die Ungläubigen im Unglauben (an das Kommen) zu halten.
Damals hatte es geheißen: Für sofort können wir das Reich nicht erwarten, denn das Kommen stellt ein kosmisches Drama dar; der Sieg auf Erden nimmt, auch wenn er im Himmel bereits erfochten ist, Zeit; und kann erst dann eintreten, wenn Satan zuvor seinen letzten konvulsivischen Triumph genossen haben wird. „Denn er kommt nicht, es sei denn, dass zuvor der Abfall komme“ (2. Thess. 2, 3). Kurz: das bisherige Nichtkommen des Reiches war geradezu als Beweis für das Kommen präsentiert worden.
Heute heißt es dagegen: „Für sofort brauchen wir das Kommen (der Katastrophe) nicht zu erwarten, nein, überhaupt nicht. Denn ihr bisheriges Nichtkommen, also die bereits durchgemachte Frist, beweist, dass wir fähig sind, mit der Gefahr (‚mit der Bombe‘) zu leben und dieser Gefahr zu gebieten. Das gilt mit um so größerer Gewissheit, als die apokalyptische Gefahr zu Beginn der ‚Frist‘, also in der Zeit der atomaren Erfahrungslosigkeit und des Atom-Monopols, akuter gewesen war als heute in der Zeit des atomaren Gleichgewichts, und selbst die damalige Gefahrenklimax hatte überstanden werden können. Ergo: Das Examen liegt bereits hinter uns.“
Das Ende des Endes
Solange der Gang der Zeit als ein zyklischer verstanden wurde, galt es als unvermeidlich, dass der Ausgangspunkt immer von Neuem erreicht und die gleiche Bahn immer von Neuem zurückgelegt würde. Der Begriff „Ende“ war nicht möglich. Wo er, wie in der stoischen Ekpyrosis-Theorie, auftauchte, da bedeutete „Ende“ stets zugleich auch „Anfang“.
Durch die Erwartung des endgültigen Endes, also durch die eschatologische Angst und Hoffnung, ist die Geschichte zu einer „Einbahnstraße“ geworden, die Wiederholung ausschließt. Aber da sie nicht nur keinen alten Ausgangspunkt erreichen konnte, sondern auch kein Ende erreichte, geschah es, dass gerade sie, die dem Begriff „Ende“ ihr Dasein verdankte, zum Prinzip des „und so weiter“ wurde; dass gerade sie dem Prinzip „Ende“ sein Ende bereitete. Nichts war uns so verbürgt gewesen für alle Ewigkeit wie die ewig weitergehende Zeit. Diese Garantie ist nun zusammengebrochen.
Exkurs über christliche und atomare Apokalypse
Wiederholt ist meine Verwendung der Ausdrücke „eschatologisch“ und „apokalyptisch“ beanstandet worden. Es zieme sich nicht, so lautete der Vorwurf, mit den theologischen Ausdrücken herumzuspielen und durch deren metaphorische Verwendung der Darstellung einer Situation, die mit Religion nichts zu tun habe, einen falschen Ernst und eine falsche Schrecklichkeit zu verleihen.
Die einzige wahrhaftige Entgegnung auf diese Kritik wird schockierend klingen. Aber im Namen des von uns angeblich verletzten Ernstes verbietet sich jede Zweideutigkeit. Hier die Antwort:
Wie ehrfurchtgebietend alt auch die Geschichte eschatologischer Hoffnungen und Ängste, von Daniels Traumdeutungen bis zu den Reich-Gottes-Hoffnungen des Sozialismus, sein mag – eine wirkliche Weltuntergangs-Gefahr hatte natürlich, trotz des subjektiven Ernstes, mit dem die Propheten von dieser Gefahr sprachen, niemals bestanden. Erst die heutige Endgefahr ist objektiv ernst – und zwar so ernst, dass sie ernster nicht sein könnte. Da dem so ist, muss die Antwort auf die Frage, welche Verwendung der Termini „Weltende“ oder „Apokalypse“ unmetaphorisch, und welche nur metaphorisch sei, lauten: Ihren ernsten und unmetaphorischen Sinn gewinnen die Termini erst heute, bzw. erst seit dem Jahre Null (= 1945), da sie nun erst den wirklich möglichen Untergang bezeichnen. Dagegen entpuppe sich nun nachträglich der in der Theologie bis heute verwendete Begriff „Apokalypse“ als bloße Metapher, richtiger: das in dem Begriff Gemeinte als eine – sprechen wir es unverblümt aus – Fiktion. Wie gesagt, das klingt provokant. Aber zu Unrecht. Denn wir sind durchaus nicht die Ersten, die eine Degradierung der Eschatologie zur „Fiktion“ vornehmen. In gewissem Sinne ist diese Degradierung sogar fast ebenso alt wie die Eschatologie selbst, und diese hat schließlich eine lange Geschichte durchgemacht. Eigentlich datiert sie seit jenem Augenblicke, in dem die Jünger, die Jesus mit den Worten ausgeschickt hatte: „Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis des Menschen Sohn kommet“ (Matth. 10/23), zurückkehrten, ohne dass des Menschen Sohn gekommen war, denn die alte Welt bestand ja noch, und sie funktionierte ja weiter. Die Enttäuschung über die Nichtparusie und über das Nichteintreten des Endes, bzw. über das Weitergehen der Welt, war das Modell der Enttäuschung, die Jahrhunderte anhalten sollte, bis schließlich die Parusie in etwas bereits Geschehenes umgedeutet wurde. (So in den Darstellungen von Auferstehung und Weltende im 3. und 4. Jahrhundert, die so gehalten waren, als wäre das Erwartete eingetreten, die Zukunft also bereits Vergangenheit. – Siehe dazu Martin Werner: Die Entstehung des christlichen Dogmas, Bern 1941, S. 90)
Aber schien auch die Apokalypse im Jahrhunderte währenden Kontinuum der Hoffnungsenttäuschungen zur Fiktion zu werden – mit welchen, zuweilen trickartigen, Mitteln die Hoffnungen trotz der niemals endenden Parusie-Verzögerung aufrechterhalten wurde, das kann hier nicht behandelt werden – so war sie doch nicht deshalb Fiktion, weil plötzlich, so wie heute, eine wirklich und völlig andersartige Apokalypsedrohung eingetreten wäre. Vielmehr schien die Voraussage, soweit sie nicht theologisch umgemünzt werden konnte, einfach falsche Prophetie. Schon der Kirchenvorsteher in Pontus schwächte seine Weissagung mit den Worten ab: „Wenn es nicht geschehen wird, wie ich gesagt habe, so glaubt fortan auch der Schrift nicht, sondern tue jeder von Euch, wie er will.“ (Hippolyt. Danielkommentar IV, 18 ff. Zitiert nach Werner S. 107)
Das heißt: Nicht nur die Frage „Wann?“ war vom Anfang an lebendig, sondern auch der Zweifel daran, ob der geweissagte Untergang überhaupt eintreten würde (2. Petrusbrief, 3. Kap. 3 ff.). Verursacht war der Zweifel aber nicht durch das Auftauchen einer effektiven Bedrohung von der Art, wie sie heute aufgetaucht ist, vielmehr durch den Weiterbestand der Welt, der die apokalyptischen Erwartungen täglich widerlegte, um nicht zu sagen Lügen strafte.
Was heutige Christen, sofern diese überhaupt noch an einen Untergang glauben, betrifft, so meinen diese noch immer jenes Ende, von dem sie in der Religionsstunde gelernt hatten. Womit ich meine, dass sie auf den Gedanken, in der heutigen, von uns selbst hergestellten, Situation ein Omen zu sehen, nicht kommen.1 Aber ich sage einschränkend: „sofern überhaupt“. Denn die Apokalypse als Glaubensstück ist ja eigentlich durch die Nichtparusie Christi seit 1500 Jahren unglaubhaft geworden. Bultmanns Ersetzung des eschatologischen Christentums durch ein „existentielles“ ist nur die letzte Formulierung einer Apokalypse-Neutralisierung, die eigentlich bereits seit Augustin vorliegt, da dieser ja in der Existenz der Kirche bereits die „Civitas Dei“ gesehen hat, also das gekommene Reich, das, da es eben gekommen war, die Hoffnung auf das Kommen überflüssig machte. Nein, die Zweideutigkeit des Apokalypsebildes und -begriffs lag bereits bei Paulus vor, und nicht nur das Bild, das sich der Apostel von der Apokalypse machte, war zweideutig, zweideutig waren auch die (wenn man diesen Ausdruck verwenden darf) „Apokalypse-Gefühle“, das heißt: die Einstellung zur Apokalypse“2. Damit meine ich nicht nur die ziemlich rasch eintretende Ambivalenz von Hoffnung und Angst angesichts der zu erwartenden Apokalypse, die sich schließlich zur Angst vereindeutigte; sondern die Undeutlichkeit, die dadurch eintrat, dass man nicht wusste, ob man das Zugesagte als bevorstehend auffassen sollte oder als gegenwärtig.
Diese Situation – es ist die Situation der „Parusieverzögerungen“, die in der heutigen, namentlich in der protestantischen Religionsgeschichte mit Recht eine entscheidende Rolle spielt – ist die Situation der Generation Pauli, namentlich die Pauli selbst (zuerst bei Schweitzer, dann bei Werner u. a.). Sie ist für uns als Vorbild unserer eigenen Situation ungeheuer aufschlussreich. Denn diese Situation war die einzige vor der unsrigen, die, wenn sie nicht ihr Haupt-Credo aufgeben wollte, dazu gezwungen war, trotz des Ausbleibens der als sofort eintretend angekündigten Katastrophe, doch auf deren Eintreten fest zu insistieren; also zugleich einzuräumen, dass die Katastrophe zwar noch nicht da, aber dennoch gewissermaßen schon da sei. Kurz: Es war die Situation, die man als Frist auffassen musste, als einen Zeitraum, der sich durch seine Begrenztheit und Bestandlosigkeit, also durch seinen „finis“, de-finieren musste; als einen finiten Zeitraum, in den der „finis“ nicht nur schon seinen Schatten oder sein Licht hineinwarf, sondern als einen, der von dem „finis“ bereits ausgefüllt war. Das heißt: Man hatte das Kommen (des Endes und des Reichs) als einen selbst Zeit erfordernden und Zeit ausfüllenden Vorgang aufzufassen, als einen Vorgang, innerhalb dessen man sich bereits befand – etwa so wie einen einem Abgrund unaufhaltsam entgegensausenden Schlitten, der bereits in der Katastrophe ist, ehe er in den Abgrund effektiv abgestürzt ist. Und so sehen auch wir das, was uns bevorsteht.
Synopsis der christlichen und der atomaren Apokalypse
Ein synoptischer Vergleich der Apokalypse-Erwartung im apostolischen Christentum mit der heutigen End-Erwartung wird diese deutlicher machen. Gemeinsam ist:
1. Damals war es als Hauptaufgabe erschienen, den Zeitgenossen klarzumachen, dass sie nicht in irgendeiner beliebigen Epoche leben, sondern in einer (und das bedeutet eo ipso: in der) Frist. Heute wie damals.
2. Damals war das zu erwartende Ende auf allgemeinen Unglauben oder sogar auf Hohn gestoßen. „Und wisset … dass in den letzten Tagen Spötter kommen werden … um zu sagen: ,Wo ist die Verheißung?‘“ – Heute wie damals.
3. Damals (für Paulus) hatte das Dasein der Welt in der Zeit zwischen Kreuzestod und Wiederkehr als bloßes Noch-Dasein gegolten. Heute wie damals. Die Welt zwischen Hiroshima und dem totalen nuklearen Kriege ist zwar noch da, aber nur noch da.
4. Damals war es erforderlich gewesen, zu verhüten, dass das Ausbleiben der Wiederkunft und des Reiches als Gegenzeugnis gegen die Wahrheit der Verkündigung missverstanden (oder richtiger: richtig verstanden) wurde. Darum hatten alle geistigen Anstrengungen, namentlich die Bemühungen Pauli, darauf abgezielt, das Noch-Sein und das Unverändert-Sein der Welt abzuleugnen, die eschatologische Situation als bereits „da“ nachzuweisen; und schließlich den Glaubenden zu erklären, dass die Umwälzung bereits angehoben habe, bzw. dass jeder, der bereits der Welt abgestorben sei, bereits in Christo und erlöst sei. – Heute wie damals. Denn auch heute ist es erforderlich, zu verhüten, dass das bisherige Ausgebliebensein der Katastrophe als Gegenzeugnis gegen deren reale Möglichkeit, das „Noch nicht“ als Zeugnis für das Niemals missverstanden werde. Und auch heute haben wir alle unsere geistigen Anstrengungen auf die Aufgabe zu konzentrieren, das Noch- und Unverändert-Sein der Welt abzuleugnen, heutige Tatsachen als omina erkennbar zu machen und nachzuweisen, dass die eschatologische Situation bereits eingetreten ist.
Verschieden ist:
1. Die damalige Untergangserwartung, die sich ja nicht verwirklicht hat, war, grob gesprochen, unfundiert gewesen. Die heutige ist dagegen objektiv gerechtfertigt. Neben der heutigen Untergangserwartung wird die apostolische Rede von der Apokalypse zur bloßen Einbildung. Nicht wir sprechen, wenn wir das Bevorstehende „apokalyptisch“ nennen, metaphorisch; metaphorisch war, von unserer Situation aus gesehen, die damalige Rede vom „Ende“.
2. Damals hatte das Ende nur als etwas vom Menschen Verschuldetes gegolten. Diesmal dagegen ist es etwas vom Menschen direkt Gemachtes. Damals galt das erwartete Ende als durch unsere Schuld verursacht. Diesmal dagegen besteht die Schuld in der Herstellung des Endes.
3. Die damalige Botschaft war eine frohe gewesen. Sie hatte gemeint: „Die Zukunft hat schon begonnen.“ Die heutige Botschaft ist dagegen die schlechthin schreckliche. Sie meint: „Die Zukunftlosigkeit hat schon begonnen.“
4. Damals hatte die eschatologische Hoffnung „Geschichte“ konstituiert, denn die alle Geschichtlichkeit unterbindende antike Zyklischkeit der Zeit war nun durch die Tatsache aufgehoben, dass, was noch ausstand, auf einer Einbahnstraße vorwärts-, nämlich dem „Reich“ entgegenlaufen würde. – Wir dagegen sehen durch die Erwartung des Endes dem Ende der Geschichte entgegen. – Oder anders: Da erst der Opfertod Christi das Reich Gottes verbürgt hatte, hatte sich durch diesen Tod der gesamte, dieser Bürgschaft vorausliegende, Zeitraum nachträglich in etwas Altes verwandelt. Geschichte war deshalb möglich geworden, weil sich das Weltgeschehen nun in zwei Zeitalter artikulierte (oder, wenn man die Frist bis zum Gericht selbst noch einmal als Zeitalter zählt, sogar in drei Zeitalter). Für uns wird dagegen die bereits absolvierte Vergangenheit durch die Möglichkeit des Endes zu etwas, was so da war, als wenn es nie gewesen wäre. Das heißt: Es wird nachträglich dehistorisiert, wenn nicht sogar – sit venia verbo – „de-ontisiert“.
5. Damals war es (s. o.) erforderlich gewesen, den durch das Nichteintreten des Endes enttäuschten „Brüdern“ zu versichern, dass, wer heute schon der Welt abgestorben sei, deren Ende bereits hinter sich habe, bereits in Christo lebe und erlöst sei. Unsere heutige Aufgabe ist es dagegen, durch die Information darüber, dass wir uns wirklich schon in der eschatologischen Situation befinden, zu verhüten, dass das „eschaton“ wirklich eintrete.
6. Heute stellt sich durch die Tatsache, dass wir unter der Drohung der selbstgemachten Apokalypse zu leben haben, das Moralproblem auf völlig neue Weise. Nicht deshalb stehen wir vor einer moralischen Aufgabe, weil wir (wie es von Daniel an alle Apokalyptiker erwartet hatten) mit dem Abbruch des zu erwartenden Reiches das Gericht Gottes oder Christi zu gewärtigen hätten. Sondern deshalb, weil wir selber, und zwar durch unser eigenes Tun, über das Bleiben oder Nichtbleiben unserer Welt (zwar nicht zu Gericht sitzen, aber doch) die Entscheidung fällen. Über das Bleiben oder Nichtbleiben unserer Welt, hinter deren Ende wir – das ist, wie gesagt, erstmalig – kein Reich Gottes, sondern einfach nichts erwarten.
Solange die eschatologische Erwartung bloße „Einbildung“ gewesen war, solange hatte die Apokalypse, gleich ob man sie als kurze Frist oder als Millenium auffasste, nur als Vorspiel des Reiches Gottes gegolten. Heute, da die Apokalypse technisch möglich und sogar wahrscheinlich ist, steht sie vereinsamt vor uns: mit einem auf sie folgenden „Reich Gottes“ rechnet niemand mehr. Selbst der christlichste Christ nicht.
Oder anders: Moralisch ist die Situation deshalb neuartig, weil die Katastrophe, wenn sie einträte, Menschenwerk wäre. Wenn sie eintreten wird, Menschenwerk sein wird. Bisher hatten Apokalypsen stets nur als Folgen menschlichen Tuns gegolten (z. B. als Strafe für Korruptheit); oder eben als die (dem Ausbruch des Reiches im Himmel wie auf Erden vorausgehende) Endkatastrophe. Die heutige Apokalypse wäre dagegen nicht nur die Folge unseres moralischen Zustandes, sondern direktes Ergebnis unseres Tuns, unser Produkt.
*
Ob wir das Ende der Zeiten bereits erreicht haben, das steht nicht fest. Fest dagegen, dass wir in der Zeit des Endes leben, und zwar endgültig. Also dass die Welt, in der wir leben, nicht fest steht.
„In der Zeit des Endes“ bedeutet: in derjenigen Epoche, in der wir ihr Ende täglich hervorrufen können. – Und „endgültig“ bedeutet, dass, was immer uns an Zeit bleibt, „Zeit des Endes“ bleibt, weil sie von einer anderen Zeit nicht mehr abgelöst werden kann, sondern allein vom Ende.
Von einer anderen Zeit kann sie aber deshalb nicht mehr abgelöst werden, weil wir unfähig sind, dasjenige, was wir heute können (nämlich einander das Ende bereiten) morgen oder jemals plötzlich nicht-zu-können.
Möglich, dass es uns gelingt – auf ein schöneres Glück zu hoffen, haben wir kein Recht mehr – das Ende immer von Neuem vor uns her zu schieben, den Kampf gegen das Ende der Zeit immer neu zu gewinnen, also die Endzeit endlos zu machen. Aber gesetzt selbst, dieser Sieg gelänge uns, fest steht, dass die Zeit auch dann bliebe, was sie ist: nämlich Endzeit. Denn verbürgt wäre immer nur das Heute, niemals das Morgen. Und selbst das Heute nicht, und noch nicht einmal das Gestern, weil mit dem stürzenden Morgen das scheinbar verbürgte Heute mitstürzen würde, und mit diesem auch das Gestern.
Fest aber steht trotz allem Nichtfeststehenden, dass die Gewinnung des Kampfes zwischen Endzeit und Zeitende die Aufgabe ist, die uns heute, und von nun an unseren Nachkommen in jedem noch kommenden Heute, gestellt ist, und dass wir keine Zeit haben, diese Aufgabe aufzuschieben, und dass auch sie dafür keine Zeit haben werden, weil (wie es in einem früheren, aber nun erst völlig wahr gewordenen Text heißt, „in der Endzeit die Zeiten schneller laufen als in früheren Zeitläuften, und die Jahreszeiten und die Jahre ins Rennen geraten“ (IV Esra 4/26).
Fest also steht, dass wir schneller laufen müssen als die Menschen früherer Zeitläufte, ja sogar schneller als diese Zeitläufte selbst; damit wir diese überholen und ihre Plätze im Morgen immer schon gesichert haben, ehe sie selbst diese Plätze noch erreicht haben.
* aus: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen. Fünfte, durch ein Vorwort erweiterte Auflage von „Endzeit und Zeitenende“. Beck’sche Schwarze Reihe Band 238, S. 207–221
© C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1986
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags
1 Heute von „omina“ zu reden, ist natürlich ganz unzulänglich. Denn unsere Herstellung des Weltendes, die ja aufs Direkteste und in einer keiner Exegese bedürftigen Weise mit der Gefahr droht, ist natürlich weit mehr als ein bloßes und interpretationsbedürftiges Vorzeichen.
2 Je größer in der Geschichte des Christentums die Rolle des Sakraments wurde, umso ohnmächtiger und unüberzeugender musste der eschatologische Gedanke werden. Denn wenn bereits das Sakrament die Kraft hat, die Entscheidung über Auferstehung oder Verdammung zu fällen, dann ist ja der Spruch des Jüngsten Gerichts bereits bei Lebzeiten vorweggenommen, das Gericht selbst also überflüssig gemacht. Da aber das Gericht ein wesentliches Bestandstück des eschatologischen Dramas ausmacht, oder richtiger: da das apokalyptische Ende in gewissem Sinne mit dem Richterspruch identisch ist, bleibt nur ein unglaubhafter und verstümmelter apokalyptischer Gedanke übrig.