Mehr Krieg wagen
von Tomasz Konicz
Aufrüstung, Militarisierung der Außenpolitik, Konfrontationskurs gegenüber Moskau – diese Schlussfolgerungen ziehen viele deutsche Medien aus der Tragödie des Fluges MH17
Es ist noch immer ungeklärt wer am 17. Juli die malaysische Passagiermaschine über dem ostukrainischen Bürgerkriegsgebiet abgeschossen hat. Doch etliche bundesrepublikanische Massenmedien haben die Schuldigen bereits im Moskauer Kreml ausgemacht, um sofort eine härtere Gangart gegenüber Russland zu fordern.
Stefan Ulrich spannte in der Süddeutschen Zeitung (SZ) den ganz großen Bogen und wunderte sich unter der Überschrift „Der Krieg ist zurück“, dass rund ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges die übrig gebliebene kapitalistische „One World“ in einem Weltbürgerkrieg zu versinken scheint:
Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist der Kalte Krieg zurück. Und nicht nur er. Für viele Menschen – in der Ostukraine, im Gazastreifen, in Israel, Syrien, Libyen oder dem Irak – ist der Krieg ein heißer, in dem geschossen, geblutet und gestorben wird. In Osteuropa, Arabien und am Mittelmeersaum, also in unmittelbarer Nähe des europäischen Westens, weiten sich die Kämpfe aus und bedrohen den Bestand ganzer Staaten.
Stefan Ulrich
Der Abschuss von Flug MH17 könnte womöglich eine „Zäsur setzen“ und den Menschen im Westen die Augen dafür öffnen, dass sie „in Zeiten der Kriege“ lebten, so Ulrich. Wie sollten „die Europäer“ nach Ansicht des süddeutschen Meinungsmachers auf diese „düstere Weltlage“ reagieren?
Sie könnten die ukrainischen Dramen zum Anlass nehmen, ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu überdenken. Die Wehretats dürfen nicht länger sinken. Die EU-Staaten müssen wieder mehr für ihre Sicherheit ausgeben, zumal die USA immer widerwilliger dafür eintreten.
Stefan Ulrich
Natürlich werde ein solches Rüstungsprogramm „viel Geld und politische Überzeugungskraft“ erfordern, doch schließlich gehe es hierbei laut der SZ um die Bewahrung des Friedens: „Die EU soll sich rüsten, um Kriege besser verhindern zu können.“ Ein „wehrhaftes Bündnis“ wäre bei Verhandlungen erfolgreicher. „Diplomatie gegenüber Putin in der Ukraine-Frage, die die EU weiter versuchen muss, hat dann mehr Sinn.“
Und selbstverständlich – dies zeichnet nahezu alle Kommentare zu dem tragischen Flugzeugabschuss aus – wird der russische Präsident, der umgehend eine Waffenruhe in der Region forderte, zu einem Feindbild aufgebaut. Er sei an einer „Zersetzung“ der Ukraine interessiert, damit sie nicht dem Westen zufalle und gehe dabei kompromisslos vor. Und selbstverständlich wird die Rolle des Westens bei der Eskalation der ukrainischen Krise wissentlich ausgeblendet (Geopolitisches Déjà-vu).
Die Tragödie in der Ostukraine, die Folge einer kriegerischen Auseinandersetzung in einer von immer neuen Kriegen überzogenen Welt ist, soll nach Ansicht der SZ die Mobilmachung der „Europäer“ zu folge haben – um eben künftig noch besser Krieg führen zu können. 298 Tote werden hier buchstäblich instrumentalisiert, um einer weiteren Militarisierung der europäischen Gesellschaften und Außenpolitik Vorschub zu leisten. Der Kommentator der SZ ignoriert dabei geflissentlich, dass die Rüstungsausgaben selbst der EU-Staaten weitaus höher als die Russlands sind (von den USA ganz zu schweigen), und dass die letzten zwei Jahrzehnte gewiss nicht an einem Mangel an militärischen Interventionen des Westens litten.
Was der SZ somit letztendlich zur „wehrhaften“ Verteidigung „unserer Werte“ vorschwebt, ist eine militaristische Eskalationsstrategie, eine Intensivierung der bisherigen Interventionspolitik der Zentren des kapitalistischen Weltsystems in der Peripherie. Dabei ist es doch offensichtlich, dass alle bisherigen Interventionen des „Westens“ – von Somalia, über Afghanistan, Irak, Libyen bis zur der jüngsten offenen Unterstützung des Regierungssturzes in der Ukraine – sich als totale Desaster entpuppt haben, die das weltweit um sich greifende Chaos noch verstärkten. Überall, wo europäische oder US-amerikanische Interventionen auf „Nation Building“ oder die Durchsetzung „westlicher Werte“ abzielten, hinterließen sie letztendlich nur „Failed States“. Hier stellt auch die Ukraine keine Ausnahme dar (Der gescheiterte Staat von nebenan). Auf die eigentlich naheliegende Idee, die weltweite Inflation der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Auflösungstendenzen des kapitalistischen Weltsystems in Zusammenhang zu bringen, kann eine SZ-Kommentator selbstverständlich schon aus Karrieregründen nicht kommen.
Manche Kommentatoren und Politiker wollen offensichtlich nicht bis zu einer Hochrüstung der EU warten, um im Osten wieder mal „Frieden und Ordnung“ (SZ) zu erzwingen. In einem Kommentar für die Tagesthemen forderte Georg Restle (Monitor, WDR), die „durchgeknallten Kriminellen“ und „Kriegsherren“, die Wladimir Putin aufgerüstet haben soll, endlich zu „stoppen“ und zu „entwaffnen“ – notfalls mit auch mit „internationaler Unterstützung“. Innerhalb der CDU kann man sich ernsthaft vorstellen, deutsche Bundeswehrsoldaten im Rahmen eines „UNO-Blauhelmeinsatzes“ in die Ostukraine zu entsenden. Unionsfraktionsvize Andreas Schockenhoff erklärte, dass bei einer solchen Mission auch „Deutschland gefragt sein“ würde (Putin als Fädenzieher und UN-Blauhelme als Retter).
In den Redaktionsstuben der „Tageszeitung“ (Taz) scheint man sich hingegen schon in die publizistischen Schützengräben zu begeben, ohne auf irgendwelche – von Russland womöglich durch ein Veto vereitelten – Uno-Beschlüsse warten zu wollen. In der Ostukraine seien nun nicht nur „ukrainische Bewaffnete, sondern zivile Flugpassagiere“ ums Leben gekommen, schreibt Dominic Johnson, Ressortleiter Ausland, weswegen deren Regierungen „nicht mehr wegschauen“ können. Falls Russland die Ermittlungen behindern sollte – wer würde berufener sein, dies zu beurteilen, als die unvoreingenommene Tageszeitung? -, dann stehe eine militärische Eskalationsstrategie auf der Tagesordnung:
Sollten der Aufklärung des Todes von 298 Flugpassagieren vor Ort Steine in den Weg gelegt werden, könnten die internationalen Verbündeten Kiews dies zum Anlass nehmen, aktiver als bisher die gewaltsame Wiederherstellung der staatlichen Autorität der Ukraine auf dem gesamten Staatsgebiet zu fördern.
Dominic Johnson
Doch eigentlich weiß die Taz schon längst, dass Moskau und Donezk die Bemühungen zur Absturzursache hintertreiben werden:
Aber die ersten Äußerungen von russischer Seite sind nicht ermutigend, und das zwingt die Gegenseite dazu, sich zu überlegen, wie sie ihre eigene Forderung nach rückhaltloser Aufklärung auch gegen Widerstände durchsetzt. Darin liegt die Gefahr. Noch ist es übertrieben, von einer Schicksalsstunde für Krieg oder Frieden in Europa zu sprechen. Aber vielleicht nicht mehr lange.
Dominic Johnson
Der blanke Wahnsinn einer militärischen Eskalationsstrategie gegenüber der Atommacht Russland (Sollen Waffen geliefert werden? Ausbilder? Oder gleich deutsche Friedenstruppen?) ist bei diesem ehemals als pazifistisch geltenden Blatt angereichert mit verbissener Ignoranz gegenüber dem Charakter des Konflikts im Donbass. Denn selbstverständlich sterben dort nicht nur „ukrainische Bewaffnete“, sondern vor allem Zivilisten. Allein am 18. Juli sind 16 Menschen bei dem Beschuss der Großstadt Lugansk durch ukrainische Streitkräfte umgekommen, 66 wurden verletzt. Bei der „gewaltsamen Wiederherstellung der staatlichen Autorität“ setzten die ukrainischen „Streitkräfte“ (die mit ihren vielen Milizen sich ihren prorussischen Gegnern nähern), schwere Artillerie in Wohngebieten ein – dieses massenmörderische Faktum bleibt auch dann bestehen, wenn die westlichen Medien darüber nicht berichten.
Auch in der staatsnahen Deutschen Welle wird die militärische Karte als eine reale Option angesehen: „Die Forderungen werden zunehmen, nun deutlicher Partei zu ergreifen und die Ukraine direkter in ihrem militärischen Vorgehen gegen die Separatisten zu unterstützen.“
Einige Schreibtischstrategen in Deutschlands Redaktionsstuben loten schon die Aussichten einer solchen Intervention aus. Man rechnet sich dabei durchaus gute Chancen aus. In der Zeit sieht Carsten Luther in dem Abschuss der Passagiermaschine einen Wendepunkt, der den ukrainischen Bürgerkrieg zugunsten des Westens entscheiden werde:
Denn – gehen wir einmal von der wahrscheinlichsten Variante aus – der Abschuss eines Passagierflugzeugs mit westlichen Insassen durch zumindest mittelbare Handlanger des Kremls lässt Putin eigentlich kaum eine Wahl, als den Rückzug: Es ist eine Sackgasse, er wird die Rebellen fallen lassen müssen, die Grenze für ihren Nachschub wie auch ihre mögliche Flucht schließen. Die Ukraine hingegen kann für ihre Offensive gegen die Separatisten auf noch mehr Hilfe setzen. An weiteren Sanktionen gegen Russland führt kein Weg mehr vorbei, chirurgisch und selektiv dürften sie diesmal nicht sein. Und selbst eine Beteiligung westlicher Kräfte an der Militäroperation ist unter diesen Umständen kein Tabu mehr.
Carsten Luther
So schnell können Tabus fallen, wenn man 1500 Kilometer von der potenziellen Kampfzone entfernt sitzt. Die Zeit möchte somit den Tod von 298 Passagieren des Fluges MH17 instrumentalisiert sehen, um – eventuell unter direkter Beteiligung westlicher Streitkräfte – den Krieg in der Ostukraine weiter anzuheizen und noch mehr Tote zu produzieren. Schärfere Sanktionen gegen Russland fordern nahezu alle Kommentatoren und viele Politiker. In Brüssel wird inzwischen auch fieberhaft an einer „drastischen Ausweitung“ der Sanktionen gearbeitet.
Dabei ist man im deutschen Blätterwald einhellig der Meinung, dass alleinig der russische Präsident den Bürgerkrieg in der Ostukraine angeheizt und folglich auch den Abschuss des Fluges MH17 zu verantworten habe. Oftmals geht diese Behauptung mit Unterstellungen einher, „Putin“ hätte „den Separatisten“ die avancierten Luftabwehrsysteme geliefert, mit denen die Passagiermaschine abgeschossen worden sei (FAZ). In Wirklichkeit sei es Russland, das „den unerklärten Krieg auf dem Gebiet des Nachbarlandes seit Monaten anheizt“, hieß es in einem Kommentar von Ulrich Krökel, der aus Effizienzgründen sowohl in der Frankfurter Rundschau als auch in Berliner Zeitung publiziert wurde. Sollten die „Separatisten“ für den Abschuss verantwortlich sein, dann trage „der Kreml ein hohes Maß an Schuld für das Verbrechen, das einem Massenmord gleichkommt“. Dabei sei es offensichtlich, „dass Putin nicht gewillt ist, zu einer Deeskalation der Lage in der Ukraine beizutragen“.
Klaus Dieter Frankenberger, verantwortlicher Redakteur für Außenpolitik bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), erkennt ebenfalls Indizien, denen zufolge der Flugzeugabschuss ein „ruchloser militärischer Akt war, verübt von prorussischen Separatisten in der Ostukraine“. Und selbstverständlich trage Moskau die alleinige Verantwortung an der militärischen Eskalation in dem Bürgerkriegsgebiet: „Es will sich in diesen Konflikt einmischen; es will die Ukraine destabilisieren; es will seinen Einfluss wahren…“ Frankenberger fordert folglich abschließend, dass die Verantwortlichen „zur Rechenschaft gezogen werden“ müssten.
Der als künftige Interventionsmacht viel beschworene „Westen“ – die EU und die USA – kommt in diesen Kommentaren als gegenwärtiger Akteur beim ukrainischen Great Game nicht vor. Nicht immer war man in Deutschlands Redaktionsstuben so bescheiden. „Deutschland hat Verantwortung“ übernommen, betitelte eben jener Klaus Dieter Frankenberger am 22. Februar seinen Kommentar zum Abschluss eines maßgeblich von Berlin ausgehandelten Abkommens zwischen der prowestlichen Opposition und dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Wir erinnern uns: Der von Steinmeier und Merkel eingefädelte Deal sah als zentralen Punkt Neuwahlen gegen Jahresende vor. Damals war Frankenberger regelrecht euphorisch:
Ohne die beharrliche Überzeugungsarbeit der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens hätten sich Führung und Opposition in der Ukraine wohl nicht verständigt. Das können sich auch die Amerikaner merken.
Merkel hätte im Vorfeld des Deals mit Putin und Janukowitsch eingehende Gespräche geführt und Letzteren bedrängt, „internationale Vermittler und „Moderatoren“ zu akzeptieren.“ Tüchtige Ermunterung habe die Kanzlerin dabei von der „ukrainischen Opposition“ erfahren, die unermüdlich appelliert habe, Deutschland solle seiner „Führungsrolle in Europa nachkommen“. Die europäischen Außenminister hätten ihr „Prestige und das Ansehen und die Machtpotentiale ihrer Länder in die Waagschale“ geworfen und dazu beigetragen, „ein paar Regeln zu ändern und die Lage zu entschärfen. Das ist schon etwas.“
Das Internet vergisst nichts – und das ist in Zeiten, in denen die öffentliche Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird, auch gut so.
Wenn es einen „Wendepunkt“ in der Ukraine-Krise gegeben hat, der zur gegenwärtigen Eskalation maßgeblich beitrug, dann ist er eben in diesen Tagen des Februar 2014 zu verorten. Der rücksichtslose Machtpoker des Westens ebnete dem gegenwärtigen Bürgerkrieg den Weg (Geopolitisches Déjà-vu). Die Europäer, die offiziell als Garantiemächte dieses Abkommens fungierten, ergriffen Partei für die gewalttätige prowestliche Opposition und unterstützen den Bruch des von ihnen ausgehandelten Abkommens, der in dem Sturz Janukowitschs gipfelte. Nachdem die von neuen Rechtsextremisten durchsetzten „prowestlichen“ Machthaber in einer ihrer ersten Amtshandlungen das Russische als offizielle Amtssprache verbieten wollten, setzte der Zerfallsprozess der Ukraine ein, der in den gegenwärtigen Bürgerkrieg mündete, an dem sowohl Russland wie auch der Westen schon längst als „Akteure“ beteiligt sind.
Aus: Telepolis 21.07.2014>