Viel Platz an der Sonne

von Tomasz Konicz

In der Wirtschafts- und Finanzkrise verelenden die Länder Südeuropas. Das ist eine Folge des deutschen Krisenlösungsdiktats.

Made in Germany – dieses Qualitätssiegel klebt auf dem sozioökonomischen Desaster, das sich infolge des deutschen Spardiktats in Europas Krisenstaaten inzwischen voll entfaltet hat. Längst ist das »deutsche Europa« machtpolitische Realität, auch wenn ein Großteil der deutschen Linken hiervor noch immer die Augen verschließt und lieber einem Kartell bösartiger Finanzkapitalisten auf die Spur zu kommen versucht.
Dabei reicht es, der Kanzlerin zuzuhören, um einen Einblick in die gegenwärtigen Machtverhältnisse in Europa zu bekommen. Gelegenheit hierzu bot etwa eine von Merkel Mitte Dezember gegebene Regierungserklärung, in der die Regierungschefin praktischerweise gleich auch die Regierungspolitik der südeuropäischen Krisenländer erklärte und – eine neue Sparmaßnahme? – verteidigte. Demnach gäbe es in Spanien, Portugal und Griechenland dank fallender Lohnstückkosten bereits erste Anzeichen für eine Überwindung der Krise. »Die Bemühungen zeigen Erfolge«, so die Kanzlerin. Oppositionspolitiker warfen Merkel hingegen vor, ihre Politik habe die Krise in der Euro-Zone noch verschlimmert. Auch für sie scheint also die deutsche Dominanz bei der Gestaltung der europäischen Krisenpolitik eine Selbstverständlichkeit zu sein, die weiterer Reflexion nicht bedarf, wobei sie sich lediglich mal »mehr Mut« (Katrin Göring-Eckardt) wünschen oder auch mal die »Gläubiger und Aktionäre zur Kasse bitten« würden (Sigmar Gabriel).

Aber der Bundesregierung fehlt es wahrlich nicht an Mut, um ihre – gemessen an den mitgelieferten Proklamationen – fulminant gescheiterte Krisenpolitik selbst gegen die Kritik europäischer Handelspartner zu verteidigen und fortzusetzen. Im vergangenen Oktober ging sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) – dessen Vertreter gemeinsam mit EZB und EU-Kommission in der verhassten »Troika« an der Gestaltung der Austeritätspolitik beteiligt gewesen waren – auf Distanz zu dem Sparterror, dem Griechenland bereits seit Jahren ausgesetzt ist. IWF-Chefin Lagarde forderte auf der Jahrestagung des Währungsfonds in Tokio einen zweiten Schuldenschnitt für Griechenland, da die Schuldenquote des in eine Depression »gesparten« Landes abermals die Marke von 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu überschreiten droht. Zugleich forderte der Brüsseler Think-tank Bruegel die Einführung eines Nullzinssatzes für die griechischen Hilfskredite und eine Verlängerung ihrer Laufzeiten.

In Berlin stießen diese Initiativen auf Ablehnung, wie die Schweizer »Wochenzeitung« (»Woz«) am 22. November berichtete: »Schäuble will den Sparkurs in Griechenland nicht etwa lockern, sondern sogar noch verstärken und zusätzliche Kontrollmechanismen einführen.« Bis zur Bundestagswahl im Herbst 2013 wolle Schäuble den krisenpolitischen »Offenbarungseid« verhindern, so die »Woz«, sodass Griechenland auch weiterhin »um jede weitere Hilfszahlung bangen und den Gürtel noch enger schnallen« müsse. Deutsche Europa-Politik ist damit auch zu einer Variablen der deutschen Innenpolitik geworden. In keinem anderen Euro-Land wurde der Sparterror, den Berlin Anfang 2012 mit dem Fiskalpakt auf europäischer Ebene institutionalisieren ließ, so konsequent und rücksichtslos durchgehalten wie in Griechenland. Bei der Erfassung der Verheerungen, die der sozioökonomische Kahlschlag dort hinterließ, lassen sich durchaus Parallelen zu Kriegsfolgen ziehen. Denn im Endeffekt handelt es sich bei der Troika-Politik um einen Wirtschaftskrieg, mit dem in deutscher Tradition auch ein »Exempel« (Markus Söder) statuiert werden soll. Seit Ende 2008 befindet sich Griechenland in einer Rezession, die das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis dato um gut 20 Prozent schrumpfen ließ. Dabei wird dieser Abwärtssog selbst den Prognosen der griechischen Regierung zufolge noch lange andauern. Athen geht davon aus, dass bis 2014 das BIP sogar um ein Viertel schrumpfen wird.

Diese Minderung der Wirtschaftsleistung wird wesentlich durch den Zusammenbruch der von Kleinbetrieben geprägten und hauptsächlich für den Binnenmarkt produzierenden griechischen Industrie bewirkt: Der griechische Industrieproduktionsindex ist gegenüber seinem historischen Hoch im Jahr 2000 sogar um knapp 30 Prozent eingebrochen. Einen regelrechten Absturz gab es im Bausektor, dessen Produktionsindex im zweiten Quartal 2012 um 82 Prozent gegenüber seinem Höchststand vor Krisenausbruch abfiel. Diese zusammenbruchsförmigen Kontraktionen sind auf den massiven Rückgang der Binnennachfrage in der Folge der fünf zwischen März 2010 und November 2012 gegen den massiven Widerstand der griechischen Bevölkerung durchgesetzten Austeritätsprogramme zurückzuführen. Die Griechen wurden von Berlin und Brüssel buchstäblich auf Hungerdiät gesetzt, da selbst der Absatz von Lebensmitteln und Getränken Mitte 2012 um 35,4 Prozent unter dem Vorkrisenwert von Anfang 2008 lag.

Zwei Faktoren beförderten dieses Fiasko: der gezielt von der Krisenpolitik bewirkte Rückgang des Lohnniveaus und der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit. Berechnungen des Wirtschaftsblogs »Querschüsse.de« zufolge sind die realen Arbeitnehmerentgelte in Griechenland zwischen dem ersten Quartal 2010 und dem ersten Trimester 2012 um 31 Prozent zurückgegangen. Bei solch einem massiven Rückgang der Masseneinkommen in nur zwei Jahren würde »jede Wirtschaft dieser Welt nahezu kollabieren«, konstatierten die »Querschüsse«. Diese Lohnsenkung geht mit einer Explosion der Arbeitslosigkeit einher, die laut offiziellen Zahlen inzwischen auf 26 Prozent angestiegen ist und bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter 25 Jahren auf 56 Prozent kletterte. Es ist ein regelrechter Kollaps der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft in Hellas, der nun eine Generation von Lohnangängigen hervorbringt, für die Lohnarbeit nur noch ein Echo vergangener Zeiten ist.

Griechenlands ökonomischer Zusammenbruch wurde mittels eines Maßnahmenbündels herbeigeführt – massive Erhöhung der Konsumsteuern (allein die Mehrwertsteuer wurde von 19 auf 23 Prozent angehoben), Massenentlassungen, Lohnkürzungen im Öffentlichen Dienst, Rentensenkungen, allgemeine Prekarisierung des Arbeitslebens –, das vorgeblich der Wiederherstellung der »Konkurrenzfähigkeit« der griechischen Ökonomie dient, wie der populäre Ökonom Hans Werner Sinn noch Mitte 2012 in einem Interview mit »Focus Online« ausführte: »Die Löhne sollten gekürzt werden, denn damit sinken die Preise. Ein Land, das zu teuer geworden ist, muss billiger werden.« Griechenland müsste laut Sinn noch um weitere 30 Prozent »billiger« werden, bei Portugal wären 35 Prozent fällig, in Frankreich und Spanien müsse es eine Abwertung um 20 Prozent geben, in Italien um »zehn bis 15« Prozent. Wir erinnern uns: Zu diesem Zeitpunkt hatte Hellas bereits um rund 31 Prozent »abgewertet«.

Tatsächlich hat die extreme Verbilligung des Preises der Ware Arbeitskraft dazu beigetragen, das griechische Handelsdefizit enorm zu senken – im vergangenen September betrug es beispielsweise nur noch 1,3 Milliarden Euro –, doch ist dieser Rückgang nicht auf eine stärkere Exportdynamik zurückzuführen, sondern auf die massiven rezessionsbedingten Einbrüche bei den Importen. Zusammenbruchsökonomien produzieren keine nennenswerten Leistungsbilanzdefizite, weil auch die Warennachfrage im Gefolge des Wirtschaftsschocks kollabiert. Die deutsche Kanzlerin bringt es in ihrer Regierungserklärung hingegen fertig, diesen Kollaps in einen »ersten Erfolg« der deutschen Krisenpolitik umzuphantasieren.

Ebenso desaströs wie die Wirtschaftsbilanz fällt die Bilanz der Bemühungen um eine Haushaltskonsolidierung in Athen aus. Inzwischen würden es Griechenlands »Retter« in Berlin und Brüssel als Erfolg werten, wenn das Mittelmeerland wieder den Schuldenstand von rund 120 Prozent des BIP erreichen würde, den es kurz vor der Durchsetzung der ersten von Berlin mit nahezu sadistischem Eifer oktroyierten Sparmaßnahmen Anfang 2010 ausgewiesen hat. Der ökonomische Mechanismus, der die griechische Schuldenkrise verschärft hat, ist hinlänglich bekannt: Sparmaßnahmen und Lohnsenkungen lassen die Binnennachfrage absacken, was zu Wirtschaftseinbruch, steigender Arbeitslosigkeit, sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben führt. In Folge der »Sparpolitik« wächst somit das Haushaltsdefizit, da die Einnahmeausfälle und Mehrausgaben das Volumen der Kürzungen übersteigen. Die so verfehlten Sparziele ziehen eine weitere Kürzungsrunde nach sich, womit ein abermaliger Durchgang durch die deflationäre Abwärtsspirale aus Rezession, Verelendung und staatlichen Einnahmeverlusten initiiert wird. Die durch die deutschen Sparvorgaben ausgelöste Rezession führt ohnehin dazu, dass die Relation zwischen den akkumulierten Staatsschulden und der Wirtschaftsleistung des betroffenen Landes sich immer weiter verschlechtert. Griechenlands Schuldenberge würden somit in Relation zum beständig schrumpfenden BIP immer weiter wachsen, selbst wenn das Land plötzlich einen ausgeglichenen Haushalt vorlegte.

Auch andere europäische Krisenstaaten sind längst von einer ökonomischen Abwärtsspirale à la Griechenland erfasst worden. Die Arbeitslosenquote in Spanien etwa explodierte in den letzten vier Jahren von acht auf mehr als 26 Prozent. In Portugal – das allein im vergangenen Jahr eine Senkung der Reallöhne um durchschnittlich 11,5 Prozent verkraften musste – sind inzwischen knapp 17 Prozent aller Lohnabhängigen arbeitslos. In Italien stieg nach der Umsetzung erster Austeritätsmaßnahmen die Zahl der Arbeitslosen im Rezessionsjahr 2012 um 609.000 auf 2,71 Millionen. Laut Eurostat stieg die Erwerbslosenquote südlich der Alpen allein in den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres von 9,5 auf 11,1 Prozent.

Alle südeuropäischen Krisenländer befinden sich inzwischen in einer Rezession, die eine Haushaltssanierung illusionär macht und nur neue Sparrunden – vor allem in Spanien und Portugal – nach sich zieht. Alle paar Monate müssen die dem deutschen Spardiktat unterworfenen Länder das Verfehlen der Sparziele melden, was in stupider Redundanz weitere Forderungen nach noch härteren Einschnitten aus Brüssel und Berlin nach sich zieht. Selbst Irland, das aufgrund seiner konkurrenzlos niedrigen Unternehmenssteuersätze (die bezeichnenderweise bei den rigiden irischen Sparmaßnahmen unangetastet geblieben sind) als eine Art Niedrigsteueroase und ökonomischer Flugzeugträger außereuropäischer Konzerne in der Euro-Zone fungiert, befindet sich nach dem Ende der Rezessionsphase 2010 in einer Stagnation.

Der deutsche Sparfetisch wirkt derweil in der gesamten EU, ja in der Weltwirtschaft, wie eine konjunkturelle Bremse. Die Arbeitslosigkeit im europäischen Währungsraum ist von 15,9 Millionen 2010 auf 18,7 Millionen im vergangenen Oktober geklettert, wobei sie Prognosen zufolge in diesem Jahr auf 20 Millionen anschwellen soll. Die Sparvorgaben in der Euro Zone sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Währungsraum sich bereits offiziell in einer Rezession befindet, während der Nachfrageeinbruch im Euro-Raum zur Konjunkturabkühlung in China (Europa war dessen wichtigster Absatzmarkt) und in vielen weiteren Schwellenländern beigetragen hat.

Es ist inzwischen evident, dass die sozioökonomischen Schockwellen, die im Gefolge der deutschen Sparpolitik ganz Südeuropa erschüttert haben, dauerhafte strukturelle Veränderungen nach sich ziehen. Die gegenwärtige Rezession in Südeuropa wird nicht mehr von einem späteren »Aufschwung« abgelöst werden, der den Status quo ante wiederherstellen könnte. Die Einbrüche der Industrieproduktion in Südeuropa um bis zu 35 Prozent (Portugal) deuten vielmehr auf eine permanente Deindustrialisierung dieser Länder hin. In der Peripherie der EU findet somit ein dauerhafter wirtschaftlicher und sozialer Abstieg statt. Es ist, als ob die »Dritte Welt« sich von Nordafrika über das Mittelmeer nun bis nach Südeuropa ausbreiten würde. Die Krise löst damit ein weiteres Abschmelzen der Wohlstandsinseln der sogenannten »Ersten Welt« aus, das Elend rückt immer näher an die Zentren Europas heran.

Hunger und Mangelernährung nehmen in Südeuropa rasant zu. Allein in Griechenland werden inzwischen täglich rund 250.000 Essensrationen an Bedürftige verteilt. In Portugal sollen knapp 30 Prozent der Bevölkerung an mindestens »einem Tag im Monat« nichts zu essen haben, während ein Drittel der portugiesischen Rentner Hunger leidet oder unterernährt ist. Andalusien, das Armenhaus Spaniens, weist inzwischen eine Arbeitslosenquote von 33 Prozent auf – laut Caritas gibt es in dieser Region in rund 350.000 Familien Fälle von Unterernährung. Das Heer der Obdachlosen hat sich in den Ballungsräumen Südeuropas seit Ausbruch des neuen Wirtschaftskrieges verdreifacht; immer mehr Zwangsräumungen von Häusern und Wohnungen werden durchgeführt, die Ende 2012 eine regelrechte Selbstmordwelle auslösten (siehe dazu den Beitrag auf S. 16). Auf der spanischen Halbinsel stehen rund 800.000 Wohnimmobilien leer, die während des spekulationsgetriebenen Baubooms bis 2008 errichtet wurden, während die Obdachlosigkeit gegenüber dem Vorkrisenjahr 2005 um 55 Prozent gestiegen ist.

Längst zersetzt die Krise auch die wichtigsten zivilisatorischen Errungenschaften der vergangenen Dekaden. Das griechische Gesundheitswesen etwa ist inzwischen kollabiert, da pauperisierte Patienten und Arbeitslose zunehmend aus der Krankenversicherung gedrängt und viele Medikamente nur noch gegen Barzahlung verabreicht werden. Spaniens Bildungssystem befindet sich ebenfalls auf einer Zeitreise in die Vergangenheit, nachdem die konservative Regierung im Zuge ihrer Sparmaßnahmen die Bildung größerer Schulklassen angeordnet hat, in die nun mehr als 30 Schüler gepfercht werden. In Europa sind inzwischen Phänomene zu beobachten, wie sie aus dem Zerfall des Staatssozialismus osteuropäischer Prägung bekannt sind: Mitunter ist eine Tendenz zur Wiederaufnahme der Subsistenzwirtschaft festzustellen wie auch eine Zunahme separatistischer (Katalonien, Flandern, Norditalien, Schottland) und faschistischer Bestrebungen.

Außerhalb Deutschlands, dessen Öffentlichkeit die momentane Verelendung der »Südeuropäer« in der Regel auf deren Mentalität zurückführt, wird die Verantwortung der Bundesregierung für dieses Desaster durchaus kritisch thematisiert. Diese oft historisch unterfütterte antideutsche Kritik blieb nicht nur auf die südliche Peripherie der Euro-Zone beschränkt. Mitte 2012 ließ etwa der linksliberale britische »New Statesman« auf seinem Titel Angela Merkel als Sparterminator darstellen, der dabei ist, Europa zu zerstören. Kritik an der deutschen Haltung übten die Leitmedien nahezu aller westlichen Länder. Deutschland habe aus der Geschichte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts »nichts gelernt«, klagten etwa der britische Historiker Niall Ferguson und der US-Ökonom Nouriel Roubini, da die Bundesregierung eine Politik betreibe, die derjenigen ähnele, die zum »Zusammenbruch der Demokratie« ab 1933 geführt habe. Der niederländische »Groene Amsterdammer« bezeichnete das von Prekarisierung und Leistungshetze gekennzeichnete drakonische Arbeitsregime in der zum europäischen Vorbild stilisierten Bundesrepublik als »Aldi-Wirtschaft mit Flatratebordellen«.

Die neuerliche europaweite Etablierung des Bildes vom »hässlichen Deutschen« ließ sich hierzulande nicht ignorieren: »Weltweit bricht die Konjunktur ein, der Euro-Zone droht der Zusammenbruch, und alle Welt zeigt auf der Suche nach einem Schuldigen mit dem Finger auf Deutschland«, jammerte etwa Springers »Welt Online« im Juni. Wie man damit umzugehen gedenkt, machte exemplarisch der »Spiegel Online«-Rechtsausleger Jan Fleischhauer klar: »Wir sind jetzt die Amerikaner Europas. Der Rollenwechsel wird nicht leicht, das kann man schon heute sagen. Wir sind es gewohnt, dass man uns für unsere Effizienz und unseren Fleiß bewundert, nicht, dass man uns dafür hasst.« Deutschland sei nun mal »aus Sicht anderer … zu erfolgreich, zu selbstbewusst, zu stark«, so Fleischhauer in all der Unverkrampftheit, mit der in Deutschland wieder Ressentiments formuliert werden. Süd- und Osteuropa spielen in dieser realitätsmächtigen Vorstellungswelt längst die Rolle eines europäischen Lateinamerikas.

Der kausale Zusammenhang aber zwischen dem »Erfolg« Deutschlands und der dramatischen Verschärfung der südeuropäischen Schuldenkrise zählt zu den größten Tabus der teutonischen Krisenideologie. Das deutsche »Wirtschaftswunder« fußt auf einem gigantischen Schuldenberg, der mittels der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse vornehmlich in der Euro-Zone angehäuft wurde. Auf genau 700,75 Milliarden Euro summierten sich im Zeitraum zwischen der Einführung des Euro als Buchgeld im Januar 1999 und dem dritten Quartal 2012 die Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik gegenüber den Ländern der Euro-Zone. Sie sind im wesentlichen auf die Überschüsse Deutschlands im Handel mit den übrigen Ländern der Euro-Zone zurückzuführen, die mit der Einführung des Euro und der Umsetzung der Schröderschen Agenda 2010 regelrecht explodierten, da die europäische Einheitswährung den Euro-Ländern die Möglichkeit nahm, mit Währungsabwertungen auf die Exportoffensiven der deutschen Industrie zu reagieren. Und natürlich sind die Überschüsse der Bundesrepublik für die Zielländer der deutschen Exporte die korrespondierenden Defizite, die nur per Schuldenbildung – exakt im Umfang der besagten 700,75 Milliarden – ausgeglichen werden konnten.

Dass die Euro-Krise auch die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands gegenüber seinem »Vorhof« einbrechen ließ, ist für die deutsche Wirtschaft bis dato kein Problem, da der damit einhergehende Währungsverfall des Euro zugleich die deutschen Exporte ins außereuropäische Ausland befördert. Dort konnten die Einbußen sogar überkompensiert werden, sodass der deutsche Leistungsbilanzüberschuss in den ersten zehn Monaten des Jahres 2012 mit 133 Milliarden Euro sogar um rund 20 Milliarden über dem Wert des entsprechenden Vorjahreszeitraums lag. Die deutschen Überschüsse im Euro-Raum betrugen nur noch 58 Milliarden Euro  (vornehmlich gegenüber Frankreich), während die deutsche Exportindustrie stark von den amerikanischen Konjunkturmaßnahmen im Vorfeld der US-Wahlen profitierte und im dritten Quartal 2012 einen neuen historischen Höchststand beim Leistungsbilanzüberschuss gegenüber den USA in Höhe von 12,5 Milliarden erreichen konnte. Deutschlands Wirtschaftspolitik gleicht somit dem Merkantilismus, den die Militärdespotien der frühen Neuzeit praktizierten, oder den im angelsächsischen Sprachraum als »Beggar thy neighbour« titulierten Bemühungen von Staatsführungen während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, durch Generierung von Exportüberschüssen die Krisenfolgen auf andere Länder abzuwälzen.

Um die zentrale Bedeutung dieser Exportüberschüsse für das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik abbilden zu können, ist das Statistische Bundesamt jüngst dazu übergegangen, den sogenannten Außenbeitrag – den Saldo zwischen Exporten und Importen von Waren und Dienstleistungen – bei der Konjunkturentwicklung zu publizieren. Im dritten Quartal 2012, in dem das deutsche BIP gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 0,4 Prozent zulegte, bildete der Außenbeitrag laut dem Bundesamt mit 1,4 Prozentpunkten den »treibenden Faktor«. Mehr noch: Im gesamten vergangenen Jahr wäre die BRD laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes bereits in eine Rezession gesackt, hätte es diesen extremen konjunkturellen Effekt des Außenbeitrags nicht gegeben. Die exzessive Exportausrichtung der Bundesrepublik seit der Euro-Einführung zeigt sich auch bei der Betrachtung der Konjunkturentwicklung zwischen 1999 und 2008, bei der knapp 50 Prozent des BIP-Wachstums auf den Außenbeitrag – also auf die deutschen Handelsüberschüsse entfielen. Dies ist kein Naturgesetz, sondern Folge der krisenbedingt ansteigenden globalen Handelsungleichgewichte und der repressiven Reaktion der deutschen Politik auf den Krisenprozess. Im Durchschnitt lag der Außenbeitrag der BRD zwischen 1970 und 2011 nur bei 13 Prozent.

Das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik beruht somit im wesentlichen tatsächlich auf den Schulden des Auslands – was die hierzulande grassierende Empörung über die Schuldenberge Südeuropas vollends bizarr erscheinen lässt. Doch letztlich folgt die deutsche Krisenideologie nur der Spur der deutschen Warenexporte, indem sie die Schuld für die Euro-Krise dorthin projiziert, wohin die deutsche Industrie die Widersprüche der kapitalistischen Warenproduktion exportiert. Berlin hat zwar mit der extremen Exportausrichtung der deutschen Wirtschaft und der brutalen Krisenpolitik den Verlauf der Krise maßgeblich geprägt; dennoch trägt Deutschland genausowenig die »Schuld« am Krisenausbruch wie die Länder Südeuropas. Die gigantischen globalen Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen und die ihnen zugrunde liegenden Verschuldungsprozesse sind nur Ausdruck der fundamentalen Systemkrise des an seiner Hyperproduktivität kollabierenden spätkapitalistischen Systems, wie es etwa der Werttheoretiker Robert Kurz in KONKRET 2/12 bündig beschrieben hat.

aus: Konkret 2/2013