Mad Max im Zweistromland
von Tomasz Konicz
aus: Telepolis 27.05.2013
Das um sich greifende Chaos in der arabischen Welt markiert die jüngste Phase der fortschreitenden Desintegration des kapitalistischen Weltsystems
Die Wahrnehmung des Demonstrationsrechts im „postrevolutionären“ Libyen kann zu einem ähnlichen Himmelfahrtskommando ausarten, wie es auch während der jahrzehntelangen Herrschaft des Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi der Fall war. Ein Demonstrationszug, der in der libyschen Hauptstadt Tripolis gegen das überhandnehmende Milizwesen protestierte, wurde am 11. Mai brutal von Milizionären angegriffen. Die Freischärler hätten viele Demonstrationsteilnehmer zusammengeschlagen und etliche jüngere Männer verschleppt. „Wir haben keine Ahnung, wer sie mitnahm und wo sie jetzt sind“, klagte ein Demonstrant.
Ähnliche Proteste gegen die Willkürherrschaft der schwerbewaffneten Milizverbände fanden auch in Bengasi und Tobruk statt. Die Milizen, die sich während des libyschen Bürgerkrieges 2011 formierten, um mit westlicher und saudi-arabischer Unterstützung die langjährige Herrschaft des exzentrischen und autoritären Staatschefs Muammar al-Gaddafi zu beenden, haben sich nach dessen Sturz und Ermordung nicht etwa aufgelöst – sie bestehen weiterhin als dominanter Machtfaktor fort. Aufbauend auf niemals überwundenen Stammesstrukturen haben die Milizverbände Libyen mit einem Flickenteppich regionaler Einfluss- und Machtbereiche überzogen.
Was im libyschen Bürgerkrieg tatsächlich unterging, war die Illusion von einem einheitlichen Staatsgebilde, das Ausdruck einer nationalen Identität und einer gewachsenen Nationalökonomie gewesen wäre. Libyen existiert de facto nicht mehr, übrig ist nur noch die Hülle eines Nationalstaates, in der unterschiedlichen Zentrifugalkräfte um möglichst viel Einfluss kämpfen, um sich und ihrer jeweiligen Klientel einen möglichst großen Anteil des Ölreichtums des Landes zu sichern.
Anfang Mai haben beispielsweise diverse bewaffnete Formation über zehn Tage die libyschen Außen- und Justizministerien mit schweren Waffen belagert, um ihren Forderungen nach angemessener Beteiligung am Machtapparat Ausdruck zu verleihen. Neben ehemaligen „heißblütigen Rebellenkommandeuren“ seien an der Belagerung der Regierungsgebäude auch „Teilzeitaktivisten“ und Anhänger „bewaffneter Gruppen aus diversen Regionen“ Libyens beteiligt gewesen, berichtete die BBC. Die bewaffneten Gruppierungen, deren Betätigungsfeld vom extremistischen Islamismus bis zur organisierten Kriminalität reicht, ließen sich kaum unter staatliche Kontrolle bringen, schrieb der Standard Mitte Mai, der auf jüngste Bombenanschläge und den darauf folgenden Abzug von westlichem Botschaftspersonal und Firmenmitarbeitern aus Libyen verwies.
Libyen ist zu einem „failed state“ geworden
Den Zustand eines libyschen „Staates“, der nicht mal in der Lage ist, seine eigenen Ministerien militärisch vor willkürlich agierenden Milizen zu schützen, schilderte die israelische Libyenexpertin Yehudit Ronen in einem Mitte Mai gehaltenen Vortrag an der Universität in Tel Aviv. Die westliche Intervention habe Libyen in einem „schwachen Staat“ verwandelt, der nun nicht mehr in der Lage sei, die Kontrolle über sein eigenes Territorium auszuüben, so dass nun de facto „bewaffnete Milizen die Macht an sich gerissen“ hätten. Die von Libyen – das nun zu einem Zentrum des islamistischen Terrors mutierte – ausgehenden Schockwellen hätten die gesamte Sahelregion und Nordafrika destabilisiert, erklärte Ronen.
Nicht nur der drohende Zerfall Malis, der durch die Intervention Frankreichs vorläufig gestoppt wurde, stehe im kausalen Zusammenhang mit der Desintegration Libyens, auch „Staaten wie Niger, Algerien, Tschad und Nigeria müssen mit dem negativen Folgen des Chaos“ im Gefolge des Sturzes der Ghaddafi-Diktatur fertig werden. Laut Ronen gebe es sogar Hinweise darauf, dass die nordnigerianische Terrorgruppe Boko Haram im Gefolge der libyschen „Revolution“ gestärkt worden sei. Libyen werde weiterhin in einem „schwindelerregenden Strudel gewaltsamer Unruhe“ verbleiben und auf „externe Hilfe“ zum Aufbau von Sicherheitskräften angewiesen sein, lautete Ronens Fazit.
Die fortdauernde Unruhe und Instabilität in der westlichen Sahara, die eigentlich mit der französischen Intervention in Mail beendet werden sollte, wurde übrigens am 25. Mai erneut offensichtlich, als islamistische Milizen eine Armeebasis und die Uranmine im Niger angriffen, die den Nuklearbrennstoff für die französische Atomindustrie liefern.
Die westlichen Hoffnungen auf die Etablierung eines stabilen – und nach Möglichkeit dem Westen gegenüber freundlichen – Regimes in Libyen haben sich somit trotz aller Anstrengungen der „intentionalen Staatengemeinschaft“ bislang nicht erfüllt. Trotz seines Ölreichtums droht das Land hingegen zu einem jener „gescheiterten Staaten“ (Failed States) zu verkommen, wie sie bereits in vielen Regionen der „Dritten Welt“ zu finden sind. Somalia, die Demokratische Republik Kongo, Afghanistan oder der Irak bestehen nur noch auf unseren Landkarten als geschlossene staatliche Gebilde fort, während sie in der Realität längst im Chaos der Anomie, einer normen- und strukturlosen Willkürherrschaft von Milizen, Banden und Rackets untergegangen sind.
In verschiedenen Ausprägungsstufen und Intensitäten breiten sich diese Regionen des anomischen Chaos in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer weiter aus, sie finden sich in großen Teilen des subsaharischen Afrikas, wie auch in Anfangsstadien in Mittelamerika und Mexiko, wo die Drogenkartelle (deren Geschäftsmodell dem der Taliban entspricht) längst das Machtmonopol des mexikanischen Staates ausgehöhlt haben. Die zentrale Organisationsform der Anomie – die in den Massenmedien zumeist fälschlich als „Anarchie“ bezeichnet wird – stellt die Bande, das Racket dar.
Hierbei handelt es sich um die Urform der Herrschaft, die sich immer in Zusammenbruchsstadien eines untergehenden Gesellschaftssystems herausbildet: Es ist ein aus den zerfallenden Machtstrukturen hervorgehender Männerbund, der die totale Loyalität und Unterwerfung nach innen mit dem totalen Krieg nach außen kombiniert. Ausgehend von den lokalen Gegebenheiten usurpiert das Racket die Macht in einer bestimmten Region, es praktiziert eine Art Plünderungsökonomie, oder es tritt gegebenenfalls als eine willkürlich handelnde „Ordnungskraft“ auf lokaler Ebene auf, während es zugleich die Ressourcen und sonstigen Einkommensquellen in der gegebenen Zusammenbruchsregionen zu monopolisieren versucht. Diese anomische Herrschaft der Rackets ist dabei kein temporäres Übergangsphänomen, wie Somalia oder die DR Kongo zeigen, die sich schon seit Jahrzehnten in diesem Zustand strukturloser Banden- und Gewaltherrschaft befinden.
Entstaatlichungskriege
Genau diese staatlichen Zerfallsprozesse haben nun auch Syrien erfasst. Auch in diesem arabischen Land findet ein Entstaatlichungskrieg (Robert Kurz) statt. Bei einem Sturz des Assad-Regimes (der angesichts der jüngsten militärischen Erfolge des Regimes aber in weite Ferne rückt) wird das Land von einem ähnlichen Prozess der „Balkanisierung“ erfasst werden wie Libyen.
Tatsächlich laufen diese Prozesse in den von den Rebellen kontrollierten Regionen bereits im vollen Ausmaß ab. In der nordsyrischen Großstadt Aleppo, die sich teilweise in der Hand der Rebellen befindet, kämpfen bereits islamistische Milizen untereinander um die Einnahmequellen und Ressourcen in ihren Machtbereich. Mitte Mai gingen unterschiedliche Fraktionen der Rebellen in dieser ehemaligen Wirtschaftsmetropole zu wechselseitigen Entführungen über, nachdem sie sich beschuldigten, diverse Industrieanlagen zu plündern.
In den Gebieten, die sich unter der Kontrolle der unzähligen „Rebellengruppen“ befinden, blühten Willkürherrschaft und eine Gangster-Ökonomie, berichteten desillusionierte ehemalige Oppositionelle gegenüber der britischen Zeitschrift The Spectator. „Ein Facebook-Beitrag über das, was sie tun, und du bist tot“, so schilderte ein Oppositionsanhänger die Machtverhältnisse in den „befreiten“ Gebieten, die von den Milizen und Rackets beherrscht würden: „Sie sind Gangster und Diebe.“ Der Aufstand sei in einem Strudel aus „Korruption, Plünderungen und Entführungen“ untergegangen. Die ehemaligen Rebellen, die sich nach einem zweijährigen Kampf gegen das Assad-Regime verbittert in den Libanon absetzten, berichteten etwa über willkürliche Beschlagnahmungen von Lebensmittelvorräten durch Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“, die für Flüchtlinge vorgesehen waren. Neben den durch bewaffnete Gruppen durchgeführten Plünderungen und Beschlagnahmen, hat auch die beständige Konkurrenz untereinander zu den Diskreditierung der Rebellen beigetragen: „Jede Gruppe sitzt auf ihren Waffen und versucht, soviel es geht für sich selbst zu ergattern“, erklärte eine säkular orientierte Oppositionsaktivistin, die an der zunehmenden Dominanz islamistischer Kräfte innerhalb der Rebellen verzweifelte.
Spaltungen und Machtkämpfe erschüttern aber auch die dominierenden islamistischen Milizen, die dank der großzügigen Finanzierung durch die despotisch regierten Golfstaaten (Saudi Arabien, Katar) eine große Anziehungskraft für einkommenslose Milizionäre entwickeln konnten. Auch die schlagkräftigste syrische Gruppierung, die islamistische Nursa-Front, ist von den Spaltungsprozessen betroffen. Die syrische Nursa Front befinde sich „in Desintegration“ erklärte ein Rebellenkommandeur, nachdem irakische sunnitische Islamisten immer stärkeren Einfluss in der Gruppierung ausübten. Es gebe nun „zwei Nursas“, so der Kommandeur: Eine verfolge die Ziele Al-Qaidas und eine kämpfe im Rahmen einer „nationalen Agenda“ für den Sturz des Assad-Regimes.
Die Loyalitäten und Allianzen in der unübersichtlichen Fülle an lokalen Rebellengruppen würden ohnehin von den aktuellen Finanzströmen und Finanzierungsquellen beeinflusst, bemerkte die Financial Times (FT). „Ein paar Bataillone haben mehrere Namen – sie versprechen diesen oder jenem Finanzier Loyalität, und dann nehmen sie Geld von jemand anderem“, erläuterte ein Analyst gegenüber der FT. Die Fluktuation innerhalb der Rebellenbewegung sei deshalb sehr hoch, wie ein Unternehmer ausführte: „Gerade jetzt sind sie in dieser Brigade, danach in einer anderen. Sie folgen dem Geld.“ Was die Financial Times hier beschreibt, ist das Berufsbild des Söldners. Der Kampf gegen das Assad-Regime ist für viele Rebellen zu einem Broterwerb geworden, bei dem sie sich dem finanzkräftigsten Akteur anschließen.
Ökonomien des Zusammenbruchs
Die mit diesen Entstaatlichungskriegen einhergehende Zusammenbruchs-Ökonomie kann derzeit an den syrischen Erdöllagerstätten an der Grenze zum Irak studiert werden, die von der Nursa-Front übernommen wurden. Mit archaischen Methoden, wie sie zu Beginn des Ölzeitalters üblich waren, wird dort Öl gefördert und weiterverarbeitet, um damit die Kriegskasse der Islamisten aufzufüllen. Das von den Islamisten geförderte Rohöl wird an die lokale Bevölkerung verteilt, die es in einer Vielzahl provisorischer, kleiner Raffinerien zu Benzin und Kerosin weiterverarbeitet. In weiten Teilen Nordsyriens werden diese minderwertigen, aber noch benutzbaren Erdölprodukte wie „Früchte an Rastplätzen an vorbeifahrende Fahrer“ verkauft, berichtete der Telegraph.
Das Zentrum dieser improvisierten Ölindustrie, ein Wüstenabschnitt westlich der Stadt Rappa, biete dem Betrachter ein postapokalyptisches Bild wie aus einem „Mad Max Film“: „Hier ist der gesamte Horizont erfüllt von einer deprimierenden Szene aus wogenden Rauchwolken, aus denen sporadisch dunkle Figuren zu Fuß oder auf Motorrädern auftauchen.“ Das Letzte, worüber er bei seiner Arbeit nachdenke, sei seine Gesundheit, erklärte einer der in dieser Ölhölle schuftenden Arbeiter: „Wenn ich das hier nicht mache, wird meine Familie sterben.“
Die mit Al-Qaida im Irak verbündeten Islamisten konnten sich – auch aufgrund ihrer großzügigen Finanzierung durch die Golf-Despotien – bei den Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Ölfelder gegen andere konkurrierende Gruppen rasch durchsetzen, so der Guardian. Hierbei seien konkurrierende sunnitische Stämme und kurdische Gruppen mitunter unter Gewaltanwendung ausgeschaltet worden. „Nachdem die Oppositionsgruppen ihre Waffen gegeneinender gewendet haben, um fortan hauptsächlich um die Kontrolle über Öl, Wasser und landwirtschaftliche Nutzflächen zu kämpfen“, habe auch der militärische Druck auf das Assad-Regime im Nordosten Syriens nachgelassen.
Die Kämpfer der Nursa-Front würden „alles verkaufen, was in ihre Hände fällt“, um ihre Position in Syrien und dem Irak zu stärken, klagte ein in der Muslimbruderschaft organisierter Rebell: „Weizen, archäologische Relikte, Fabrikinventar, Ölfördermaschinen, Autos und Rohöl.“ Mitunter gebe es lokale Kooperationen zwischen Assad-Regime und Nursa-Front, die den Abtransport des Rohöls über Pipelines bis zur syrischen Mittelmeerküste ermöglichten. Die Europäische Union fördert diese islamistische Mad-Max-Industrie übrigens nach Kräften, indem sie die Sanktionen gegen syrische Ölprodukte aufhob. Die EU trage somit zum „Aufschwung dschihadistischer Gruppen“ in der Region bei, so der Guardian.
Dabei greift das Chaos in Syrien längst auch auf die Nachbarländer über. In der libanesischen Hafenstadt Tripoli liefern sich sunnitische und alawitische Gruppierungen seit Tagen sporadisch Gefechte, während sunnitische Rebellenfraktionen mit direkten Angriffen auf die schiitische Miliz Hisbollah im Libanon drohen, sollte sie ihre Unterstützung für das Assad-Regime fortsetzen. Im Irak versucht indessen die Armee, mittels einer Großoffensive die unruhige Grenzregion zu Syrien unter Kontrolle zu bringen. Rund 20.000 Mann setzt die Armee in dieser Operation ein. Im Endeffekt ist es den Islamisten um Al-Qaida im Irak und die Nursa-Front gelungen, die syrischen und irakischen Grenzregionen unter ihre Kontrolle zu bringen und dort einen „Islamischen Staat des Irak und der Levante“ auszurufen.
Selbst zehn Jahre nach der Invasion durch die USA und die „Koalition der Willigen“ stellt der Irak somit ein höchst instabiles Staatsgebilde dar, das von anschwellenden Zentrifugalkräften in seiner Existenz bedroht ist. Derzeit wird das Zweistromland von einer Welle von Anschlägen gegen sunnitische und schiitische Wohnviertel erschüttert, der Hunderte von Menschen zum Opfer fielen. Diese wechselseitigen Terroranschläge wecken Erinnerungen an den Beginn des brutalen Bürgerkriegs, der 2006 und 2007 im Irak tobte. Getragen wird diese neue Destabilisierungswelle von der unzufriedenen sunnitischen Minderheit, die sich nun unter der Herrschaft einer schiitischen Regierung benachteiligt fühlt und zunehmend eine „souveräne Region“ fordert.
Jede Intervention brachte weiteres Chaos mit sich
Inzwischen dämmert es zumindest den intelligenteren westlichen Geopolitikern und Strategen, dass sie diesen chaotischen Umbruchs- und Zusammenbruchprozess, der weite Teile der arabischen Welt erfasst hat, trotz aller kostspieligen Interventionsbemühungen nicht kontrollieren und in ihrem Sinne lenken können. Es sei gerade das in Nordafrika ausgebrochene Chaos im Gefolge der Libyen-Intervention, das den Westen davon abhalte, in Syrien eine ähnliche Intervention zu wagen, vermutet die Jerusalem Post. Ein israelischer Geheimdienstmitarbeiter erklärte gegenüber der Londoner Times, Tel Aviv würde inzwischen wieder einen „geschwächten Assad“ der drohenden Anomie in der Region vorziehen: „Der Teufel, den wir schon kennen, ist besser als die Dämonen, die wir uns nur vorstellen können, wenn Syrien ins Chaos stürzt und Extremisten aus der ganzen arabischen Welt hier an Einfluss gewinnen würden.“ Neben diesen aktuellen Beispielen ließe sich noch Afghanistan aufführen, wo der extremistische Islamismus in den 80ern mit westlicher Unterstützung seinen ersten großen Sieg erringen konnte.
Der Westen scheint somit bei seiner Nahostpolitik dem berüchtigten Zauberlehrling zu ähneln, der die Geister nicht mehr kontrollieren kann, die er vermittels seiner Interventionen ins Leben rief. Jede Intervention, jeder Regime Change, der vorgeblich der Demokratisierung und der Errichtung westfreundlicher Regime diente, bringt nur weiteres Chaos und zunehmende Instabilität hervor, die dann mit weiteren Interventionen (wie etwa in Mail) eingedämmt werden sollen.
Wieso entsteht nun keine „neue“ Ordnung aus diesem Chaos? Wieso kollabieren die bestehenden Staatsstrukturen in der arabischen Welt so leicht, ohne dass sich hieraus neue Staatsgebilde – selbst bei milliardenschweren Finanzspritzen des Westens – bilden würden? Um dieser Fragestellung auf den Grund gehen zu können, muss man sich zuerst vergegenwärtigen, dass der moderne Staat nicht etwa ein Gegenmodell zu Kapital und Markt darstellt, sondern deren notwendiges Korrektiv und Produkt bildet. Der Staat ist ein Produkt des Kapitalismus, und nicht etwa sein Gegenteil.
Eine nationale Staatsmaschinerie kann nur dann funktionsfähig bleiben, wenn eine einigermaßen funktionsfähige Nationalökonomie existiert, die mittels Steuerausgaben den Staatsapparat finanziert. Sobald dieses wirtschaftliche Fundament des Staates wegbricht, geht auch der Staatsapparat in Desintegration über; er „verwildert“, wird selbst zur Beute einiger Rackets, die ihn zur Erringung ihrer partikularen Interessen gebrauchen – bei Exklusion konkurrierender Gruppen. Geradezu paradigmatisch wird dies an den Verhältnissen im „vorrevolutionären“ Libyen oder Syrien deutlich, wo einzelne Machtcliquen oder religiös-enthnische Gruppierungen (Alewiten, Ghaddafis Clan) die Schaltstellen der Macht besetzt hielten, um so ihre Klientel zu bedienen.
Die Herrschaft der Rackets etablierte sich in diesen Ländern somit schon vermittels der Usurpierung des Staatsapparates durch einzelne Gruppierungen, lange bevor im Zuge der „Revolutionen“ – in denen die Benachteiligten und ausgeschlossenen Bevölkerungsmehrheiten rebellierten – die offene anomische Milizherrschaft erreichtet wurde. Ein Paradebeispiel für die „Verwilderung“ des Staatsapparates in der Frühphase staatlicher Zerfallsprozesse bildet natürlich das brutalste mexikanische Kartell, die Zetas, dessen Führungskaste sich aus ehemaligen Sondereinheiten der Armee rekrutierte, die ursprünglich für die Aufstandsbekämpfung aufgestellt wurden – um dann einfach die Seiten zu wechseln. Je prekärer die wirtschaftliche Basis, auf der ein Staatsgebilde fußt, desto stärker nehmen die nepotistischen, willkürlichen und kleptokratischen Tendenzen innerhalb der Staatsmaschinerie zu. Mitunter – hier vor allem im subsaharischen Afrika – bilden die Einnahmen aus Schmiergeldern oder willkürlichen „Gebühren“ und Schutzgeldern den Großteil der Einnahmen von Staatsbediensteten.
Produktion einer „überflüssigen Menschheit“
Der Krisenprozess, der die Staaten der Peripherie des kapitalistischen Systems ihrer Finanzbasis beraubte, treibt auch die Massen der marginalisierten und verelendeten Menschen in die Rebellion gegen diese unerträglichen Zustände, bei denen sich prekäre Gemüseverkäufer lieber selbst verbrennen, anstatt sich immer wieder von korrupten Polizisten schikanieren zu lassen. Die Menschen sind im Kapitalismus gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch die Lohnarbeit, den Verkauf ihrer Arbeitskraft, zu bestreiten. Zugleich nimmt die eskalierende kapitalistische Systemkrise – bei der es sich im Kern um einer Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft handelt – immer mehr Menschen die Möglichkeit, überhaupt Lohnarbeit zu verrichten.
In den meisten arabischen Krisenländern herrschte unter den jungen Männern, die nun zu den Waffen gegriffen haben und sich den nächstbesten Finanzier als Söldner andienen, eine reale Arbeitslosenquote weit oberhalb der 50-Prozent markte. Derselbe Kollaps der nachholenden kapitalistischen Modernisierung in der „Dritten Welt“, der zu einer Deindustrialisierung der meisten, ehemals als „Entwicklungsländer“ bezeichneten Volkswirtschaften führte, ließ auch eine breite Schicht an marginalisierten und absolut perspektivlosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen entstehen, die sich den Rebellionen einfach deswegen anschlossen, weil die Lebensumstände für sie einfach unerträglich wurden: „Wenn ich einen Job hätte, wäre ich nicht mal auf diesen Platz hier. Es gibt keine Chancen für uns“, so beschrieb ein jugendlicher Demonstrant gegenüber der Los Angeles Times seine Motivation, täglich auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen die Sicherheitskräfte zu kämpfen. Viele Demonstranten würden „protestieren, weil sie sonst nichts anderes hätten“, titelte die LATimes. Die Widersprüche des kapitalistischen Kreisprozesses, bei dem die Menschen mit der Lohnarbeit der einzigen Möglichkeit verlustig gehen, ihren Lebensunterhalt systemimmanent zu bestreiten, treiben somit die Menschen in die Rebellion.
Der Krisenprozess deligitimierte auch die jahrzehntelang herrschenden Regime in diesen Staaten, die sich bei der Dekolonisierung gerade die Industrialisierung und Modernisierung ihrer Gesellschaften auf die Fahnen geschrieben haben. Je stärker der Anspruch und die Realität auseinanderklaffen, je weiter die Staatsapparate sich zu einem Selbstbedienungsladen der herrschenden Seilschaften wandelten, desto stärker schwoll auch die Unzufriedenheit und Verbitterung in der ausgeschlossenen Mehrheit der Bevölkerung an. Das Chaos, das derzeit den Nahen Osten erfasst, ist somit eine Folge des Zerfalls des Kapitalismus. In einem jahrzehntelangen Krisenprozess, der von der Peripherie in die Zentren des kapitalistischen Weltsystems voranschreitet, produziert das spätkapitalistische System eine ökonomisch „überflüssige“ Menschheit, die sich aus blinder Wut und Verzweiflung gegen die bestehenden und erodierenden Machtstrukturen auflehnt, während zugleich irre Krisenideologien wie der Islamismus oder der Rechtsextremismus an Boden gewinnen.
Die mit dem Krisenprozess einhergehende politische Destabilisierung hat ja schon längst auch Europa erreicht. Griechenland, Spanien, Portugal und weite Teile Italiens weisen bereits ähnlich hohe Arbeitslosenraten auf, wie sie in den arabischen Staaten zu finden sind. Die „Dritte Welt“ hat im Gefolge der Eurokrise Einzug gehalten in Südeuropa. Längst bilden sich auch in der EU ganze Stadtteile oder Regionen aus, in denen die „Überflüssigen“ vermittels Gentrifizierung abgeschoben werden. Mittels der Riots, die Großbritannien 2011 erschütterten, der regelmäßig in den französischen Vororten ausbrechenden Aufstände, und aktuell der Unruhen in Stockholm artikuliert eine beständig anwachsende, aus dem gesellschaftlichen Leben größtenteils ausgeschlossene Bevölkerungsgruppe auch in Europa ihre wachsende Wut und Verzweiflung über ein prekäres Leben, das sie in den wuchernden Gettos führen muss, die als menschliche Abfallhalden der kriselnden Kapitalmaschinerie fungieren.
Die Krise der Kapitalismus ist somit auch eine Krise der Staaten, der spezifischen politischen Machtstrukturen, die dieses System hervorbrachte. Mit dem Wegfall einer nennenswerten wirtschaftlichen Verwertungstätigkeit von Kapital, die zumindest einem größeren Teil der Bevölkerung ein Auskommen vermittels Lohnarbeit garantieren würde, geraten derzeit die zu leeren Hüllen verkommenen Staatsapparate im arabischen Raum ins Wanken, sie stürzen aufgrund innerer Zersetzung und äußerer Rebellionen oder Interventionen wie Kartenhäuser zusammen – so wie es den Staaten Afrikas erging und wie es denen Europas ergehen könnte. Da, wo es keine kapitalistischen Nationalökonomien mehr gibt, stirbt auch der kapitalistische Staat ab. Was bleibt, ist die anomische Barbarei einer kollabierenden kapitalistischen Welt, in der alle Versuche, den Kapitalismus zu überwinden, in Blut erstickt wurden.
Tomasz Konicz Politik in der Krisenfalle Kapitalismus am Scheideweg Als eBook bei Telepolis erschienen |