Kleine Materialkunde
von Severin Heilmann
Im Grunde bleiben uns nur zwei Sichtweisen im Umgang mit dem, was wir „Tier“ nennen: Die eine, die uns erlaubt, die Welt als tauben Gesteinsklumpen zu betrachten, aus dem sich kleinere Klümpchen gesondert haben, welche sich nach und nach immer komplexer ordneten und irgendwann begannen, Bewusstsein auszudünsten. Sodann bildeten sie die Kategorie „Lebewesen“, für sich und ihresgleichen. Der Rest wandert in die Schublade „Tote Materie“; tot, trotzdem sie sich ihr verdanken.
Der andere Blick eröffnet ein Geflirre und Gewurl sondergleichen: Schon ein winziges Stück Materie, ein Kristall, ist voller Leben; Leben immerhin, wie die Wissenschaft es gelten lässt: Was sich bewegt, wächst, verstoffwechselt, sich entwickelt, auf Umweltreize reagiert, sich reproduziert und Energie verbraucht – lebt. Unter diesem Blickwinkel verliert die Rubrik „Tote Materie“ ihren Inhalt: Was ist, erscheint mehr oder weniger lebendig.
So lässt sich einerseits der Mensch samt Geist und Sinn (und wie viel mehr das ganze Getier) als einigermaßen komplex angeordneter Materiehaufen erfassen (bleibt freilich die wissenschaftlich delikate Aufgabe, zwischen mehr, weniger und ganz toten Materiehaufen zu unterscheiden). Andererseits lässt sich die Fragestellung auch kurzerhand umdrehen: Wo ist nicht Leben? Noch nicht im Stein?
Beide Auffassungen sind argumentierbar, beide legitim, die eine nicht falscher als die andere. Warum, frag ich mich, sind wir also in jenem Blick auf uns und unsere Mitwelt derartig befangen? Wieso alles Seiende so runtermachen? Warum es schmähen? Vielleicht, dass der schicke Gestus der Verachtung und seine Abqualifizierung der Welt zu einem unwirtlichen, gefühllosen Materiallager die rücksichtslose und schonungslose, mithin effiziente Ausbeutung der für tot erklärten Materie doch erheblich erleichtert?