Eine Vergangenheit, die nicht vergehen will
Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft und Sklaverei befinden sich 150 Jahre nach der Verkündung der amerikanischen Emanzipations-Proklamation wieder auf dem Vormarsch
von Tomasz Konicz
Der Jahreswechsel bot vielen Politikern und Medienschaffenden in den Vereinigten Staaten Gelegenheit, auf eine der wichtigsten politischen Entscheidungen in der Geschichte ihres Landes zurückzublicken. Am 1. Januar 1863, auf dem Höhepunkt des Amerikanischen Bürgerkrieges, trat die von US-Präsident Abraham Lincoln durchgesetzte Emanzipations-Proklamation in Kraft, mit der die Sklaverei in den sezessionistischen Konföderierten Staaten von Amerika abgeschafft wurde.
Anlässlich dieses Jahrestages bezeichnete US-Präsident Barack Obama die Proklamation als eine „moralische Kraft“, die den amerikanischen Bürgerkrieg zu einem Freiheitskampf machte: „Jede Schlacht wurde zu einer Schlacht um die Freiheit. Jeder Kampf wurde zu einem Kampf um Gleichheit.“ Die New York Times würdigte das Dokument als eine „revolutionäre Errungenschaft“, deren historische Tragweite bereits zur damaligen Zeit erkannt wurde. Amerikas düstere Vergangenheit wird derzeit auch in den aktuellen Filmen Django Unchained und Lincoln thematisiert, die sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit diesem Thema auseinandersetzen.
Dennoch scheint diese barbarische Vergangenheit selbst in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht gänzlich vergangen zu sein. Laut Schätzungen der Nichtregierungsorganisation CAST fallen jährlich zwischen 15.000 und 17.500 Personen in den USA dem Menschenhandel zum Opfer. Diese buchstäblich zu Handelswaren degradierten Menschen werden zumeist zur Zwangsarbeit im Landwirtschaftssektor genötigt oder als Sexsklaven missbraucht.
In nahezu zwei Dritteln der zwischen 2008 und 2010 von den US-Sicherheitskräften aufgedeckten Fälle von Zwangsprostitution handelte es sich bei den Opfern um Minderjährige, die ein Durchschnittsalter von 12 bis 14 Jahren aufweisen. Auch unter den Opfern von Zwangsarbeit waren Kinder und Jugendliche (mit bis zu 50 Prozent), sowie Frauen (56 Prozent) deutlich überrepräsentiert.
Schuldknechtschaft ist die am weitesten verbreitete Methode zur Versklavung von Menschen
Das Büro zur Flüchtlingsumsiedlung der US-Regierung definiert zwei Formen moderner Sklaverei, die in allerlei Schattierungen sich in vielen Weltregionen finden lassen. Zum einem ist es die Schuldknechtschaft (bonded labor), in der die Zwangsarbeiter(innen) die von ihren Sklavenhaltern festgelegten Schulden mit Arbeitsleistungen zu begleichen haben. Der Akt der Verschuldung, die Kreditaufnahme, die zumeist aus einer prekären Lage heraus erfolgt, stellt so den ersten Schritt in die Sklaverei in vielen Regionen des globalen Südens dar. Obwohl die Schuldknechtschaft kaum einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sei, stelle sie heutzutage „die am weitesten verbreitete Methode zur Versklavung von Menschen“ dar, konstatierte das Flüchtlingsbüro.
Zumeist sind die Bedingungen, unter denen die Schulden abgearbeitet werden müssen, bewusst unklar definiert oder sie unterliegen willkürlichen Änderungen seitens der „Kreditgeber“. Viele illegale Arbeitsmigranten in den Ländern der „Ersten Welt“ sind ebenfalls solcher Art der Schuldknechtschaft ausgesetzt, da sie von den Menschenhändlern genötigt werden, mit ihrer Arbeitskraft für die Kosten ihres „Transports“ aufzukmmen. Bei der Zwangsarbeit werden die betroffenen Menschen in variierenden Umfang tatsächlich als „Eigentum“ ihrer Sklavenhalter behandelt, indem sie „unter Androhung von Gewalt oder irgendeiner anderen Art von Bestrafung gegen den eigenen Willen zur Arbeit gezwungen“ werden.
Die Schätzungen über die globalen Ausmaße dieser modernen Sklaverei, die oftmals mit dem nüchternen Begriff des „Menschenhandels“ belegt wird, gingen noch in den 90er Jahren – als Zahlen zwischen zwei und hundert Millionen Sklaven zirkulierten – weit auseinander. Doch inzwischen haben sich die einzelnen Schätzungen und Analysen im Gefolge umfassender Recherchen angenähert. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO spricht von 21 Millionen Sklaven, laut der Nichtregierungsorganisation Anti-Slavery International sind 27 Millionen weltweit betroffenen, das Harvard’s Carr Center for Human Rights Policy geht von 29 Millionen modernen Sklaven aus. Damit scheint gewiss, dass in unserem spätkapitalistischen Weltsystem inzwischen mehr Menschen zu Sklaven zugerichtet wurden als während der Hochzeit des atlantischen Sklavenhandels:
Selbst wenn man davon ausgeht, dass Zahl von 27 Millionen nur eine grobe Annäherung darstellt, gibt es höchstwahrscheinliche heutzutage mehr Sklaven als in irgendeiner anderen Zeitspanne der Geschichte der Menschheit. Hier eine Zahl, um diese Perspektive zu illustrieren: Während der gesamten 350 Jahre des transatlantischen Sklavenhandels wurden 13,5 Millionen Menschen aus Afrika geraubt. Das bedeutet, dass es gegenwärtig doppelt so viele versklave Menschen gibt, als es während dieser ganzen 350-jährigen Periode gegeben hat.The Atlantic
The Atlantic zufolge weisen Süd- und Südostasien – gemeinsam mit China und vielen postsowjetischen Staaten – die weltweit höchsten Anteile von Menschen auf, die in die Sklaverei genötigt werden. Hierzu zähle auch das nordkoreanische System von Arbeitslagern, in dem 200.000 Menschen Zwangsarbeit verrichten müssen. Es gebe aber auch eine „signifikante Präsenz“ von Sklaven in Nordafrika und dem Nahen sowie Mittleren Osten, inklusive dem Libanon. In einigen Regionen Afrikas, insbesondere in Mauretanien, existierten immer noch Rudimente einer auf Abstimmung beruhenden Sklaverei, wo „die Kinder der Sklaven an die Kinder der Sklavenhalter weitervererbt werden“.
Aus dem Weltwirtschaftssystem heraus entsteht eine „Nachfrage“ nach Zwangsarbeitssystemen
Die meisten dieser Sklaven des 21. Jahrhunderts befinden sich in irgendeiner Form von ortsgebundener Leibeigenschaft, wie der vererbten Schuldknechtschaft, bei der die Schulden der Eltern auf die Kinder übertragen werden; rund 20 Prozent sind hingegen mit Gewalt oder List von Menschenhändlern entführt und in Zwangsarbeit oder Prostitution genötigt worden. Menschenhandel im Zeitalter der Globalisierung sei sehr „dynamisch und mobil“, da hierbei die neuesten Kommunikations- und Logistiktechniken angewendet werden wie in anderen „Wirtschaftszweigen“ auch. Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti etwa schwärmten auf der Insel massenhaft Menschenhändler aus, um Kinder für Zwangsarbeit und Prostitution abzugeifen.
In einem Interview mit der Wirtschaftszeitung The Economist beschrieb der Aktivist Siddharth Kara, wie traditionelle Ausbeutungsformen und die krisenhafte kapitalistische Globalisierung bei dem Boom der Leibeigenschaft in Südasien, wo rund 85 Prozent aller Leibeigenen zu finden seien, ineinandergreifen. Nahezu alle in Schuldknechtschaft befindlichen Individuen seien Angehörige niederer Klassen oder Kasten, die schon traditionell von Marginalisierung und bitterer Armut betroffen seien.
Der ansteigende ökonomische Druck lasse die Nachfrage nach Krediten bei diesen verarmten Bevölkerungsschichten rasch ansteigen, um damit überhaupt noch die elementarsten Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft stillen oder etwa Medizin im Krankheitsfall bezahlen zu können. Zugleich sei die globale Ökonomie eine „starke Kraft“, die die entsprechende Nachfrage nach Zwangsarbeit generiere. Ein Unternehmen kann den Globus auf der Suche nach „unregulierten Arbeitsmärkten“ durchstreifen, erläuterte Siddharth, um so von niedrigsten Löhnen profitieren zu können. Deswegen entstehe aus dem Weltwirtschaftssystem heraus eine „Nachfrage“ nach Zwangsarbeitssystemen, die diese „stimuliert.“ Es sind auch die nackten ökonomischen „Sachzwänge“, die zur Aufrechterhaltung dieser Schuldknechtschaft in Südasien beitragen, so Siddharth:
Manchmal spielt Gewalt eine Rolle, aber die stärkste Kraft, die Menschen in Schuldknechtschaft hält, ist das Fehlen einer reellen Alternative. Wenn du jemanden fragst, der sich in Schuldknechtschaft befindet: „Wieso machst du nichts anderes?“, dann wissen die Betroffenen zumeist, dass sie ihre Schulden eigentlich schon längst abgearbeitet haben, aber sie sagen „Ja, was soll ich tun? Es gibt nichts anderes. Ich werde verhungern, wenn ich das nicht mache. Die mageren Pennies, die ich für das hier erhalte, sind besser als gar keine Pennies.“ Die Eigentümer wissen das, die Subunternehmer wissen das, sie wissen, dass es keine Alternativen für diese Landarbeiter aus der Unterschicht gibt, sie haben keine Wahl.
Siddharth Kara
Es ist somit die Systemkrise des Kapitalismus, die den Boom unfreier, neofeudaler Arbeitsverhältnisse hervorbringt. Der kapitalistische Weltmarkt, über den die verstärkte Krisenkonkurrenz sich genauso entfaltet wie die Marginalisierung immer größerer Menschenmassen, fungiert als die treibende Kraft bei dieser Etablierung von Leibeigenschaft und Schuldknechtschaft in all jenen Gesellschaften, die hierfür die entsprechenden kulturellen und klassenmäßigen Voraussetzungen aufweisen. Das Unternehmensinteresse, in der mörderischen Krisenkonkurrenz die Ausbeutung der „Waren Arbeitskraft“ bis zum Maximum zu steigern, trifft auf den nackten Überlebensdrang all derjenigen Krisenopfer, deren einzige Alternative zum Hungertod in der Leibeigenschaft besteht.
Auch in Europa gibt es Zwangsarbeit
Das zentralasiatische Usbekistan illustriert hingegen, wie der Staat als zentraler Akteur bei der Formierung eines Systems saisonaler Zwangsarbeit agiert. Alljährlich werden Millionen Usbeken zur Ernte der Baumwolle, des wichtigsten Exportguts des verarmten Landes vom Staat mobilisiert, der seit dem Zerfall der Sowjetunion vom despotisch agierenden „Präsidenten“ Islam Karimow und seinen Familienclans kontrolliert wird. In den vergangenen Jahren mussten rund 1,5 Millionen Kinder unter härtesten Bedingungen die Baumwollernte einbringen.
Inzwischen reagierte Karimow auf die internationale Kritik und erste Boykottaufrufe gegen usbekische Baumwolle mit der massenhaften Verpflichtung von Staatsangestellten – von Lehrern, Ärzten oder Krankenschwestern – zur Erntearbeit, die rund zwei Monate dauert. Obwohl es in Usbekistan viele Arbeitslose geben soll (das Land verfügt nicht über dermaßen umfangreiche Rohstoffvorkommen wie seine Nachbarstaaten Turkmenistan und Kasachstan), werden diese nicht zur Ernte eingestellt, da dies die Profite des Staates schmälern würde, der den Handel mit dem begehrten Agrarrohstoff monopolisiert hat. Usbekistans „Präsident“ hat die Verfügungsgewalt über die Einnahmen aus dem Baumwollexport, deren Höhe ohnehin geheim gehalten wird. Ein Teil dieser Milliardenprofite aus dieser Zwangsarbeit dürfte laut Nichtregierungsorganisationen wie Cotton Campaign direkt auf die Konten des usbekischen Despoten und seiner Machtclique fließen.
Wir müssen aber gar nicht in die Ferne schweifen, um erste Anzeichen einer krisenbedingten Tendenz zur Herausbildung unfreier Arbeitsverhältnisse aufzuspüren. In Ungarn etwa wurde ein Zwangsarbeitssystem für arbeitslose Roma eingeführt, das die Kasernierung und Polizeibewachung der Langzeitarbeitslosen ermöglicht. Nach einer Frist von sechs Monaten können Arbeitslose ungarnweit zum Arbeitseinsatz behördlich beordert werden, der – nach deutschem Vorbild – ebenfalls als „gemeinnützig“ bezeichnet wird. Falls der Wohnort zu weit von der Arbeitsstelle entfernt ist, werden die ungarischen Zwangsarbeiter in Barackenlagern konzentriert, die unter Polizeiaufsicht stehen. Jedem Arbeitslosen, der sich weigert, diese schweren Arbeiten zu verrichten, wird die Sozialhilfe ersatzlos gestrichen. Diesem ungarischen „Arbeitsgesetz“ lag das deutsche Hartz-IV-System zugrunde, das ebenfalls die Einführung von Zwangsarbeit, die sogenannten Ein-Euro-Jobs, mit sich brachte, bei deren Ablehnung den Arbeitslosen die gesamte Regelleistung entzogen werden kann.
Die Zwangsarbeit, das wichtigste Merkmal unfreier Arbeitsverhältnisse, findet man somit nicht nur in den Elendsgebieten der „Dritten Welt“, sondern mitunter gleich um die Ecke in unserem Wohnort. Wo soll denn auch der grundlegende Unterschied zwischen dem Hartz IV-Empfänger liegen, der für einen Euro die Stunde Hundescheiße im Park aufsammeln soll, und dem in Schuldknechtschaft befindlichen Mitglied einer niederen Kaste in Indien? Beide werden vor dieselbe Alternative gestellt: Zwangsarbeit oder Hungertod. Beide haben somit keine Wahl.
Aus: Telepolis 19.1.2013