Der bewegte Beweger
(zu Johan Simons)
Streifzüge 57/2013
von Elfriede Jelinek *
Die Körper stehen da auf der Bühne und fragen sich, ob sie jemand sind und ob sie sich nicht vielleicht kennen müßten, sie fragen sich etwas nicht: wer sie sind. Und Johan Simons läßt sie da dahingestellt sein, als wären sie zufällig, als wären sie gar nicht da und auch keine Darsteller (Da-Steller?) für solche Fragen nach sich (oder sind das eher Fragen vor sich? Fragen, die sich die Körper gestellt haben, bevor sie sich dorthin gestellt haben?). Seine Art ist es nicht, ihnen zu sagen, wer oder was sie sind oder sein sollen, seine Art ist es nicht, zusagend zu sein, dem Publikum oder seinen Darstellern irgendetwas zu garantieren, und wäre es nur, daß sie eben da sein und dann dorthin gehen müssen; seine Art ist es nicht, etwas fest zu umreißen, nur damit es dann ohnedies ausbricht, von dort, wo sie sind, nein, aufbricht, das schon eher. Mir fällt ein Wort dafür ein: Anmut. Anmutig wirft dieser Regisseur die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler in sie hinein, und sie schauen, wie Katzen, die man in die Luft wirft (und die dann mit unruhigen, aber konzentrierten Augen abchecken, wohin sie fallen und wie sie dort landen können, vollkommen angstfrei, sie können sich auf ihre Instinkte und Muskeln ja verlassen), schon auf das Ende ihrer Flugbahn, sie passen in aller Ruhe auf, in welcher Figur sie landen werden. Eigentlich ist Johan Simons Choreograph mit Sprache. Es sieht zufällig aus, wie sein Personal auf der Bühne zusammenkommt, zum Beispiel in den Stücken Sarah Kanes. Da sehe ich diese Anmut ganz deutlich, aber auch in anderen (eher: anders) blutrünstigen Dramen (‚Titus Andronicus‘) sieht man sie. Es fließt kein Blut, denn sogar durch Theaterblut wären die Figuren ja an ihre Körper fixiert. Ihre Konturen würden stärker zutage treten. Sie sollen sich dort, in sich und um sich, wenn auch meist ohne Umsicht, aber frei bewegen können. Die schlimmsten Grausamkeiten, zum Beispiel auch in ‚Cleansed‘ von Sarah Kane, passieren, als würde nur jemand kurz seufzen, auch kichern. Es kommen sehr kleine Laute aus den Mündern, ein Klicken, manchmal ein winziger Aufschrei. Der Schrecken, daß wirklich alles möglich ist, und nicht nur auf dem Theater, ist sublimiert zu der Erkenntnis, daß es Regeln für das Inszenieren nicht geben kann, weil es für nichts Regeln gibt. Es gibt sie zwar, aber es kann sie nicht geben. Was haben Menschen mit dem zu tun, was sie sagen oder spielen? Das Wort spielen ist für diesen Regisseur, der für mich immer etwas sehr Kindlich-Staunendes (etwas zum ersten Mal sehen, das sei doch das wichtigste, für nun wirklich jedes Kind!) hat, erfunden worden. Und sein Impetus, etwas auf der und auf die Bühne zu schaffen, kommt, wie bei den meisten Schriftstellerinnen und Schriftstellern, auch bei mir, aus der Kindheit. Und in der ‚Winterreise‘ hat Johan meine Kindheit mit seiner zusammengeworfen, seine Erfahrung mit Sturm und Flut in seiner Heimat, es bläst, die Gestalten fliegen über die Bühne, weil sie wissen, daß sie landen werden (in der Wirklichkeit ertrinken sie leider oft, denn das Wasser hat keine Bretter), haargenau, nein, punktgenau in meinem eigenen Entsetzen und in meiner eigenen Schuld, aber eben: leicht und anmutig, und bei dieser Anmut denkt man nicht an Unmut, den bösen Bruder (und daß noch viel schwerere Gegenstände auch durch die Luft fliegen werden, das hat er erfahren, das hat er selber gesehen, vielleicht sogar ganze Häuser, ganze Schiffe werden aufs Trockene geschmissen sein, nicht werden, denn der theatrale Prozeß des Entstehens von etwas ist ja immer auch gleichzeitig schon seine Landung. Egal, wie die alle jetzt auf die Bühne geworfen worden sind, jetzt sind sie da und tun was, nur keine Aufregung! Ja, das ist es vielleicht bei diesem Regisseur, darauf läuft es hinaus: keine Aufregung! Aber dieses: Beruhigen Sie sich wieder und setzen Sie sich hin!, das kommt nicht, das fällt aus, denn auch der Zuschauer ist aufs höchste gefährdet durch das, was er sieht, und der sitzt nun wirklich fest in seinem Sessel), der schlimme Unmut ist verbannt worden. Und die Figuren treten zusammen, nachdem sie gelandet sind, und verhandeln etwas. Sie wissen, was das ist, das sie da tun, aber sie können es nicht sagen, oder nein, anders: Sie sagen es, weil sie es nicht sagen können (nicht daß Sie jetzt glauben, die ringen es sich ab! Im Gegenteil). Das ist keine Verhandlung über die Unfähigkeit von Darstellern, etwas dem Publikum zu zeigen, ganz im Gegenteil, die Schauspieler zeigen, daß sie etwas wissen, das sie zwar aussprechen, aber dabei doch gleichzeitig nicht ausgesprochen haben. Vielleicht entsteht dadurch die Unschärfe, man glaubt manchmal, sie sprechen alles zweifach, aber um ein Winziges phasenversetzt, dabei sind sie sie selbst und gleichzeitig ein andrer. Weil sie es vor allem mit ihren Körpern (siehe: Choreograph!) gesagt haben. Diese Sätze, die von den Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochen werden, als wären sie, wie gesagt, doppelt gesprochen, nur in dieser winzigen Differenz zu sich selbst, oder: als legte man zwei unterschiedliche Fotos von ein und derselben Person übereinander, brauchen nicht anerkannt zu werden als etwas, das gewußt worden ist, auch nicht von ihnen selbst, die die Sätze ja sprechen. Ihre Körper wissen es besser, und das ist dann schon die dritte Unschärfe, die Uneinigkeit der Person mit ihrem Sprechen, das mit sich selbst nicht einig ist. Dieser Regisseur weiß immer mehr als die Körper, aber er bringt diese dazu, daß sie eine Ahnung von sich bekommen und das auch zeigen und sagen, doch ohne es zu wissen. Ohne es scheinbar zu wissen.
Ich würde sagen, und da begebe ich mich jetzt selbst aufs Glatteis, wo ich mit Sicherheit nicht anmutig sein werde, denn ich habe das seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht, mich aufs Eis zu begeben, aber ich sage es trotzdem: Johan Simons ist ein Regisseur des Westens (den ich sehr unterscheide von der Schule des Ostens, dem Niedersausen des Hammers bei Brecht oder Heiner Müller, ja, auch streckenweise bei mir selbst), ein Mann des Westens, aber ohne Waffe und Sporen. Ein Kind des Westens? Ja, ein Kind, als Cowboy verkleidet, das paßt am ehesten. Der Regisseur kann warten, bis etwas passiert, bis etwas eintritt, das er selbst veranlaßt hat, aber es dauert, bis die Katze auf dem Boden landet, von wo sie anmutig davongeht. Oder auch dableibt. Sie selbst entscheidet, wie lange. Das ist ihr Wesen und ihre Art, die durch nichts und niemand gebrochen werden kann. Das weiß ich sicher: Johan Simons wird nie und nirgendwo Gebrochene hinterlassen. Und die Unschärfe, die vielleicht entsteht, wird eine sein, die sofort scharfgestellt ist, wenn man einen Schritt zurücktritt, auch wenn man in einem Sessel im Theater fixiert, eingespannt ist. Denn irgendwie muß sich, vom Choreographen mit leichter Hand hingeworfen (auch wenn es ein blutiges Schlachtfeld ist), alles bewegen, aber ohne zu rasseln, zu krachen, zu quietschen oder zu scheppern. Irgendwann wird er auch sagen, ob er bestimmt hat, was diese Leute da auf der Bühne treiben sollen oder nicht oder mit wem. Denn von selbst wird man da nicht draufkommen. Und vielleicht wissen es die Figuren auf der Bühne auch nicht. Bewegung kann von unscharfen Grenzen kommen, wenn man nicht viel Platz hat. Dann müssen die Bühnenfiguren eben in sich selbst landen. Wo, ist egal, sie sehen das dann schon. Und gleichzeitig wird uns der Boden unter den Füßen weggezogen, weil jede Einförmigkeit des Lebens verschwindet, die Begrenzung der gesprochenen Begriffe sich verliert, alles sich verliert in einer Bewegung, die auch im Stillstand stattfindet, so ein Wabern, etwas, das im Feuer verbrennt (Papier! Ja, meine Figuren sprechen oft Papier, aber bei Johan Simons verlieren sie ihre Grenzen, sie verbrennen, und das Sich-Auflösen ist dann das Interessante daran, obwohl sie trotzdem meine Figuren bleiben. Ihre Konturen erzeugen, bevor sie verbrannt, verschwunden sind, eine Unschärfe, und diese Unschärfe IST die Bewegung, auch wenn sich niemand rührt), das sich an den Rändern wölbt, dunkel wird und dann weg ist, bis auf einen winzigen Rest, der ja immer bleibt. Der ist nicht umzubringen. Johan Simons ist ein Regisseur, der sowieso nie was umbringen würde, und wenn, dann würde man es nicht sehen, aber wissen.
* © Elfriede Jelinek