Das Schisma von 2013
von Tomasz Konicz
Für viele konservative Kapitalismus-Fans stellt die scharfe Kritik, die Papst Franziskus in seinem apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium am Spätkapitalismus übte, zweifellos eine Art Dolchstoß dar. Aus dieser Richtung, die jahrzehntelang als treuer Verbündeter im Kampf gegen den gottlosen Kommunismus galt, hätten vor allem wertkonservative Kapitalismusapologeten – die in Krisenzeiten gerne eine Rückbesinnung auf Religion und Familie predigen – keine dermaßen radikale Kritik an der bestehenden Gesellschaftsunordnung erwartet.
An eine Realsatire erinnert etwa der Eiertanz, den der einflussreiche amerikanische Radiokommentator Rush Limbaugh bei seiner Papstkritik aufführte, um die Heerscharen gläubiger Katholiken unter seiner erzkonservativen Zuhörerschaft nicht zu verprellen. Bevor Limbaugh den Papst buchstäblich des „Marxismus“ bezichtigte, gab er seiner Hoffnung Ausdruck, die Äußerungen des Papstes seien „von Linken“, die es demnach im Vatikan zuhauf geben müsste, absichtlich missverständlich übersetzt worden.
Das amerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes forderte den Pontifex gar auf, dem Kapitalismus endlich mal den notwendigen Respekt zu zollen und etwas „Dankbarkeit“ zu zeigen. Die demütige Verbeugung des „Heiligen Vaters“ vor den Prinzipien des Kapitals wäre – wie konnte es anders sein – allein aufgrund des geheiligten Wachstums angebracht, das in den vergangenen gut 200 Jahren vom kapitalistischen Weltsystem generiert wurde, so Forbes. Dieses sei „nahezu 60 Mal so hoch wie all das gewesen, was die katholische Kirche hervorbrachte, als sie den Laden schmiss“. Ja, der Forbes-Schreiber projiziert den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand bis in die Spätantike, um die Katholische Kirche zu einer ineffizienten „sozialistischen“ Regierung des Mittelalters mutieren zu lassen.
Etwas netter, geradezu kumpelhaft bemüht sich Welt-Online, den Frevel des Papstes zu rügen. Dieser hatte es tatsächlich gewagt, eine Selbstverständlichkeit auszusprechen, die für gewöhnlich mit einem Tabu belegt ist: „Kapitalismus tötet.“ Franziskus wäre „ein ganzer Kerl“, er sei „so sehr Mensch, dass er schon fast wieder übermenschlich“ wirke, setzte die konservative Tageszeitung an. Doch er hätte den obigen Satz „besser nicht gesagt“. Stattdessen wäre ein Halleluja für die „Antriebskraft des Kapitalismus“ angebracht gewesen, „der eben doch die Menschen aus der Armut katapultiert, was die globale Entwicklung der letzten Jahre eindeutig beweist. Ein Lob der Marktwirtschaft aus seinem Munde, das hätte der Welt gutgetan.“
Auch Welt-Online ist der Ansicht, die Kirche solle gefälligst „den Kapitalismus schätzen“. Ja, tatsächlich, angesichts voranschreitender Verarmung in Deutschland, angesichts von 43 Millionen Europäern, die auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, sollen wir weiterhin die „Antriebskraft des Kapitalismus“ lobpreisen, die uns immerfort „aus der Armut katapultiert“. Es geht hier nicht um Empirie, um die Wahrnehmung der Realität – hier werden Glaubensbekenntnisse vorgetragen. Die Aussage: „Der Kapitalismus schafft Wohlstand“ stellt ein pseudoreligiöses Dogma dar, an dem nicht gerüttelt werden darf, auch wenn die sozialen Desintegrationstendenzen selbst in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems zunehmen und Tausende von verzweifelten Menschen im Mittelmeer ertrinken, die aus der zusammenbrechenden Peripherie dieses in Auflösung befindlichen Weltsystems zu entfliehen versuchen.
Auch das konservative Leitmedium der Bundesrepublik, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), spult in Reaktion auf das Evangelii Gaudium artig ihr kapitalistisches Glaubensbekenntnis ab. Zum einen glaubt auch die FAZ offensichtlich daran, dass der Kapitalismus schon immer existierte. Die Apostel, die Jesus um sich scharte, werden dort als „ganz erfolgreiche Kleinunternehmer“, als „gesunder Mittelstand“ beschrieben – sozusagen als eine Ansammlung der Olaf Henkels und der Dieter Hundts der Antike. Zugleich konstatiert die FAZ ein „äußerst distanziertes Verhältnis“ des Christentums zum privaten Eigentum und zum Reichtum. Das Christentum sei von einer „Utopie eines christlichen Kommunismus“ geprägt. Es habe den Gläubigen zudem jahrhundertelang ein „schlechtes Gewissen“ bezüglich der noblen kapitalistischen Werte wie Gier und Gewinnstreben bereitet, was sich als handfeste „Wohlstandsbremse“ erwiesen hätte. Aller historischen Forschung zum Trotz sieht auch die FAZ in der Durchsetzung des Christentums die Ursache – und nicht etwa eine Folge – der Krise und des Untergangs des autoritären und äußerst repressiven spätrömischen Reiches (mit dem sich, nebenbei bemerkt, der Autor offensichtlich identifiziert): „Der Welt predigten die Christen Armut – und in Europa gingen seit dem 5. Jahrhundert die Lichter aus.“ Was aus dieser Märchenstunde folgt, ist das übliche kapitalistische Glaubensbekenntnis: „Dass es zur Überwindung der Armut Marktwirtschaft und Kapitalismus braucht, kann dieser Papst nicht sehen.“
Bezeichnenderweise ist es somit nicht das Festhalten an archaischen Dogmen und die fortgesetzte Diskriminierung Homosexueller innerhalb der Kirche – wie sie etwa von dem schwulen katholischen Theologen David Berger angeprangert wird -, die nun unter massenmediales Dauerfeuer genommen werden, sondern es sind die einzig progressiven Momente im apostolischen Schreiben und in der Rhetorik des Papstes. Mit der zugespitzten Kapitalismuskritik dürfte der Pontifex nicht zuletzt auf die massiven, krisenbedingten Verelendungstendenzen in Spanien und Italien reagieren, den zwei wichtigsten katholischen Staaten Europas. Dennoch stellt päpstliche Kapitalismuskritik kein genuin neues Phänomen dar. Selbst der antikommunistische polnische Papst Johannes Paul II. warnte bereits 1991 vor dem Risiko des Aufkommens einer „radikalen kapitalistischen Ideologie“, die die Lösung aller Probleme „blind der freien Entwicklung der Marktkräfte“ überantworten würde.
Was ist es nun, das die Leitartikler und Meinungsmacher – die Hohepriester des Kapitalkultes – bei der jüngsten Kapitalismuskritik des Papstes dermaßen in Rage versetzt, wenn selbst solche bewährte Antikommunisten wie Johannes Paul II. des Öfteren über den Kapitalismus herzogen? Zweifellos ist es die Radikalität und die Präzision der päpstlichen Analyse, die für den breiten Unmut im bürgerlichen Medienbetrieb sorgt. Auch wenn es befremdlich scheint, aber der „Heilige Vater“ hat die Ursachen und die Folgen der kapitalistischen Dauerkrise tatsächlich – soweit dies in einem apostolischen Schreiben überhaupt möglich ist – auf den Punkt gebracht.
Wegwerfkultur
Zum einen ist es die korrekte Beobachtung, dass der Kapitalismus als Wirtschaftssystem „tötet“, die der herrschenden Weltanschauung diametral zuwiderläuft. Die Leichenberge, die die Marktwirtschaft alljährlich produziert, werden ja in der herrschenden massenmedialen Wahrnehmung entweder als ein unabwendbares Naturphänomen ignoriert oder sie werden auf individuelle Verfehlungen der Opfer zurückgeführt. Hunger, Obdachlosigkeit, Mangelernährung oder Entfremdung stellen somit für Franziskus keine unabwendbaren Schicksalsschläge oder persönlichen Verfehlungen dar, sie sind das systemische Ergebnis einer perversen Wirtschaftsweise, die materiellen Überfluss und obszönes Elend zugleich produziert.
Das Bekenntnis zur Radikalität – und somit zur Notwendigkeit eines radikalen gesellschaftlichen Wandels – legt der Pontifex allein in der Feststellung ab, wonach „das gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht“ sei. Einem jeden Lateiner ist bekannt, dass der Begriff „radikal“ aus radix, dem lateinischen Wort für Wurzel oder Ursprung, entstand. Mit gutem Grund kann der Papst somit als ein Radikalinski bezeichnet werden.
Zugleich sieht der Papst den neuartigen Charakter der massenhaften Verelendungsschübe im Spätkapitalismus. Dieser hat eine „Wirtschaft der Ausschließung“ hervorgebracht, in der „große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt [werden T.K.]: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg“. Die gesamte Gesellschaft werde den „Kriterien der Konkurrenzfähigkeit“ und „dem Gesetz des Stärkeren“ unterworfen, „wo der Mächtigere den Schwächeren zunichtemacht“. Diese Krisenkonkurrenz und die totalitäre Ökonomisierung der Gesellschaft produziert eine Klasse ökonomisch „überflüssiger“ Menschen, ein wachsendes Heer menschlichen „Mülls“ oder „Abfalls“, das den kapitalistischen Systemzwängen – insbesondere dem Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt – unterworfen bleibt, ohne ihnen jemals entsprechen zu können.
Der Papst bringt diesen Krisenprozess, diese Produktion einer „überflüssigen Menschheit“ durch den Spätkapitalismus unter dem Begriff der „Wegwerfkultur“ ziemlich exakt auf den Punkt:
Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. Wir haben die „Wegwerfkultur“ eingeführt, die sogar gefördert wird. Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht „Ausgebeutete“, sondern Müll, „Abfall“.
Bereits in dieser radikalen und zutreffenden Kritik werden etliche öffentliche Tabus des Kapitalkultes gebrochen. Der Papst spricht das Unsagbare aus: Das Kapitalverhältnis erscheint nicht mehr als ein Naturphänomen, dessen uferlose Verwertungslogik für gewöhnlich als Grundlage jedweder Denkbewegung dienen soll. Das allgegenwärtige Elend, das inzwischen sich auch in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems ausbreitet, verliert seinen naturwüchsigen Schein, es wird explizit auf die kapitalistische „Wirtschaft der Ausschließung“ zurückgeführt, die nicht etwa reformiert werden könne, sondern „an der Wurzel ungerecht“ sei.
Es ist aber die Ursachenbenennung dieser Krisentendenzen, die den Rahmen der öffentlich tolerierten Kapitalismuskritik bei Weitem sprengt – und selbst liberale Meinungsmacher wie den Zeit-Herausgeber Josef Joffe („Der Papst wünscht sich den Kapitalismus zur Hölle“) zum Widerspruch verleitet. Der Pontifex benennt hierbei den „Fetischismus des Geldes“ als Ursache, der sich zu einer „Diktatur der Wirtschaft“ verfestigt habe. Hieraus resultierte die „Leugnung des Vorrangs des Menschen“, der zu einem „Konsumgut“ der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie verkommen sei:
Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vorherrschaft über uns und über unsere Gesellschaften. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel.
Der Papst erkennt im Kapitalismus letztendlich eine weltanschauliche Konkurrenzveranstaltung, ein im Endeffekt religiös fundiertes Fetischsystem, einen kultischen Götzendienst rund um die fetischistische und uferlose, mit einem Eigenleben beseelte Verwertungsbewegung des als Kapital fungierenden Geldes. Die Menschen beten nicht mehr den jenseitigen Gott an, sondern das diesseitige „goldene Kalb“ des Kapitals. Und sie tun dies nicht nur an einem Wochentag – dem Sonntag – wie ehedem; der Kult des Kapitals wird permanent und global zelebriert. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche streben die Insassen „in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht“ danach, aus Wert mehr Wert zu machen – auch wenn bei der uferlosen Realisierung dieses absurden Selbstzwecks die menschliche Zivilisation zugrunde zu gehen droht. Diese blindwütige Anhäufung von Wert, von immer größeren Quanta verausgabter, toter Arbeit, wird dann von den massenmedialen Hohepriestern dieses fetischistischen Kultes als die dargelegte „wohlfahrtssteigernde Wirkung des Kapitalismus“ verkauft.
Der Papst als Häretiker
Den religiösen Charakter dieses Disputs – bei dem der Papst sich als kapitalistischer Häretiker outet – brachte der Publizist Christian Caryl auf seinem Foreign-Policy-Blog zum Ausdruck. Der Papst habe dazu aufgerufen, den Kapitalismus nicht mehr als eine Religion zu verehren, um hiedurch konservative Publizisten zu ellenlangen und wutschäumenden „Predigten“ zu provozieren. Für die Kapitalismusapologeten stelle die Rechtschaffenheit des kapitalistischen Systems einen „Glaubensartikel“ dar, so Caryl:
Ihre Gefolgschaft gegenüber dem System des freien Unternehmertums ist zu einer neuen, säkularen Religion geworden, und sie können die Idee nicht ertragen, dass jemand mit der spirituellen Autorität des Papstes es wagt, sie infrage zu stellen. Der Papst ist für sie einfach zu einem Häretiker geworden.
Der Papst hat den religiösen, kultischen Charakter des Kapitalismus explizit gemacht und somit dieses Schisma ausgelöst. Das renommierte US-Magazin The Atlantic spricht gar von einer Kriegserklärung des Papstes an das Kapital, die den Endpunkt einer „langen Reise vom Antikommunismus zum Antikapitalismus“ gewesen sei. Mit seinem apostolischen Schreiben habe der Pontifex „offiziell einen neuen Feind benannt“. Hiervon würden auch „progressive“ und linke Gruppen profitieren, spekuliert The Atlantic.
Wahrscheinlicher als ein „Linksschwenk“ ist aber eine strategische Neuausrichtung der Kirche unter Franziskus. Der Papst kritisiert den Kapitalismus als ein pseudoreligiöses Fetischsystem, weil der Fetischcharakter des Kapitals in seiner gegenwärtigen tiefen systemischen Krise offensichtlich wird – wo allem für die katholische religiöse Konkurrenz, die die Kapitallogik niemals zur Gänze verinnerlicht hat. In einer seit 2000 Jahren bestehenden Organisation wie der Römisch-Katholischen Kirche – die im Gegensatz zum börsennotierten Konzern durchaus eine jahrzehntelange Strategie verfolgen kann – dürfte auch noch das Bewusstsein dessen lebendig sein, dass es sich beim Kapitalismus nicht um eine ewige Konstante menschlichen Daseins, sondern um eine relativ junge und höchst krisenanfällige Gesellschaftsformation handelt, die sich erst vor wenigen Jahrhunderten durchsetzte.
Mit seiner Distanzierung vom krisengeplagten Kapitalverhältnis und dem korrespondierenden Fetischismus könnte der Papst seine Kirche somit schon mal für die kommende Zeit des globalen Umbruchs, für die Ära der sich abzeichnenden Systemtransformation in Stellung bringen.
Demnächst Teil 2: Ora et labora. Die Genese des Kapitalkultes ist eng mit der Geschichte des Christentums verwoben.
aus: Telepolis vom 25.12.2013