Bildung braucht Gastlichkeit

von Marianne Gronemeyer

* Vortrag, gehalten am 6.11.2012 im „Aktionsradius Wien“ in der Reihe „Ausstieg aus dem Hamsterrad“

„Den größten Teil dessen, was wir wissen, haben wir alle außerhalb der Schule gelernt. Schüler lernen das meiste ohne ihre Lehrer und häufig trotz dieser. … Wie man leben kann, lernt jeder außerhalb der Schule. Wir lernen, sprechen, denken, lieben, fühlen, spielen, fluchen, politisieren und arbeiten, ohne dass ein Lehrer einen Anteil daran hätte. Selbst Kinder, die Tag und Nacht unter der Obhut von Lehrern und Erziehern sind, bilden da keine Ausnahme. Ob Waisenkinder, geistig Behinderte oder Lehrersöhne, sie lernen das meiste von dem, was sie lernen, jenseits des für sie geplanten ‚Bildungsweges‘.“ Dies schrieb Ivan Illich schon 1971 in seiner Streitschrift „Deschooling Society“. – Auf Deutsch erschienen 1972 als „Entschulung der Gesellschaft“ (München 41995, das Zitat auf S. 52f). Aktuell ist das also nicht, und längst haben sich die Gemüter, die damals weltweit in große Erregung über diese Publikation gerieten, darüber beruhigt. Sie haben es vorgezogen, sie zu vergessen, statt sich mit ihr zu konfrontieren und von ihr ärgern zu lassen. Und heute diskutieren wir über die Schule, als hätte es diesen Text nie gegeben. Ich fahre also noch ein wenig fort, um Sie auf den Geschmack zu bringen: „Die Schule lehrt uns, dass Unterricht Lernen produziere. … In der Schule lehrt man uns, dass wertvolles Lernen das Ergebnis von Schulbesuch sei … und dass sich dieser Wert schließlich durch Zensur und Zeugnis messen und nachweisen lasse. Tatsächlich ist Lernen diejenige menschliche Tätigkeit, die am wenigsten der Manipulation durch andere bedarf. Das meiste Lernen ist nicht das Ergebnis von Unterweisung. Es ist vielmehr das Ergebnis unbehinderter Interaktion in sinnvoller Umgebung. Die meisten Menschen lernen am besten, wenn sie ‚dabei sind‘.“ (ebenda S. 64f)

Hier würde es sich lohnen, innezuhalten und sich in unvoreingenommener Selbstprüfung zu üben. Natürlich müssten wir, sofern wir professionelle Lehrer oder Lehrerinnen sind oder unser Einkommen als Bildungsbürokraten oder Bildungspolitiker verdienen, diese klar und unmissverständlich vorgetragenen Thesen bestreiten, andernfalls ja unsere berufliche Existenz sich ziemlich schildbürgermäßig ausnähme. Wir wären dann Leute, die unter einem ungeheuren Aufwand an Lebenszeit, Lebenskraft und Finanzen andere etwas zu lehren unternähmen, was die längst – und ohne unser Zutun sogar weit besser – können. Lernen nämlich. Wie aber, wenn wir einmal für einen Augenblick unsere verzweifelte Angewiesenheit darauf, uns als sinnvoll beschäftigt zu wähnen, beurlauben würden und uns ganz auf unsere eigene Erfahrung verlassen? Müssten wir uns dann nicht auch eingestehen, dass unser schulisches Bildungsquantum nicht sehr ausschlaggebend dafür war, dass wir und wie wir unser Leben meistern können, oft allerdings sehr ausschlaggebend dafür, dass es zuweilen nicht gemeistert werden kann.

Der offizielle Zweck der Schule

Dass in der Schule nichts gelernt wird, ließe sich notfalls verschmerzen, wenn doch sowieso das Wissenswerte außerhalb der Schule gelernt wird. Es wäre dann schlimmstenfalls kostbare Zeit verplempert worden. Tatsache aber ist, dass die Schule in dem, worin sie die ihr Anvertrauten unterweist, sehr effizient ist. Ihr heimlicher Lehrplan ist durchdringend wirksam. Wir Pädagogen sind nolens volens Agenten des heimlichen Lehrplans, auch wenn es uns gelingen mag, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen und die offizielle Zweckbestimmung der Schule beim Wort zu nehmen. Der heimliche Lehrplan aber hat für die Bildung verheerende Folgen.

Ich unterstelle also und bin darin gar nicht sehr originell, dass die Schule neben einem offiziellen Lehrplan einen heimlichen verfolgt, einen also, der der Sichtbarkeit und der ins Auge springenden Kenntlichkeit entzogen ist. Offiziell ist die Schule eine Veranstaltung, deren höchstes Bestreben es ist, möglichst viele, im Idealfall alle Mitglieder der Gesellschaft möglichst viel lernen zu lassen, um die Teilhabechancen jedes einzelnen zu mehren und seine oder ihre Lebensaussichten zu verbessern. Das klingt gut und edel und ist einer demokratischen Gesellschaft würdig. Aber natürlich soll auch das Bildungsniveau der Gesamtgesellschaft gehoben werden, um deren Position auf dem Weltmarkt zu optimieren und zu festigen. Das klingt nicht mehr ganz so gut und edel, sondern eher vorteilskalkulierend, aber doch immerhin legitim. Und das Zauberwort, das die Bildungsbemühungen adelt, heißt Chancengleichheit.

Der Glaube an das segensreiche Wirken der Schule beruht auf einer Reihe moderner Selbstverständlichkeiten, die uns so in den Kleidern hängen, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, sie zu bezweifeln. Die Unbefragtheit dieser Selbstverständlichkeiten, die von Bildungsreform zu Bildungsreform litaneihaft wiederholt und als unerschütterliche Grundannahmen mitgeschleppt werden, machen, dass der heimliche Lehrplan sein Inkognito wahren kann.

Falsche Grundannahmen

Zu diesen Grundannahmen gehört zuallererst die Überzeugung, dass Bildung knapp sei, so knapp, dass sie – leider – nicht für alle reicht und deshalb unerhörte gesellschaftliche Anstrengungen unternommen werden müssen, um den Bildungsvorrat zu mehren, so dass von dem Surplus dann auch die bisher Benachteiligten, die Bildungshabenichtse, etwas abkriegen können. Und diese Prozedur wird als ein Beitrag zur Verbesserung der Chancengleichheit propagiert.

Tatsächlich ist dies ein doppelter Etikettenschwindel. Denn erstens ist Bildung keineswegs knapp, im Gegenteil, sie ist überreichlich vorhanden, man findet sie nicht nur in Museen, Bibliotheken und anderen kulturellen Veranstaltungen, sondern buchstäblich auf der Straße: An jeder Straßenecke, in jeder Kneipe, in jedem Zugabteil, im Fußballstadion, im Theaterfoyer, in Wald, Wiese, Berg und Tal findet sich jemand, der in der Lage ist, mich dies oder das zu lehren, wovon er mehr oder anderes versteht als ich. Man muss nur herausfinden, was das sein könnte und wie die vorhandene Kenntnis zur aufgekeimten Frage kommen kann. Jede Begegnung, auf die man sich einlässt, auch die mit menschengemachten Dingen oder mit den Gebilden der Natur ist prinzipiell bildungsträchtig, solange man die Fähigkeit zu staunen und neugierig zu sein, nicht eingebüßt hat. Genau diese Fähigkeiten werden allerdings in der Schule ziemlich gründlich niedergemacht. Jeder Tag hat nicht nur 24 Stunden, sondern auch Tausende von Gelegenheiten, sich zu bilden, wenn man Augen und Ohren, Nase und Mund aufsperrt. Jeder kann prinzipiell jedes Anderen Lehrer sein. Jede/jeder, und sei er auch arm im Geiste, versteht von irgendetwas mehr als andere und ist also in der Lage, anderen dazu zu verhelfen, sich zu bilden oder bilden zu lassen. Bildung also ist nicht knapp. Knapp ist freilich schulische Bildung, der es vorbehalten ist, zertifiziert zu werden, und die darum allein und exklusiv dazu taugt, mich vor anderen auszuzeichnen und meine gesellschaftlichen Rangansprüche zu beglaubigen.

Etikettenschwindel

Damit sind wir beim zweiten Etikettenschwindel: Es wäre ein Desaster, wenn tatsächlich alle die Chance bekämen, der Weihen der höheren Bildung teilhaftig zu werden und mit dem Abiturzeugnis in der Tasche, die Schule zu verlassen. Denn: „If everybody stands on tiptoe, no-one sees better“ sagt Fred Hirsch in seiner Studie über die Social limits to Growth. Wenn alle auf den Zehenspitzen stehen, sieht niemand besser. Will sagen, die Schule muss ganz unbedingt ihre Veranstaltung so einrichten, dass nicht alle in ihr reüssieren können. Das ist ihr Beitrag zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Friedens. Wie sollte man, wenn alle die Chance bekämen, zum Schulerfolg zu gelangen, den Menschen erklären, warum in einer demokratischen Gesellschaft, in der das gleiche Recht für alle gilt, die einen im Dunkeln landen und die andern im Licht, die einen sich in den schlecht bezahlten und prekären Niederungen der Gesellschaft tummeln und die andern sich in den gehobenen Rängen sonnen. Es ist wahrscheinlich die wichtigste Aufgabe der Schule, mit der verglichen ihr Bildungsauftrag gänzlich unerheblich ist, dafür zu sorgen, dass diese Sortierung ohne Tumult vonstatten geht, weil nämlich die Erfolglosen glauben, dass sie sich ihr Versagen selbst zuzuschreiben haben. Es hat eben nicht zu mehr gereicht.

Entgegen der Doktrin des offiziellen Lehrplans kommt es also ganz und gar nicht darauf an, dass und was in der Schule gelernt wird, sondern lediglich darauf, dass sich alle nach dem Modell der Gauss’schen Normalkurve sortieren lassen. Alle müssen miteinander vergleichbar sein. Und damit das klappt, müssen sich alle an denselben Standards messen lassen. Wollte man ernstlich alle am Schulerfolg teilhaben lassen, dann müsste ja jeder nach seiner Facon selig werden können. Es müssten in der Schule so viele verschiedene Talente und Begabungen zum Zuge kommen, wie es Lernende und Lehrende in ihr gibt.

Wenn sich aber die Schule tatsächlich daranmachen wollte, allen eine Chance zu eröffnen, das ihnen Gemäße zur Erscheinung und zum Leuchten zu bringen und es zu seiner vollen Möglichkeit zu entfalten, dann gäbe es nichts mehr zu zensieren. Denn die Zensur dient ja ausschließlich dazu, die drop-outs zu identifizieren und sie ihrer Selbstachtung zu berauben.

Der heimliche Lehrplan

Auch das eine gut kaschierte Wahrheit über die Schule: Sie ist nicht daran interessiert, an ihren Schülern Könnerschaften zu entdecken und diese für die Bildung aller in Gebrauch zu nehmen, sondern daran, sie bei ihren Unfähigkeiten, Unzulänglichkeiten, bei ihren Schwächen, Mängeln und Fehlern zu behaften, denn nur dann kann sie den Glauben an ihre Unentbehrlichkeit und heilsgeschichtliche Notwendigkeit nähren. Daraus entsteht auch die irrige Vorstellung, dass Menschen zum Lernen nicht gemacht seien und durch sanften Druck oder deutlichen Zwang dazu gebracht werden müssen, es zu wollen, oder – wenn schon nicht zu wollen – es doch wenigstens zu tun. Tatsächlich muss man nur kleine Kinder dabei beobachten, wie sie sich mit nicht ermüdendem Eifer bemühen, diese oder jene selbstgesetzte Aufgabe zu bewältigen, um zu verstehen, dass die Angeödetheit, mit der junge Leute der Lernanforderung begegnen, nicht etwa eine anthropologische Konstante ist, sondern ein von der verfassten Pflichtschule erzielter „Erfolg“. Erst wenn die Lernlust den Kindern ausgetrieben wurde, werden sie ja schulreif, reif für Beschulung.

Und noch ein weiteres Element des heimlichen Lehrplans dient der Schule zur Rechtfertigung. Die Annahme nämlich, dass in der Bildung wie andernorts Konkurrenz der entscheidende Motor ist, um die schüttere Lernbegeisterung aufzumöbeln. Die Schule lehrt, dass mein Lernerfolg umso größer ist, je mehr andere ich hinter mir lasse oder drastischer noch, zur Strecke bringe. Schulisches Lernen ist ein Nullsummenspiel, bei dem es nicht darauf ankommt, Einsicht und Erkenntnis zu gewinnen, sondern Sieger zu sein. Siegen wollen erfordert aber eine gänzlich andere Bemühung und Haltung als erkennen wollen. Und tatsächlich sind beim Siegen-Wollen so viel wahrheits- und erkenntniswidrige Motive im Spiel, dass dabei jede Einsicht – außer der in die Spielregeln des Siegens – auf der Strecke bleibt. Kurzum unter Konkurrenzbedingungen hat Bildung keine Chance.

Die Komponenten, mit denen der heimliche Lehrplan ausstaffiert ist, sind damit noch nicht erschöpft. Gänzlich selbstverständlich und also unbezweifelt ist die Praxis, die Lernenden in Rudeln von Gleichaltrigen zusammenzufassen, weil man glaubt, so das Lernen zu optimieren. Aber wieso soll ich die besten Lernbedingungen dann vorfinden, wenn ich ganz unter Meinesgleichen bleibe. Es ist ja im Gegenteil nicht sehr anregend, wenn lauter Gleichaltrige die gleichen Aufgaben vorgesetzt bekommen und alle an denselben Standards gemessen werden. Solche Vereinheitlichung dient keinesfalls ihrer Bildung, sondern schafft die Möglichkeit, Lernen verfahrensmäßig zu organisieren und die Vergleichbarkeit der Lernenden sicherzustellen.

Und auch das gehört zum schulischen Ritual unverrückbar dazu, dass das Lernen in 45-Minuten-Einheiten zerhackt wird. Wehe, wenn sich wider alles Erwarten doch ein Interesse am Gegenstand regt, wenn die Schüler sich verfangen und in eine Sache mit Leib und Seele hineingeraten. Die Schulglocke sorgt dafür, dass sie schnell wieder abgekühlt werden. Enthusiasmus interruptus. Ein Schultag verlangt den Schülern ab, dass sie unablässig von einem Gegenstand zum andern hetzen, bei nichts verweilen, nichts studieren und nichts lieben lernen können. Wie Wendehälse müssen sie ihre Aufmerksamkeit von einem Belang zum andern jagen. Die vier Tugenden, die Erich Fromm als Vorbedingung einer jeden Fähigkeit benennt, nämlich dass sie mit Konzentration, Disziplin, Geduld und letztem Ernst erlernt werde, wird Schülern wie Lehrern in der Schule systematisch abtrainiert.

Nicht dürfen, was man soll

All das ist fatal und macht die Schule zu einem unwirtlichen, ungastlichen Ort, an dem die Möglichkeit, sich zu bilden, der Möglichkeit, entweder Erfolge einzuheimsen oder zu versagen, geopfert wird. Verhängnisvoll aber ist, dass die Schule – und darin ist sie das genaue Spiegelbild unserer Gesellschaft, nicht etwa deren Korrektiv oder Kontrapunkt, die in ihr Tätigen in den Irrsinn treibt. Ich meine damit, dass die Schulinsassen fortwährend mit paradoxen Forderungen konfrontiert werden. Forderungen, die hohe Autorität beanspruchen und darauf pochen, erfüllt zu werden, die aber einander so grundsätzlich widersprechen, dass man ihnen, wie man sich auch dreht und wendet, nicht gleichzeitig gerecht werden kann. In der Psychologie hat sich für diese Situation der Begriff „double bind“ eingebürgert. Die Schule ist ein Ort, in dem die Menschen nicht dürfen, was sie sollen. Nicht zu dürfen, was man gleichzeitig soll, das ist in der Tat eine Situation auf die man nur in dreierlei Weise reagieren kann. Man kann an ihr krank werden, man kann gewalttätig werden oder sich in völlige Gleichgültigkeit flüchten.

Es gab einmal einen Film mit James Dean in der Hauptrolle, der die junge Generation mit dem Titel: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“, porträtierte.

In Anlehnung an diesen Titel nun also die Feststellung: Denn sie dürfen nicht, was sie sollen. Wenn ich die Gesellschaft, in der ich lebe, jemandem, der fremd ist hierzulande, in wenigen Worten beschreiben sollte, um ihre Spielregeln offen zu legen, dann würde ich sie vielleicht mit diesem Satz charakterisieren. Sie ist eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder mit der Forderung konfrontiert, dass sie sollen, was sie zugleich nicht dürfen. Das ist eine heillose und beängstigende Lage, die die Lehrenden und Lernenden durchaus miteinander teilen. Ich will sie aber zunächst aus der Perspektive der Lernenden, in Augenschein nehmen.

* Sie sollen lernen, sich sozial und rücksichtsvoll, kooperativ und solidarisch zu benehmen, aber belohnt werden sie dafür, dass sie andere in der härter werdenden Konkurrenz des Ausbildungsalltags zur Strecke bringen. Und tatsächlich sehe ich die Schüler und Studenten damit beschäftigt, wie sie, sich in den höheren Kopfrechnungsarten übend, auf Kommastellen genau, ihre Position in den heimlichen Ranglisten der Konkurrenten kalkulieren. Diese Rechenübungen scheinen mehr dazu angetan, ihre Stirn in Falten zu legen, als irgendein noch so relevanter Inhalt es je vermöchte. Der Lernerfolg misst sich nicht nach dem, was ihnen aufgegangen ist, oder was sie beunruhigt oder zum Zweifel ermutigt hat, was Fragen hat entstehen lassen, die sie unbedingt weiterverfolgen wollen, sondern an eben diesen bedrohlich schwankenden Bewegungen auf der Vergleichsskala, die ihnen jeden Mitbewerber um die begehrten Spitzenpositionen brenzlig werden lassen.

* Die Lernenden sollen lernen, aufmerksam und bei der Sache zu sein, tatsächlich aber ist der ganze konsumistische Betrieb, an dem ja das vergötzte industrielle Wachstum hängt, darauf angesetzt, sie zu zerstreuen und mit Nebensachen zu beschäftigen. Und die Frage, ob nicht die Lehrpläne längst den Supermärkten der Angebote gleichen, in deren Regale man greifen muss, um zu kriegen, was man zu brauchen glaubt, ist allzu berechtigt. Wobei unübersehbar ist, dass man nur noch brauchen darf, was im Angebot ist.

* Sie sollen lernen, Verantwortung zu übernehmen, aber sie leben in einer Welt, in der es für sie nichts zu verantworten gibt, weil alles so unverrückbar feststeht, dass sie nur noch befolgen können, was ihnen vorgeschrieben ist. Der Radius ihres Wirken-Könnens ist ja nicht annähernd so groß wie der ihres Bewirkt-Werdens.

* Sie sollen lernen, Vertrauen zu haben und zuversichtlich zu sein, erfahren aber beständig, dass man ihnen nicht traut, weshalb sie mit Kontrolle und Überwachung drangsaliert und mit Zensuren diszipliniert und entwertet werden.

* Sie sollen kreativ und erfinderisch sein, werden aber mit Dingen überschüttet und in Verfahren eingefädelt, die jede eigene Idee im Keim ersticken.

* Sie sollen Leistungen erbringen und ihren Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit nicht schuldig bleiben, tatsächlich erfahren sie tagtäglich, dass es auf sie gar nicht ankommt, dass sie für überzählig und nicht verwendbar erklärt werden.

* Sie sollen redlich und aufrichtig sein und werden von Kindesbeinen daran gewöhnt, sich vorteilhaft ins Bild zu setzen, Schwächen und Scheitern gut zu kaschieren und an sich selbst nur gelten zu lassen, was gefällt.

* Sie sollen Persönlichkeit entwickeln, erfahren aber, dass sie nur noch als Kontoposten in Budgetkalkulationen vorkommen. Nicht wer sie sind, steht in Frage, sondern, wieviel sie kosten.

* Sie sollen couragiert und mutig sein, werden aber mit Sicherheitsvorkehrungen umstellt, die ihnen jede Eigenmächtigkeit austreiben. Unlängst sah ich eine junge Mutter eine Kinderkarre schieben. „Born to be wild“, stand in aufdringlichen Lettern seitlich auf dem Fahrgestell. Und da saß dann das arme Wesen, das zur Wildheit geboren war, mehrfach angeschnallt und – bei strahlender Abendsonne – vor jedem Ein- und Andringen der Außenwelt durch einen Wind- und Wetterschutz und ein Insektengitter sorgsam bewahrt, in seinem Vehikel, in dem es umherkutschiert wurde, nach dem Richtungswillen der Erwachsenen: „born to be wild“. Mir wurde dieser Anblick, der mich mit wirklichem Mitleid für das vollkommen wehrlose Wesen erfüllte, zum Inbegriff heutiger Existenz.

Genau von dieser Art sind die Zumutungen, die eine Gesellschaft, in der die Erfolgskriterien und die Kriterien des Anstands nicht nur auseinanderdriften, sondern in vollkommen gegensätzliche Richtungen weisen, ihren Mitgliedern auferlegt. Wir haben unsere gesellschaftlichen Verhältnisse so eingerichtet, dass Autorität, Ansehen und Macht demjenigen zukommt, der andere am nachhaltigsten und durchdringendsten zu schädigen versteht. Je mehr Mitwesen ich abhänge im rat-race um die guten Posten, je mehr ich den meisten vorenthalten kann, je mehr eigene Vorteile ich zu Lasten anderer akkumuliere, desto besser, will sagen angesehener stehe ich da, desto mehr Anspruch auf Gefolgschaft der Vielen kann ich geltend machen. Erfolg wird also in Einheiten von Schaden, den ich andern zufügen kann, verrechnet. Und wir Pädagogen sind dazu ausersehen, durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, dass die Vorteilssucht hemmungslos wird. Pädagogik soll der entfesselten Egomanie, die das Triebwerk der modernen Gesellschaft ist und die darum nicht nur geduldet, sondern sakrosankt ist, Zügel anlegen, damit die Wolfsnaturen nicht ungebändigt, sondern zivilisiert gegeneinander wüten.

„Annahme verweigert!“

Vielleicht ist heutzutage die wichtigste Aufgabe von Pädagogen die, die paradoxen Forderungen, in deren Dienst sie gestellt werden, nicht weiterzugeben an die, die ihnen anvertraut oder ausgeliefert sind: „Annahme verweigert!“ Vielleicht läge die Aufgabe darin, gemeinsam mit den Lernenden die Koalition der Nicht-Einverstandenen zu begründen und ihr eine Stimme zu geben.

Wohlgemerkt, ich rede nicht davon, dass wir den Versuch unternehmen sollten, das Unvereinbare vereinbar zu machen, der Geldlogik irgendwie Spuren von Anstand einzuhauchen, sie moralisch ein wenig aufzupäppen, um sie und uns vor ihren schlimmsten Auswüchsen zu bewahren. Ich meine nicht, wir sollten die Institutionen, derer diese Logik sich bedient, humanisieren. Das wäre ein Kraftakt, bei dem wir uns bis zur Lächerlichkeit überheben und verschleißen. Ich spreche davon, dass wir überall, in den Institutionen und außerhalb ihrer, Nischen finden und gründen sollten, die sich gegen die Zumutung der paradoxen Anforderungen sperren, gastliche Orte eben, da wir uns versammeln, um freundschaftlich und aufeinander hörend miteinander nachzudenken. Es geht wohl nicht darum, es etwas besser zu machen, sondern es ganz anders zu machen, im Abseits, im Windschatten, bei jeder Gelegenheit.

Was wir den Jüngeren am sträflichsten vorenthalten, ist nicht der Lebensspaß, sondern die Teilhabe am Lebensernst, die Erfahrung, dass es auf sie wirklich ankommt. Ich bin zutiefst überzeugt, dass derjenige, der nie im Auge eines Andern eine auf ihn gerichtete Hoffnung hat aufglimmen sehen, entweder verkümmert oder um sich schlägt. Und das meint ja vielleicht im tiefsten der Begriff des Lebensernstes, dass da jemand ist, „der auf mich zählt, dem ich für meine Handlungen verantwortlich bin“, so Paul Ricoeur. „Um verlässlich zu sein“, schreibt er, „muss man das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Um das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden, muss dieser Andere auf uns angewiesen sein. ,Wer braucht mich?‘, ist eine Frage, die der moderne Kapitalismus völlig zu negieren scheint. Das System strahlt Gleichgültigkeit aus.“ Und bei George Steiner lese ich: „Heute, wo die ganze Therapie darauf hinausläuft zu vereinfachen und nur keine Anstrengung zu fordern, scheint es mir sehr viel schwieriger geworden zu sein, zur Freude zu gelangen, in Freude zu wachsen. Der Kampf, der notwendig ist, um alltägliche Schwierigkeiten zu meistern, hat überhaupt nichts Trübsinniges an sich, im Gegenteil, in dem Augenblick, da sich das Gelingen einstellt, gibt es einen Augenblick des Lachens, der riesigen Freude.“

Aber dieses Lachen hat eben nicht das Geringste zu tun mit dem Spaß, mit der Disneylandisierung der Gesamtgesellschaft, in der jeder glaubt, ein Anrecht auf Amüsierliches zu haben. Das Lachen, von dem George Steiner spricht, ist eines das aus dem Tun entspringt, aus dem Gelingen und nicht aus industriell erzeugtem, käuflichen Firlefanz und Schund, der mit der Verheißung aufwartet, dass er alle Anstrengung in Spaß verwandle. Edutainment ist ja eine dieser verabscheuungswürdigen pädagogischen Leitideen, mit denen sich die Schule beim Publikumsgeschmack anbiedern will.

Eine erst noch auszudenkende Schule

Was Aristoteles einmal über die Stadt sagte, das könnte auch in die Gründungsakte einer erst noch auszudenkenden Schule geschrieben werden. Er stellt fest, eine Stadt werde aus unterschiedlichen Menschen gemacht, ähnliche Menschen brächten keine Stadt zuwege. Damit eine Einrichtung menschlich und lebendig wäre, müsste sie also, Aristoteles zufolge, aus und von den Menschen, die sich in ihr zusammenfinden, gebildet sein. Können wir das von unseren Schulen wirklich sagen? Das würde ja bedeuten, dass die Institution sich nach den Menschen richten müsste. Ich höre aber in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion allenthalben die Forderung, dass die Menschen sich nach der Institution richten sollen. In dem einen Fall ist das Wesen der Schule bestimmt durch die unendliche Überraschung, die in jedem einzelnen schlummert, im andern Fall ist gerade die Überraschung der Störfaktor, der den reibungslosen Gang der Verfahren und Reglements, die die Institution ausmachen, durcheinanderbringt.

Die zweite unerlässliche Bedingung für das gute Miteinander ist, Aristoteles zufolge, diese unerschöpfliche Verschiedenheit der Menschen. Mit nichts scheinen nun die sogenannten Reformen aller Bildungseinrichtungen so wenig zu rechnen wie mit den überraschend verschiedenen Menschen, die die Schulen und Hochschulen bilden.

Schulreform bedeutet im Gegenteil, die Schulen und Universitäten abzusichern gegen alles Unvorhersehbare. So werden sie gesichtslos, menschenneutral, und spurenresistent.
Zur Tilgung der Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Schuleinwohner werden eben allenthalben die hochgelobten Standards etabliert, die alle vergleichbar machen sollen, damit jedem „output“ sein Marktwert zugemessen werde und damit die Kosten der „Inputs“ penibel kalkuliert werden können. Was die Schule ausmacht, ist eben nicht, dass sie aus verschiedenen Menschen gebildet wird. Ich erinnere mich an eine Zusammenkunft unter Kollegen, in der über Studienreform sinniert wurde. Ich kann Ihnen versichern, dass während einer vierstündigen Debatte weder von Studentinnen und Studenten noch von Professorinnen oder Professoren die Rede war, nicht von Sekretärinnen oder Hausmeistern oder Reinmachefrauen, von keinem einzigen Menschen und auch von keinem einzigen Inhalt, sondern nur von Verfahren, von Evaluation, Modularisierung, Schlüsselqualifikationen, Credit Points, Vergleichbarkeiten, Angebotsprofilen, outputorientierten Angebotsketten, effizienten Kontrollen, Qualitätssicherung und Marktchancen. Die Maschinierung des Lernens schreitet voran und wie bei aller Maschinierung ist die Besonderheit, der Einzelfall, die Singularität ein Störelement. Vereinheitlichung und Wiederholbarkeit sind die Prinzipien maschinellen Funktionierens.

Was wäre, wenn unser lebhaftestes Interesse nicht der Vergleichbarkeit aller, sondern der vollkommenen Unvergleichlichkeit, der absoluten Einzigartigkeit eines jeden einzelnen gälte? Was wäre, wenn wir zweitens der Überraschung, dem Unerwartbaren und Staunenswerten in der Schule Gastrecht gewährten?

Was wäre, wenn wir drittens statt der alles durchherrschenden Konkurrenz der Freundschaft und Befreundung Vorrang gäben, wenn wir also die Schule als einen gastlichen Ort begriffen, in dem die Gastfreundschaft das Miteinander regelt?

Und was – viertens –, wenn an die Stelle der Wissensvermittlung und Qualifikation das Denken und das Fragen träte?

Das klingt zunächst alles ganz harmlos und zustimmungsfähig. Tatsächlich aber erfordert es ein Umdenken von solcher Radikalität, dass dabei kaum ein Stein auf dem andern bliebe.

Ein Ort der Verschiedenheit

„Der Mensch muss dem Menschen versprochen werden“, stellt Peter Sloterdijk fest. „Was Menschen sein können, davon erfahren sie aus einem ständigen Strom von Ankündigungen, Ernennungen und Aufrufungen. … Der Mensch muss dem Menschen versprochen werden, bevor er an sich selbst erprobt, was er werden kann.“ Ich muss Hörer einer Stimme werden, „die mich zu mir ernennt und mir meinen eigensten Weg des Seinkönnens verheißt.“ Bis zu diesem letzten Satz hin hätten wir Lehrende uns noch ganz behaglich fühlen können. Sind wir nicht, jedenfalls solange wir nicht lehrensmüde geworden sind, solche, die die uns Anvertrauten anfeuern, über sich selbst hinauszuwachsen und sich nicht zu begnügen mit dem erreichten Stand der Dinge? Berufen wir sie nicht ständig zu Höherem? Stellen wir nicht beständig Aufgaben, an denen sich die Jüngeren bewähren sollen und können? Gewiss. Aber darum geht es nicht bei der Rede vom Menschenmöglichen. Es geht nicht darum, den Andern mit einer bestimmten Erwartung zu konfrontieren und ihn am Gängelband des Projektes, das ich mit ihm vorhabe, laufen zu lassen. Es geht darum, ihm seinen Weg des eigensten Seinkönnens zu verheißen. Es geht darum, dass ich Hoffnung setze auf seine Andersheit. Indem ich mir ein Bild davon mache, wer der Andere werden soll, habe ich ihn, so sagt Max Frisch es in seinen frühen Tagebüchern, schon zu meinem Opfer gemacht.

Lassen Sie mich das Gemeinte in weniger großen Worten an einer Karikatur verdeutlichen, an die ich mich undeutlich erinnere.

Unter einem, sagen wir, Affenbrotbaum ist eine Schulklasse versammelt. Der Löwe ist der Lehrer, und die Schülerschar ist ziemlich bunt zusammengewürfelt: da steht ein Elefant herum, etwas gelangweilt, eine Schlange hat ihren Kopf hochgereckt und züngelt vor Aufregung, eine Schnecke ist mitsamt ihrem Gehäuse mit von der Partie, ein Goldfisch im Glas wurde herbeigeschafft, ein Papagei hat sich eingefunden und vielleicht noch eine Maus. Der Löwe hält zu Beginn der Prozedur eine eindrucksvolle Rede über Gerechtigkeit. Gerecht solle es zugehen bei dem Bildungsvorhaben und damit es gerecht zugehe, sollten alle die gleiche Aufgabe lösen; zum Beispiel zunächst einmal die, dass alle den Affenbrotbaum erklimmen. „Ich bin schon oben“, sagt der Papagei, noch bevor es richtig losging. Das werde ich schaffen, sagt sich die Schnecke und macht sich auf den Weg, ohne zu ahnen, dass, bevor sie die Aufgabe erledigt hat, ihre Mitbewerber längst in Rente gegangen sein werden. Der Goldfisch im Glas versteht nicht einmal die Aufgabenstellung. Die Maus fragt sich, was sie da oben solle, seien da etwa Nüsse zu finden. Die Schlange ist erfolgreich, sie hat sich der Aufgabe wirklich gestellt. Und der Elefant, der natürlich keine Chance hat, sein gewaltiges Gewicht in die Höhe zu stemmen, der wird gewalttätig, er schlingt seinen Rüssel um den Baumstamm und reißt ihn unter lautem Trompeten einfach um. A propos „lautes Trompeten“, wenn das nun die Aufgabe gewesen wäre, oder wenn es darum gegangen wäre, wer sich möglichst langsam fortbewegen könne, oder wenn Schwimmen angesagt gewesen wäre?

Es ist leicht einzusehen, dass mit den heutzutage propagierten Lernstandards, an denen sich alle bewähren sollen, keine Gerechtigkeit und schon gar keine Chancengleichheit zu erzielen ist. Aber dies, dass die Einen den Anderen gegenüber von vornherein im Nachteil sind, den sie nie und nimmer aufholen können, ist nur die eine Seite der traurigen Geschichte. Noch trauriger ist es, dass wir alle, die wir in einer Gesellschaft zusammenleben, uns um das Beste bringen, um den größten gesellschaftlichen Reichtum, nämlich die unendliche Verschiedenheit der Menschen und die unbegrenzte Fülle, die in dieser Verschiedenheit zu suchen und zu finden wäre. Wie entsetzlich öde, wenn all diese Unterschiedlichkeit unter das Prinzip des Elefantischen oder Löwischen gezwungen wird, anstatt den Reichtum auszukosten, der sich daraus schöpfen lässt, dass sich verschiedenste Seinsweisen miteinander ausbalancieren. Vereinheitlichung ist immer gewalttätig. Und die Sieger dieser Gewaltausübung tun sich selbst Gewalt an. „Manches sollte man nicht sein“, schreibt Elias Canetti, „aber das Einzige, das man nie sein darf, ist ein Sieger“.

Ein Ort der Überraschung

Unübersehbar ist in unserer Epoche die geradezu panische Angst vor der Überraschung. Man kann sagen, dass alle gesellschaftlichen Kräfte in dem großen Projekt gebündelt werden, die Überraschung zu zähmen, wenn nicht gar auszumerzen, und das Leben einer totalen Berechenbarkeit zu unterwerfen. Jedes Lernziel, jeder Lehrplan, jedes reglementierende Verfahren, jede Methode und jede Kontrolle trägt die Spuren dieser Angst vor dem Unvorhersehbaren. Wir glauben vielleicht, dabei Sicherheit zu gewinnen, obwohl sich immer wieder zeigt, dass die Überraschung sich nicht an die Kandare legen lässt. Aber was wir dabei zuallererst verlieren, ist unsere Freiheit. Jede Sicherungsmaßnahme kostet Freiheit. Eines ist immer nur auf Kosten des anderen zu haben. Und die Frage, wieviel Sicherheit wir der Freiheit opfern wollen und wieviel Freiheit der Sicherheit müsste tagtäglich, ja stündlich neu entschieden werden. Aber mit Blick auf die Schulwirklichkeit wie auf die Wirklichkeit der ganzen Gesellschaft haben wir der Verbarrikadierung, der Planung und der Überwachung ein für allemal den Vorzug gegeben und die Freiheit, im Augenblick, hier und jetzt das Rechte zu tun, fristet nur noch ein Nischendasein. Hüten wir also wenigstens die Nischen.

Ein Ort der Gastfreundschaft

Die Frage, die sich unter dieser dritten Ortsbeschreibung sogleich aufdrängt, ist die, wer denn in der Schule Gast und wer Gastgeber sein sollte. Die Antwort gibt uns die Herkunft des Wortes „Gast“. „Gast“ ist mit dem lateinischen „hospes“ verwandt. Und der „hospes“ ist beides: er ist Gast und Gastgeber, jedes zu seiner Zeit. Wenn wir also von der Schule als einem gastlichen Ort sprechen, dann ist jeder des Andern Gast, aber auch jeder des Andern Gastgeber. Niemand ist nur Gebender und niemand nur Nehmender. Und daraus eben erwächst die Grunderfahrung aller Gastlichkeit. Gast und Gastgeber sind einander ebenbürtig, nicht gleich. Und aus dieser Ebenbürtigkeit erwachsen ihnen Pflichten. Mal die Pflicht des Gastgebers, der den Andern, den Fremden, beherbergt, mal die Pflicht des Gastes. Ich bemühe noch einmal George Steiner: „Die Menschen sind gegenseitig Gäste und Wirte, so wie beide Gäste des Lebens sind. Wie soll sich ein Gast seinem Wirt gegenüber benehmen? Was in seiner eigenen Macht liegt, soll der Gast zum Wohlsein … und zum Wohlstand seines Wirtes beitragen. Auf der Schwelle beim Verlassen – vergessen Sie nie, dass der Name Gottes im bescheidenen Gruß ‚Adieu!‘ steckt – soll der Dank ein gegenseitiger sein.“ Das ist doch eine schöne Metapher für das, was es heißt, einander als Gast und Gastfreund und nicht als zu bessernden, zu behandelnden, zu belehrenden, zu heilenden und zu bewertenden Anderen zu betrachten: Die Ebenbürtigkeit anzuerkennen, die darauf beruht, dass wir alle Gäste des Lebens sind.

Mein Lehrer Ivan Illich, der als Lehrer Gastlichkeit wie kein anderer gepflegt hat, hat in seinen letzten Lebensjahren eher beiläufig darauf hingewiesen, dass Wahrheitssuche und das Ringen um Einsicht überhaupt nur in einem Klima der Gastlichkeit und der Freundschaft, um den gemeinsamen Tisch herum, stattfinden können, und er rühmt den Finanzbeamten, der eingesehen hat, dass ein guter, einfacher Wein sein wichtigstes Lehrmittel sei, so dass er den dafür verausgabten Betrag von der Steuer absetzen konnte.

Ein Ort des Denkens und des Fragens

Dem Denken ist nicht viel Erfolg beschieden. Es ist nicht, wie man heute sagt ergebnisorientiert, es bringt keine Produkte hervor. Vier Eigenheiten sagt Heidegger dem Denken nach, die alle das Denken als eine Daseinsbestimmung der Schule zu disqualifizieren scheinen, denn es sind recht eigentlich keine Eigenschaften des Denkens, sondern Untauglichkeitserklärungen. „Denken führt zu keinem Wissen wie die Wissenschaften. Das Denken bringt keine nutzbare Lebensweisheit. Das Denken löst keine Welträtsel. Das Denken verleiht unmittelbar keine Kräfte zum Handeln.“

Wozu aber dann soll es gut sein? Denken scheint die nutzloseste aller Tätigkeiten zu sein. Es führt zu nichts. Und doch wurde es schon zu Sokrates’ Zeiten als so gefährlich angesehen, dass es mit dem Tode bestraft wurde. Gerade, dass es zu nichts führt, macht, dass es unaufhörlich weitergehen muss. Es vermehrt nicht die Antworten, sondern die Fragen. Das hat wohl Kafka gemeint, als er sagte, wir sollten unsere Zeit nicht an Bücher verschwenden, die nicht wie ein Eispickel über uns kämen und das, was in unserem Schädel gefroren sei, zertrümmerten. Denken zersetzt alle Gewissheit. Gewissheit ist die Zwillingsschwester des Fanatismus. Wer seiner Sache gewiss ist, der duldet keinen Widerspruch, der wird eisenhart und unbeugsam im Durchsetzen seines Willens, von keinem Zweifel angekränkelt. Hannah Arendt fragt: „Könnte vielleicht das Denken als solches – die Gewohnheit alles zu untersuchen, was sich begibt oder die Aufmerksamkeit erregt, ohne Rücksicht auf die Ergebnisse oder den speziellen Inhalt – zu den Bedingungen gehören, die die Menschen davon abhalten oder geradezu dagegen prädisponieren, Böses zu tun?“