Wohl und Depression
von Meinhard Creydt
Psychische Probleme und Erkrankungen als Symptom und zugespitzte Folge von im modernen Kapitalismus gesellschaftlich weit verbreiteten Bewusstseins- und Subjektivitätsformen zu denken – dieses Thema fristet eher ein Aschenputtel-Dasein. Unerschrocken ob dieser Lage und ob der Umfangsbeschränkung dieses Artikels zeigt er einige charakteristische Momente des depressiven In-der-Welt-Seins. Und beansprucht eine notwendige, keine erschöpfende Argumentation.
Eine spezifische Verbindung von Arbeit und Konsum bildet die konstitutive Voraussetzung für Depressionen. Man möchte seine Befriedigung in der Belohnung durch ein unspezifisches Wohl finden und meint, es sich mit seinen Opfern (in der Arbeit, in seinen Diensten für andere bzw. in all dem, was man leistet) verdient zu haben. Die entsprechende Mentalität ist einerseits arbeitsam und leistungsbeflissen, hegt andererseits konsumistische Erwartungen an eine passive Befriedigung, an ein Wohlergehen, an ein Befriedigt- und Versorgtwerden. Arbeit wird instrumentell verstanden und nicht als Herausbildung inhaltlich bestimmter Fähigkeiten und Sinne, die für das Individuum wichtig und im emphatischen und nicht nur pekuniären Sinne wertvoll für andere Menschen sind. Arbeit bzw. Leistung gelten in der entsprechenden Mentalität als Mittel zum Lebensunterhalt sowie als Mittel dafür, als ordentlicher Mensch geachtet zu werden, der nicht auf Kosten anderer existiert, oder als Mittel für die Geltung, es zu etwas gebracht zu haben.
In dieser depressionsbegünstigenden Mentalität konstellieren sich viele Bestandteile des Lebens zu einer Mischung, in der wie in manchen chemischen Verbindungen die Elemente sich gegenseitig neutralisieren. Die Arbeit ist nicht in ihrem menschlich-sozialen Inhalt von Belang, sondern als Mittel. Der Konsum ist nicht selbst etwas, sondern der Ausweis für das Wohl und den Frieden mit der eigenen Existenz.
Bei der Arbeit geht es in der depressionsfördernden Mentalität um deren Erledigung, um das Ihr-Gewachsen-Sein, nicht aber um den eigenen Sinn der Beteiligten für den menschlich-qualitativen Gehalt der Arbeitsprodukte und des Arbeitens selbst sowie des Bezugs der Arbeiten auf das Leben derjenigen, die deren Resultate konsumieren oder mittelbar von ihnen betroffen sind. Die Aushöhlung der Inhalte wird sich rächen.
Ein zweites die Depression begünstigendes Moment betrifft die Selbstwahrnehmung und die Vorstellung vom In-der-Welt-Sein. Die darin maßgebliche Absage an die die Menschen entwickelnde Auseinandersetzung und die Orientierung auf den Frieden mit der eigenen Existenz haben eine gewisse Nähe zu Freuds „Lustprinzip“. Im Unterschied zu hedonistischen Vorstellungen vom Lustprinzip empfindet Freud zufolge die Psyche die „Anhäufung von Erregung“ als „Unlust“ und setzt sich in Bewegung, „um das Befriedigungsergebnis, bei dem Verringerung der Erregung als Lust verspürt wird, wieder herbeizuführen“ (Freud, GW II, 604). „Das Lustprinzip ist dann eine Tendenz, welche im Dienste einer Funktion steht, der es zufällt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu machen oder den Betrag der Erregung in ihm konstant oder möglichst niedrig zu halten.“ (Freud, GW XIII, 67f.) Die „Absicht“ des „seelischen Apparats“ bestehe darin, „die von außen und innen an ihn herantretenden Reizmengen und Erregungsgrößen zu bewältigen und zu erledigen“ (Freud GW XI, 370). Freud orientiert sich an einem homöostatischen Prinzip, das Entspannung zur primären Grundtendenz erhebt. Das „Realitätsprinzip“ beinhaltet bei Freud keine „Ersetzung“ oder „Absetzung“ des Lustprinzips, „sondern nur eine Sicherung desselben“ (Freud VIII, 235f.). Das mit dem Lustprinzip vorgegebene übergreifende Ziel bleibt. Der Sinn für die Realität betrifft im „Realitätsprinzip“ die Realität als Mittel zur Lustbefriedigung und wendet sich gegen eine unmittelbare, ungeschickte und unkundige Weise der Befriedigungssuche. Die Beschäftigung mit der Realität als Mittel der Lustbefriedigung gilt dann als notwendiger, aber unbeliebter Umweg.
Freudloses Wohl
Die prinzipielle Orientierung an Lust ist nicht unmittelbar, sondern reaktiv. Sie drückt die Resignation aus, in der Gesellschaft keinen inhaltlich bestimmten und über Arbeiten, Tätigkeiten und Gegenstände vermittelten Bezug der eigenen Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen auf andere Menschen zu finden, der das eigene Leben positiv erfüllt. Diese Resignation liegt der Konzentration auf die eigene psychische Zuständlichkeit und auf deren abstrakte Wahrnehmung als Lust zugrunde. Beide gehören zu einer Gesellschaft, in der die Gestaltung des Arbeitens, der Gegenstandswelt und der gesellschaftliche Strukturen zunächst erst einmal Mittel zur Akkumulation des abstrakten Reichtums ist und nicht die Entfaltung des Bezugs von Menschen zueinander in ihren Sinnen, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen den Inhalt des gesellschaftlichen Reichtums bildet.
Die Suche nach dem abstrakten Wohlbefinden übergeht die schon von Platon (Gorgias 646c) am Hedonismus geäußerte Kritik, nicht Lust oder Nutzen seien die motivierenden Ziele, sondern bestimmte Dinge und Tätigkeiten, zwischen denen wir also inhaltliche Rangunterscheidungen vornehmen. Wem es nur um die Lust oder das Wohl überhaupt gehe, der möge sich am besten die Krätze wünschen, um sich besser kratzen zu können. Max Scheler (1966, 351) wendet zu Recht gegen den Hedonismus ein, Glück lasse sich nicht unmittelbar anstreben, sondern sei immer nur „auf dem Rücken“ von anderen Tätigkeiten zu erreichen. Man spielt nicht Klavier, um glücklich zu sein. Sondern: Wer Klavier spielen könne, der habe nicht nur vielleicht Glück bei den Frauen, wie ein alter Schlager meint, sondern sei glücklich, weil er Klavier spielen könne. Aus der zunächst wirtschaftlichen und dann auch seelenökonomischen Fassung des Anzustrebenden als des größten Nutzens oder größten Wohlbehagen gewinnt das Individuum keinen Aufschluss und keine Selektionshilfe, für was es sich entscheiden soll. Dafür sind inhaltliche Urteile über die zu beurteilenden Tätigkeiten oder Objekte und über ihren jeweiligen menschlich-sozialen Sinn notwendig.
In der Depression radikalisiert sich eine bereits im normalen Leben enthaltene Glücksvorstellung. Sie beinhaltet die Zielsetzung einer wunschlos glücklichen Saturiertheit. Das Individuum hat dann nicht bestimmte Werke oder Zwecke im Sinn. Als ganzes möchte es sich affimiert fühlen und zur Ruhe kommen. Die vielfältigen überanstrengenden Inanspruchnahmen als jeweiliger Leistungserbringer bleiben als Maßstab erhalten – nur eben negativ. Wo Lust drauf steht, geht es oft faktisch um die Verringerung oder Vermeidung von Unlust. Der Schlaf wird als ein alles vergessen lassender Zustand idealisiert und zum überkompensatorischen Wunschbild des zumutungsfreien Tages: „Es war nicht Ergebung, die das unvermeidliche Übel aufnimmt, nicht Abhärtung, die das ungefühlte trägt, nicht Philosophie, die das verdünnte verdaut, oder Religion, die das belohnte verwindet; sondern der Gedanke ans warme Bett war’s. Abends, dacht’ er, lieg’ ich auf alle Fälle, sie mögen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen wie sie wollen, unter meiner warmen Zudecke und rücke die Nase ruhig ans Kopfkissen.“ (Jean Paul: Schulmeisterlein Wutz)
Aus der Orientierung am überkompensatorischen Ideal des Wohls folgt – und das ist ein drittes konstitutives Moment für depressive Erfahrungsverarbeitung – die Abwertung jeder besonderen Handlung und jedes besonderen Genusses als nur sehr teilweiser Befriedigung, vermag sie doch das Allgemeine nicht einzulösen, das das Wohl verheißt. Bereits der prädepressiven Mentalität mangelt es an einer Überschreitung des Selbst, verstanden als Auseinandersetzung des Individuums mit etwas, das nicht wieder es selbst ist. Dem Betroffenen fehlt es subjektiv in seinem Horizont an emphatischen Anliegen in der Welt. Gewiss können solche Anliegen ideologisch ausfallen. Dann bildet das Absehen des Individuums von sich selbst kein Moment der Entfaltung seiner Praxis, sondern legitimiert im Dienst an einer vermeintlich großen Sache jedes individuelle Opfer: „Hat man sein Warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie.“ (Nietzsche) Zur Konzentration auf die eigene psychische Befindlichkeit motiviert auch die diffuse Angst, durch das Sich-Einlassen auf Anderes sich selbst zu verlieren. Unter anderem dieses – in seinen Grenzen rationale – Moment hemmt in der depressionsbegünstigenden Mentalität den Betroffenen dabei, sich für etwas wirklich zu interessieren. Auch das trägt zur Freudlosigkeit bei. Freude hat man an etwas oder über etwas. Freude hat einen Gegenstand oder einen Inhalt. Wohl ist ein innerer Zustand. Freude ist transitiv, Wohl intransitiv.
Wenn man „Geist“ und „Herz“ auf menschliche Praxis im emphatischen Sinne bezieht, so trifft Max Webers Wort von „Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz“ die in der bürgerlichen Gesellschaft angelegte Lebensweise, die zur Depression beiträgt. Die emphatisch verstandene Praxis, also die Bildung und der soziale Bezug der Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen im Arbeiten, an der Gegenstandswelt, in den Sozialbeziehungen und in der Gestaltung der gesellschaftlichen Welt, steht in der die Depression fördernden Mentalität unter pauschalem Verdacht, es handele sich um Illusionen oder Ideologie. Der die Depression ausmachende Rückzug in die eigene weltlose Existenz findet kurzzeitige Unterbrechung in manischen Phasen. Die eigene Weltlosigkeit soll in ihnen unter Nichtantastung ihrer Ursachen mit einem besinnungslosen Überlaufen zur Welt voluntaristisch überwunden werden.
In der für die Depression förderlichen Daseinsweise strebt der Betroffene viertens nach dem psychischen Einkommen als saturierter Bürger, ohne selbst sich als für die eigene selbstwertdienliche Interpretation und kreative Ideologisierung der eigenen Existenz zuständig zu zeigen, also dafür, sich „sein“ Leben schön zu interpretieren oder auf andere Weise als anerkennenswert zurechtzulegen. Er überantwortet sich an die normal vorgegebenen Mittel und Ziele der Existenz, an Arbeit und Konsum. Charakteristisch ist die Schwäche in Bezug auf die persönlich-individuelle Aufbereitung und subjektiv-imaginäre Assimilation des Gegebenen. „Hypernomisches Verhalten zeichnet sich durch eine geringe Distanz gegenüber den normativen Rollenerwartungen aus, durch eine bloße Anpassung an vorgegebene Normen, ohne persönliche Stellungnahme, sowie durch ein geringes Vertrauen in eigene kreative Fähigkeiten, d.h. durch mangelnde Ich-Leistungen.“ (Kraus 1991, 44) Der Betroffene setzt in seiner ihm als alternativenlos erscheinenden Lebensweise zu sehr darauf, dass sich alles von allein einreguliert. Er ist nicht faul, sondern im Gegenteil fleißig, bemüht und beflissen. Sein Tun erscheint aber als notwendige Leistung, mit der der Depressive sich das Recht auf sein Wohl erworben zu haben meint. Dessen Nichtzustandekommen erscheint dann als unverständliche Gemeinheit. Im Tausch sieht man sich um die aufgrund der eigenen (Vor-)Leistungen legitimerweise fällige Gegenleistung betrogen.
Depressive Erfahrungsverarbeitung
Der depressive Typus unterscheidet sich von anderen Typen der Erfahrungsverarbeitung, die auf eine, wenn auch jeweils problematische partikulare Entfaltung der Fähigkeiten und Sinne orientieren. Beim histrionischen Modus ist dies die Ausstrahlungskraft, das spielerische Verwandeln von Situationen und der dramatisierend-mitteilungsfreudige Stil, beim sich beweisenden Empfinden und Verhalten ist es das Überbieten und die Durchsetzung. Der vom depressiven Modus Betroffene geht das Leben nicht von einer bestimmten Idee der Lebensführung (z.B. individuelle Macht, Abwechselung, Glanz, Ordnung usw.) aus an, von der her er dann etwas interpretieren kann – wie verkehrt auch immer –, er kann nicht die Produktivität einer Einseitigkeit nutzen, sondern er erleidet die Lauheit. Für den depressiven Modus sind gegenüber den vielfältigen Einseitigkeiten, die die Welt jeweils von einer Seite aus angehen und erst einmal auch dazu stehen, die Wohltemperiertheit und der Ausgleich typisch. Und der Abstand gegenüber Exaltationen und Outriertem. Man möchte mit seiner Durchschnittlichkeit und mit dem Willen, nichts Besonderes sein oder gar darstellen zu wollen, das Wohl erreichen.
Auch aus der Kritik an der als gewollt oder wichtigtuerisch erscheinenden Lebensführung oder den entsprechenden „Ich-Leistungen“ ergibt sich im depressiven Modus ein Verzicht auf die eigene Gestaltung des Lebens. Er bildet die Gegenfigur zur als manirierte und eitle Selbstverwichtigung angesehenen überdrehten Geschäftigkeit vieler Menschen. Sie „führen“ ihr Leben, indem sie es sich privatideologisch zurechtlegen und sich lustvoll in ihren Eigensinn und ihre Besonderheit eindrehen. In der für die Depression einschlägigen Mentalität wird demgegenüber erwartet, das Wohl müsse sich ereignen und ergeben, es müsse von sich aus klappen, man solle nichts „zwingen“. Für die Depression ist der Ausfall von Kompensationsmechanismen charakteristisch, die andere Typen neurotischer Verarbeitung auf ihre Weise produktiv und kreativ werden lassen: Sollen in der histrionischen Inszenierung, dem Zwangsritual oder der hypochondrischen Sorge um die Gesundheit unerfüllbare Wünsche durch neurotisches Agieren erzwungen werden, so beinhaltet die Depression, „auf die Geworfenheit zurückgezwungen zu werden“, was „heißt, dass das Agieren als Täuschung entlarvt wird. In der depressiven Stimmung wird der Lastcharakter des eigenen Seins als unaufhebbar erfahren. Wer depressiv ist, macht sich keine Illusionen mehr. … Jede agierende Form des Umgangs mit seelischem Leiden steht in der Gefahr, in Depression umzuschlagen, wenn die Einsicht aufdämmert, dass das Agieren ein unmögliches Unterfangen ist. Das Agieren selbst kann dergestalt als Abwehr von Depression aufgefasst werden.“ (Holzhey-Kunz 1994, 193)
In der Depression entgleist und verwildert fünftens eine unbewusste Strategie des Subjekts, in der das Individuum seinen Subjektstatus defensiv dadurch zu wahren sucht, dass es sich pessimistisch zeigt und sich vor Enttäuschungen schützt. Jedes tatsächliche Missgeschick avanciert dann zum Symbol einer allgemeinen Misere des eigenen Lebens. Zwar hat die „Selbsteinschließung der Depressiven, die traditionell als Enttäuschungsprophylaxe aufgefasst wird“, ihr Motiv im Schutz vor erwartetem Objektverlust, aber entfaltet eine eigenartige Selbstaufwertung um den Preis der Entleerung dieses Selbst aufgrund seines Rückzugs von den Objekten. Depression ist immer auch „ein Akt der Selbstbefreiung von allen Abhängigkeiten und Objektbindungen. Dieser Befreiungsaspekt in der Entfernung aller Objekte und zugleich in der Selbst-Entfernung (Selbst-Mord) enthält die grandiose Idee totaler Autarkie und absoluter Freiheit von aller Abhängigkeit.“ (Pohlen, Bautzherr 2001, 368)
In der Depression wirft der Betroffene sich vor, dass er nicht so glücklich sein kann, wie dies in Vorstellungen des Glücks verheißen wird, das jedem zuteil werden könne. Vorausgesetzt ist die Auffassung, die Gesellschaft der kapitalistischen Moderne biete vielfältige Gelegenheiten zum Glück. Der Konsum sorgt für eine Erhöhung des Individuums („Kunde König“). „Der Konsum ist eine ernste Angelegenheit. Die gesamte Gesellschaft ist in ihrer Nähe, wohlwollend und heilbringend. Aufmerksam. Sie denkt an Sie, persönlich. Für Sie bereitet sie persönlich gehaltene Objekt vor, oder was noch besser ist, Objekte, die als Gebrauchsgegenstände für Ihre personalisierende Freiheit geliefert werden; dieser Sessel, diese Anbaumöbel, diese Betttücher. … Wie kann dabei ein Unwohlsein bestehen bleiben? Welche Undankbarkeit.“ (Lefebvre 1972, 151) „Während früher die Befriedigung verbotener Triebe Schuldgefühle hervorrief, schmälert heute das Unvermögen, Spaß zu empfinden, das Selbstwertgefühl.“ (Martha Wolfenstein, zit. n. Bell 1976, 89) Vorausgesetzt ist weiterhin für die depressive Erfahrungsverarbeitung die Vorstellung, das Leben in der kapitalistischen Moderne sei zwar mitunter hart, schlussendlich aber lohne sich die Anstrengung, sei sie doch das Mittel dafür, das Wohl zu erreichen und nicht umgekehrt das Wohl eine notwendigerweise überkompensatorische Vorstellung.
Das Problem, das in der Depression aufbricht und unabweisbar wird, ist das Nichtzustandekommen von Wohl, von Zufriedenheit, von Zusammenstimmen mit der Wirklichkeit. In der Depression wird nun das Problem, an dem der Depressive leidet, aus der bestimmten Lebensweise heraus, die der Depression vorausgesetzt ist, dem Depressiven aber nicht als abstrakte Orientierung auf das Wohl deutlich. Und das zu dieser depressiven Orientierung zugehörige Problem erscheint als von ihr scheinbar unabhängig und ihr fremd, als extern vor das Wohl tretend, es verunmöglichend und verhindernd.
An der Arbeit wird in der Depression die Mühe und Frustration wahrgenommen und am Konsum auf undeutliche Weise die ausbleibende nachhaltige Befriedigung bzw. der Mangel an menschlicher Entwicklung bemerkt. Die Orientierung an den Werthülsen Leistungsprinzip und Wohl erschwert deren Infragestellung. Der Depressive sitzt in der Zwickmühle, einerseits der zur Depression passenden Orientierung zu folgen, sie nicht infragestellen zu können, andererseits aber an ihrer Leere leiden zu müssen. Er kann seine formelle Orientierung nicht aufgeben, da er keine inhaltlich näher bestimmte Orientierung seines In-der-Welt-Seins hat und da die Werthülsen ihm Einheit mit seinen Lebensbedingungen zu geben scheinen und ihn von eigener Orientierungsarbeit dispensieren.
Das eigene Elend genauer in den Blick zu bekommen wird verstellt durch die pauschal positive Besetzung der Sphären, in denen es sich ereignet. Dadurch, dass der Depressive nur inhaltsarme Werte hat, kann er auch nicht zu anderen Werten kommen, eine andere Orientierung finden. Es wird dem Depressiven nicht klar, dass er nur Werthülsen vertritt, weil er nur Werthülsen hat. Er verwechselt Werthülsen mit Werten. An den Werthülsen hält er fest, weil sie ihm Sicherheit geben und von „Autonomie“ und „Identitätsarbeit“ entlasten. Der Inhaltsarmut der Ideale des Wohls und des Leistungsprinzips entspricht auch der globale, pauschale und invariante depressive Denkstil (alle, immer, niemand, keiner).
Aus der Diagnose einer immanenten Energiekrise von Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund der Inhaltsarmut ihrer (prädepressiven) Orientierung folgt kein Votum für Werte. Sie reimen sich oft auf Ideologien. Allerdings erleichtern es eigene Anliegen oder Projekte, die inhaltlich reicher sind als die der Prädepressiven, pragmatisch (unter Abstraktion von menschlich-sozialen Inhalten des Lebens), die Depression zu vermeiden, wenn auch nicht andere psychische Probleme.
Unter der Voraussetzung der lähmenden Ambivalenz zwischen Befriedigungserwartung, Frustration über ihr Ausbleiben und Aggression gegen jene, die als vorgesehene Beglückungskoryphäen versagen, und angesichts der gegenseitigen Blockade von Fremd- und Selbstbeschuldigung werden ausgeprägte Mattigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Antriebsarmut, Apathie und Gefühllosigkeit als Symptome der Depression verständlich. Die Depression beinhaltet ein Energiesparprogramm, das Aktivität aufgrund der Annahme ihrer Zwecklosigkeit massiv reduziert.
Literatur
Bell, Daniel: Die Zukunft der westlichen Welt, Frankfurt/Main 1976.
Holzhey-Kunz, Alice: Leiden am Dasein: Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene, Wien 1994.
Kraus, Alfred: Neuere psychopathologische Konzepte zur Persönlichkeit Manisch-Depressiver, in: Mundt, Ch; Fiedler, P.; Lang, H. u. a. (Hg.): Depressionskonzepte heute: Psychopathologie oder Pathopsychologie?, Berlin 1991.
Lefebvre, Henri: Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt/Main 1972.
Pohlen, Manfred; Bautz-Holzherr, Margarethe: Eine andere Psychodynamik: Psychotherapie als Programm zur Selbstbemächtigung des Subjekts, Bern 2001.
Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern 1966.