Weg mit dem Handel

Streifzüge 54/2012

von Bernd Mullet

Jahrhunderte lang haben Geld und Handel das gesellschaftliche Leben der Menschheit geprägt. Doch heute stehen diese beiden Dinge der weiteren Entwicklung dieser Spezies mehr den je im Weg, bewirken mehr Negatives als Positives. Eine Gesellschaft ohne diese beiden Elemente zu denken scheint selbst den revolutionärsten Kräften zu unrealistisch, zu radikal – oder auch nur zu einfach.

Kunden fischen

Es ist vier Uhr früh. Für unzählige andere, genauso wie für mich, die Zeit, zu welcher der Tag beginnt. Mühsam quäle ich mich aus dem warmen, weichen Bett in die harte, kalte Wirklichkeit. Duschen, Frühstück und dann raus aus der Wohnung. Ein roter Schimmer am Horizont ziert die Dämmerung, die meinen Weg zur Arbeit begleitet. Ich denke daran, was uns in der Schulzeit alles über die Arbeit so erzählt wurde: von Selbstverwirklichung war da die Rede. Doch meine Arbeit dient hauptsächlich zum Selbsterhalt. Dazu reicht es eben gerade noch. „Meine Arbeit soll mir durch das Einkommen Freiräume bieten“ – doch der Freiraum, den mir mein Einkommen bietet ist gerade mal der, meine Arbeitskraft zu erhalten. Es reicht für Lebensmittel, die Miete, ab und zu ein bisschen Kleidung. Was man halt so braucht.

Und doch sehe ich die Lichter der Stadt funkeln und blinken, in beleuchteten Schaufenstern, in Leuchtschriften und großformatigen, leuchtenden Plakaten, auf denen mich junge Frauen mit perfektem, softwaregestyltem Körper und dem typischen Adobe-Hautglanz anlächeln. Sie wollen alle, deren Blick sie streift, zum Kaufen verführen, zum Geld-Ausgeben. Aus der Auslage eines Mobilnetz-Betreibers glänzen mir die neuesten Handys entgegen. Natürlich habe ich schon eines, mit dem ich durchaus zufrieden bin. Aber mit dieser Zufriedenheit machen weder der Betreiber des Ladens noch die Handy-Hersteller einen Gewinn. Ich könnte hundert Handys besitzen, so würden sie dennoch versuchen mir ein weiteres zu verkaufen. Denn nur aus dem Verkauf, nur aus einem Vertragsgeschäft mit mir, erzielen sie den Gewinn. Mit diesem Gewinn würden sie, käme es dazu, neue Geräte zum erneuten Verkauf bestellen, ihre Mitarbeiter und die Miete für den Laden bezahlen, und natürlich ihren vermeintlichen Reichtum weiter steigern, ihr Kapital vermehren. Lediglich der Mobilfunkbetreiber würde sich freuen, wenn ich mehr telefoniere. Aber ich möchte nicht nur mein Handy sondern auch mein Geld behalten.

Es ist schon sonderbar, dass diese Menschen, die mir das alles verkaufen möchten, einfach davon ausgehen, dass ich und all die anderen um mich herum, Geld haben. Genug Geld, um alle die Dinge kaufen und ihre Preise bezahlen zu können. Als läge es nur an meiner Entscheidung, mich für den Kauf der einen oder anderen Sache zu entschließen.

Arbeit

Der Himmel ist ein Stück heller geworden, doch am Zenit funkeln noch ein paar Sterne. Ich fahre weiter zur Arbeit, damit ich mir die Dinge leisten kann, die ich brauche, nur um leben, besser; überleben zu können, eine Wohnung zu haben und ein paar Klamotten. Damit ich mir diese Dinge kaufen kann, brauche ich ein Einkommen. Und ich gehe arbeiten, damit ich ein Einkommen habe und mir diese Dinge kaufen kann. Ich muss also meine Arbeitskraft verkaufen, mit ihr Handel treiben, damit ich mit dem erhaltenen Geld wieder Handel treiben kann, um meine Arbeitskraft zu erhalten, die ich dann wieder verkaufen muss, um sie erhalten zu können. Der Erhalt meiner Arbeitskraft ist also der Sinn meines Lebens, Sinn und Zweck meines Daseins. Der Verkauf meiner Arbeitskraft, um Lohn zu erhalten, mit dem ich mich selbst, meine Arbeitskraft erhalte, die ich dann wieder verkaufe, um mich erhalten zu können. Welche Selbstentfaltung! Ich kaufe um zu verkaufen, aber der Wert meiner Arbeit reicht nicht aus, um daraus Kapital zu schlagen.

Dass es anderen genauso geht ist kein Trost, es stimmt mich eher traurig. Auch sie gehen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt bezahlen zu können. Klar, mein Vermieter verlangt das Geld ja nicht einfach so aus purer Bosheit, auch er muss seine Kosten tragen. Auch er hat Handelsgeschäfte abgeschlossen und muss, wie mit seinen Geschäftspartnern abgesprochen, Geld als Gegenleistungen erbringen, also für Energie, Wasser, Lebensmittel, Kleidung und Steuernbezahlen; also weitere Handelsgeschäfte, die er mit der von mir gezahlten Miete durchführen kann. Genauso die Bäckereiverkäuferin, bei der mein Vermieter seine Brötchen holt, und deren Chef, der Filialleiter des Supermarktes, in dem ich einkaufe. Wir alle sind in einem Netz von Handelsgeschäften miteinander verbunden und so zwangsweise auf eine Art von einander abhängig, die wir eigentlich gar nicht wollen, bei der es keinem von uns auf Dauer besser geht. Sogar immer schlechter, wenn man den permanent steigenden Arbeitsdruck und die genauso permanent sinkenden Reallöhne mitberücksichtigt. Wir alle treiben also Handel, um Handel treiben zu können, um zu überleben. Klasse!

Abhängigkeit

Den Chef des Supermarktes interessiert mein Wohlergehen eigentlich nicht. Vor allem deshalb, weil wir uns persönlich nicht näher kennen. Was ihn an mir als Kunden, als Käufer interessiert, ist, dass ich möglichst viel bei ihm kaufe. Je mehr ich bei ihm kaufe, desto höher ist sein Umsatz. Einen höheren Lohn erhält er eventuell, wenn er an Umsatz oder Gewinn beteiligt ist – eher unwahrscheinlich. Aber er und sein Chef sehen es als Bestätigung, dass ersterer seine Arbeit gut macht. Es gilt als Erfolg, wenn er den Umsatz permanent steigert. Permanentes Wachstum – das Prinzip des Kapitalismus. Damit sichert er sich auch seinen Arbeitsplatz. Ob er diesen Job gerne tut? Seiner Laune nach zu urteilen, die ich öfter in seiner Mimik und Gestik lese, eher weniger. Der jahrelange Umgang mit teilweise nervenden, besserwissenden und überklugen Kunden hat auch bei ihm Spuren im Gemüt hinterlassen. Aber letztlich interessiert das nicht. Ihn interessiert, dass er einen Job hat, mit und von dem er leben kann. Und in diesem Job hat ihn nur der Umsatz zu interessieren und wie er diesen Jahr für Jahr steigern kann. Seinen Chef interessiert, dass er gut arbeitet, damit auch er und seine Chefs leben können und so weiter in der Hierarchie.

Würde ich nicht arbeiten gehen, hätte ich kein Einkommen. Ich wäre nicht mehr lebensfähig. Andere sind davon abhängig, dass ich mein Einkommen ausgebe. Das tue ich eben, wenn ich einkaufen gehe. Einkommen erhalten wir, wenn wir etwas verkaufen, entweder Arbeitskraft oder andere Waren. Wenn ich kein Einkommen mehr habe, kann ich bald nichts mehr ausgeben. Wenn vielen das Einkommen fehlt und keiner mehr kaufen kann, sinkt die Konjunktur, die „Wirtschaft“. Wenn dann die Händler weiter auf das System von „Leistung für Gegenleistung“ bestehen, geraten Menschen in Not. Unsere Lebensfähigkeit in einem auf Geld und Handel basierenden Gesellschaftssystem hängt also unmittelbar von dem Vorhandensein eines Einkommens ab. Denn nur wer Geld hat, kann kaufen.

Geld im Getriebe

Inzwischen verlaufen die Farben des Himmels von dunkelblau, direkt über mir, bis türkis, nahe am Horizont. Sämtliche Sterne werden bereits vom Licht des bevorstehenden Sonnenaufgangs überstrahlt. Sie selbst fehlt noch, doch es scheint ein wunderschöner, heißer Sommertag zu werden. An einer Kreuzung sehe ich, wie ein Zeitungsverkäufer gerade seine Arbeit tut. Ob sich er oder sein Kunde darüber bewusst sind, was sie gerade gemacht haben? Welche Tragweite dieser unscheinbare Vorgang hatte? Der Kauf der Zeitung war ein mündlicher Vertrag, bei dem vereinbart wurde, dass der Zeitungsverkäufer eine Zeitung gibt und dafür Geld bekommt. Auf der anderen Seite, dass der Käufer Geld gibt und dafür eine Zeitung bekommt. Ebenfalls wurde vereinbart, dass die Zahlung sofort zu erfolgen hat und die Ware, die Zeitung, auch gleich zu liefern bzw. zu übergeben ist. Beide waren mit der jeweiligen Gegenleistung und den Bedingungen einverstanden und es kam zum Leistungstausch. Ich weiß, dass ich auch für meine Arbeitsstelle einen Handelsvertrag abgeschlossen habe, auch wenn der Arbeitsvertrag heißt. Solche Verträge werden permanent gemacht, in jedem Supermarkt, in der Trafik, bei Schaustellern auf dem Jahrmarkt, bei Friseuren, Taxifahrern. Der Supermarkt wickelt seine Vertragsgeschäfte meistens schriftlich ab. Genauso die Auto- oder Möbelhändler. Beim alltäglichen Einkauf denken wir aber nicht mal mehr darüber nach, weil es hier nur mündliche Verträge gibt oder gar nur durch schlüssiges Verhalten abgeschlossene. Gültig sind sie alle.

Es ist für uns so selbstverständlich, so normal, scheint so natürlich, dass wir für jede Leistung, die wir erhalten, Geld als Gegenleistung erbringen müssen. Wir geben Geld für eigentlich ganz elementare Dinge wie Nahrung, Wohnung und Kleidung. Für Händler sind diese Bereiche sichere Absatzmärkte, sichere Einkommen, solange es nicht zu viele Anbieter gibt. Essen muss schließlich jeder und einen Platz zum Schlafen, ein Zuhause, brauchen wir auch. So sind wir abhängig von Lohnarbeit, die dadurch als Druckmittel eingesetzt werden kann.

Das ist die Tretmühle, das Hamsterrad, in dem sich die Arbeiter befinden, und der Grund, warum ich gerade zur Arbeit fahre. Der nicht enden wollende Kreislauf, aus dem der Profit kommt und das permanente Wachstum der Unternehmen finanziert wird. Diesen Profit gibt es aber nur, wenn permanent gekauft bzw. verkauft wird, also Vertragsgeschäfte bzw. Handelsgeschäfte abgeschlossen werden, Handel betrieben wird. Nur wenn viele Menschen tun, was der Zeitungsverkäufer und sein Kunde gerade getan haben, erhalten der Zeitungsverleger, die Druckerei und die Papierfabrik ihre Gewinne, mit denen sie ihr Kapital zu vergrößern hoffen, und alle, die dranhängen, ihre Löhne mit denen sie sich erhalten müssen. Wir alle sind also in diesem Spiel finanziell voneinander abhängig. Denn haben einige keine Einkommen mehr, die sie ausgeben könnten, so wirkt sich das auch auf andere aus.

Soziale Vernetzung

Voneinander abhängig sind wir aber sowieso, und zwar mit unseren Fähigkeiten. Brot backen und Kleidung herstellen sind keine einfachen Aufgaben. Es gibt Menschen, die sich dafür interessieren und darin auch erheblich geschickter sind als andere. Wir Menschen sind verschieden, jeder hat andere Stärken und Schwächen. Das – und anderes – macht doch eigentlich unsere Individualität aus.

Auf einer kahlen Wand des Betriebsgebäudes zeichnet die Sonne mit ihren parallelen Strahlen scharfe Silhouetten von Fahrzeugen des gegenüberliegenden, fast vollends belegten Betriebsparkplatzes. Selbst die Lenkräder sind manchmal in den Schatten zu erkennen. Die übrigen Flächen taucht sie in ein warmes leuchtendes Orange. Sieht man ihr entgegen, brennt ihr gleißendes Licht in den Augen und regt den Körper an, Endorphine auszuschütten, welche auch noch die letzten Spuren von Schlafbedürfnis vernichten und endlich wach machen. Leider ist dieses wunderschöne Bild auch das letzte, was ich und die anderen rund 500 Mitarbeiter und Kolleginnen für die nächsten acht Stunden von diesem herrlichen Tag sehen werden. Statt das Sonnenlicht zu genießen werden sich meine Augen mit weißem kalten Neonlicht aus Reflektorlampen begnügen müssen. Ich passiere gerade die Stechuhr, die voraussichtlich die nächste halbe Stunde keine Ruhe finden wird. Sie hat meine Anwesenheit und die meiner Kollegen minutengenau registriert. Ab jetzt sind wir bis zum Feierabend quasi Eigentum des Betriebs. Unser ganzes Denken und Tun hat jetzt nur dem Betrieb zu dienen. Was immer wir tun, hat möglichst wenig zu kosten, aber viel Output, viel Produkt zu bewirken, um möglichst viel verkaufen zu können.

Noch im Nebel der vorher gehegten Gedanken betrachte ich den Betrieb. Viele Menschen fahren Auto, aber reparieren können es die wenigsten. Sie erfüllen andere Aufgaben und haben andere Fähigkeiten. Ich selbst würde es sicher fertig bringen, eine Hütte zusammenzubrettern, aber ein Haus oder gar eine Fabrik zu bauen ist doch etwas ganz anderes. Bestimmt ist für manche eine einsame Waldhütte in Kanada, in der man ganz auf sich allein gestellt ist, alles selbst herstellen muss, eine erstrebenswerte Lebensweise. Für mich und viele andere jedoch nicht. Ich bin durchaus gerne von den Fähigkeiten anderer abhängig. Ich muss nicht alles können, und meist bringt eine Spezialisierung auf eine Arbeit auch eine Erhöhung der Produktqualität mit sich.

Auch hier im Betrieb hat jeder seine Aufgabe, auf seinem speziellen Gebiet. Ohne das würde der Betrieb nicht funktionieren. Ich sehe Staplerfahrer, welche die Ausgangsprodukte an die Maschinen führen, Hilfsmittel herbeischaffen und die Endprodukte von den Maschinen abholen und zur nächsten oder zum Versand fahren. Ich sehe Mechaniker, welche die Maschinen instandhalten oder für andere Produktionsserien umrüsten. Ich laufe an der Qualitätskontrolle vorbei, die Stichproben der ganz oder teilweise fertigen Produkte überprüft.

Mir fällt auf, dass wir zwar miteinander arbeiten, aber untereinander für die notwendigen Dienste kein Geld verlangen. Das verlangen wir nur von der Geschäftsführung. Ich überlege, wie lange der Betrieb wohl funktionierte, würden wir beginnen für jeden erforderlichen Dienst vom Kollegen Geld zu verlangen oder die Leistungen gegeneinander aufzurechnen? Vor jedem Handgriff gäbe es vielleicht erst Verhandlungen über den Preis, einige würden gegeneinander konkurrieren, einiges wäre nicht getan, weil niemand dafür zahlte. Vermutlich ginge der Betrieb pleite, weil einige Aufträge nicht einzuhalten wären. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktionieren würde. Man stelle sich vor, ein Arbeiter, der vom Lager Material holt, müsste dieses, vielleicht mit einer innerbetrieblichen Währung, bezahlen. Und er würde wieder eine Forderung an den stellen, dem er das evtl. verarbeitete Material weiterreicht…

Misstrauen

Warum aber zwängen wir uns in dieses unbequeme Korsett des immerwährenden Kampfes ums finanzielle und damit generelle Überleben? Warum eine Gesellschaft, welche die Verteilung, die Herausgabe lebensnotwendiger Güter fast nur in Handelsgeschäften, gegen Geld zulässt?

In vielen Grundsatztexten sozialistischer Organisationen liest man über „gerechte Löhne“ „auf dem Niveau eines Facharbeiters“.

Man hält also auch noch bei revolutionären Sozialisten am Lohnsystem und damit am Handel fest. Die Betonung liegt meist auf dem „gerechten“ Lohn für jeden, wobei der Lohn eines Facharbeiters als solcher betrachtet wird. Lohn aber bedingt ein Geldsystem, die Existenz von Handel und damit wieder die Abhängigkeit von Lohn. Und genau diese Abhängigkeit soll Freiheit bringen – sehr logisch.

Und was ist ein gerechter Lohn? Die meisten meiner Kollegen finden, dass Arbeiter sich von ihrem Lohn jedenfalls ein Auto und ein Haus leisten können sollten. Einige finden es gerecht, wenn der Chef wegen der höheren Verantwortung ein bisschen mehr verdient, während andere genau das als ungerecht empfinden, weil er zwar anders, aber bestimmt nicht mehr arbeitet. Wieder andere meinen, es genügt, wenn jeder von seinem Lohn leben kann. Wenn ich aber die obige Tretmühle betrachte, bezweifle ich, ob das so überhaupt möglich ist. Denn letztlich tragen die Arbeiter eines Betriebes ja auch den Lebensunterhalt der Führungsschichten des Unternehmens mit. Deren Aufgabe ist es, das Unternehmen zu koordinieren und zu versuchen, mit Hilfe der Marketingabteilung immer wieder neue Absatzmärkte für ihre Produkte zu finden oder neue Produkte zu entwickeln und so die Möglichkeit für immer neue Aufträge aufzutun. Viele Arbeiter und Angestellte sehen jene nur in Anzügen herumlaufen – sie haben den Eindruck, dass diese Menschen zwar wesentlich mehr Geld bekommen, aber wesentlich weniger arbeiten.

Angst

Der Lohn, den Arbeiter und Verkäufer, für ihre Arbeit erhalten, ist für manche dann gerecht, wenn sie davon leben können. Für andere erst dann, wenn sie sich den Luxus der Führungsetagen oder ihres Nachbars leisten können. Wenn Menschen von ihrem Gehalt nicht mehr leben können oder ihr Realeinkommen und damit der Lebensstandard sinkt, so empfinden sie es als ungerecht. Auch dass sich der Chef, wegen der massenhaft gemachten Handelsgeschäfte, die andere für ihn durchgeführt haben, einen höheren Lebensstandard leisten kann, empfinden einige so.

Genauer betrachtet ist Gerechtigkeit also nichts anderes als der Name der Angst vor irgendeiner Benachteiligung, meist materieller Art, oder gar vor dem Verlust der Lebensfähigkeit auf Grund mangelnden Einkommens, zu geringen Lohns. Gerechtigkeit hat also letztlich etwas mit der Verteilung zu tun. Mit der Verteilung von Arbeit und Gütern. Es geht um die Befürchtung, der andere könnte mehr bekommen, als er leistet, oder dass man selbst mehr leisten muss, als man bezahlt bekommt.

In wie vielen Jobangeboten liest man von „leistungsgerechter Bezahlung“. Und hat man uns nicht beigebracht: „Wer viel leistet, kann sich viel leisten“, oder „Leistung muss sich lohnen“? Wer nach Gerechtigkeit schreit, schürt also nicht nur Misstrauen, er hat schlicht Angst, sich nicht mehr ausreichend versorgen zu können, hat Angst vor einer Benachteiligung die vielleicht existenzbedrohend wird. Jedes Handelsgeschäft, und sei es auch nur der Kauf einer Zeitung, ist somit Ausdruck und Bedienung dieser Angst.

Abgrund

In der Pause überfliege ich eine Zeitung, die ein Kollege mitgebracht hat. Fast auf jeder Seite, in fast jeder Schlagzeile lese ich vom immer härter, immer aggressiver werdenden Kampf um Kunden, um jedes einzelne Vertragsgeschäft, um jeden Cent Gewinn. Ob ich die Angebote einer Handelskette in einer ganzseitigen Werbeanzeige ansehe, Berichte über Absatzmärkte oder Aktienkurse, Nachrichten über Preiserhöhungen von Fahrkarten bis Lebensmittel lese oder über ein Unternehmen, das von einem anderen aufgekauft wurde. Ob Versicherungen, Krankenkassen, Autos, Benzinpreise, Schuhe, Möbel, Löhne in allen Branchen, immer geht es um Handel, um Kauf und Verkauf. Und natürlich um den daraus resultierenden Gewinn, der nur dann möglich ist, wenn wir uns gegenseitig misstrauen und miteinander handeln.

Auch die Bildung mit Leistungsstipendien und leistungsgerechter Benotung nimmt sich da nicht aus. Dadurch, dass die Leistung aber nicht an den eigenen Fähigkeiten, sondern an den durchschnittlichen Fähigkeiten einer Klasse, einer Schule, einer Bildungseinrichtung gemessen wird, werden die sich Bildenden zueinander in Konkurrenz gesetzt, Neid geschürt, Druck, Angst und auch Misstrauen erzeugt. Die Angst, vielleicht nicht lebensfähig zu sein in dieser Gesellschaft, ausgeschlossen zu werden, zu schwach zu sein, um dem Leistungsdruck standzuhalten. Somit wird hier und im Arbeitsleben in den Augen der Gesellschaft die Schuld des Versagens vom System genommen und auf den Versager geschoben. Damit sind die vielen Burn-Out-Kranken, Arbeitsdepressiven selbst an ihrer Krankheit schuld. Die berufsbedingten Selbstmorde in aller Welt werden dadurch als Opfer einer „natürlichen Auslese“ diffamiert: Sie waren zu schwach für dieses System, das in seinem Streben nach immer mehr Gewinn die Ausbeutung immer weiter treibt, immer mehr Leistung bei fast gleichbleibender Gegenleistung fordert.

Weg mit der Angst. Eine kleine Fantasie

Als ich den Betrieb verlasse, ist es früher Nachmittag. Auf der Heimfahrt begegnen mir einige sonnenverbrannte, aber gut gelaunte „Wasserratten“, die offenbar der Hunger nach Hause treibt. Sie trösten mich ein wenig mit dem Gedanken, dass ich vom Neonlicht keinen Sonnenbrand bekommen kann. Dennoch werde ich versuchen irgendwo in einem Park noch ein paar warme Strahlen einzufangen. Ach ja: Einkaufen muss ich ja auch noch.

Würde nun einer allein aufhören, für seine Leistung Geld zu verlangen, keinen Handel mehr betreiben, wäre er in dieser Umgebung nicht mehr lebensfähig. Würden das aber einige tun, vielleicht noch mit verschiedenen Fähigkeiten, die sie haben oder sich aneignen, wäre das vielleicht der Beginn einer anderen Gesellschaft.

Als ich im Park liege und in den dunkler werdenden Himmel schaue, beginne ich zu träumen: Nehmen wir an, ich wäre ein Landmaschinenmechaniker. Und nehmen wir weiter an, die Filialleiterin eines größeren Supermarktes würde gerade im Laden stehen und ein wenig mithelfen. Und weil wir uns ein wenig kennen, meint sie plötzlich, sie würde mir jetzt einfach vertrauen und ich könnte bei ihr holen, was ich brauche, ohne bezahlen zu müssen. Sicher würde ich jetzt nicht anfangen, tonnenweise Lebensmittel und andere Dinge nach Hause zu schaffen. Wozu? Damit sie bei mir vergammeln, während andere sie brauchen? Im Laden steht alles unter besten Lagerbedingungen. Die Filialleiterin und ihre Kolleg_innen kümmern sich darum und ich habe während der Öffnungszeiten jederzeit Zugang. Ich finde die Sache riesig und repariere die Landmaschinen künftig ohne Bezahlung, weil mir der Job Spaß macht und ich alles, was ich zum Leben brauche, im Supermarkt ohne Bezahlung holen kann.

Einige Landwirte sind auch davon begeistert und beliefern den Markt künftig ebenfalls umsonst, worauf die Marktleiterin auch diesen kostenlose Produktverteilung zusagt. Das Beispiel macht Schule und plötzlich braucht die ganze Gegend bis zum nächsten Horizont keine Angst mehr zu haben vor Armut oder Hunger, da alle sich mit ausreichend Nahrung und anderen Gütern versorgen können. Da kein Handel mehr existiert, braucht es auch kein Geld mehr. Da es keinen Handelsmarkt mehr gibt, wird auch nicht für einen potenziellen Markt produziert, sondern nur noch das, was voraussichtlich benötigt wird, was anhand des durchschnittlichen Produktverbrauchs festgestellt werden kann. Banken werden überflüssig.

Natürlich ist dieses Beispiel noch voller Haken und völlig unvollständig. Es entsteht hierbei ein Netzwerk, eine Gesellschaft, in der man ohne Geld und ohne Handel leben kann. Diejenigen, die bei dieser Geschichte irgendwann übrigbleiben könnten, sind die Besitzer der Produktionsmittel. Denn sie erhalten ihren Lebensunterhalt aus dem Gewinn der Verkäufe ihrer Produkte. Aber auch die Stellen von Finanzdienstleistern und deren Angestellten werden überflüssig, da sie genau mit dem arbeiten, das es dann nicht mehr gibt. Wenn diese jetzt was anderes arbeiten, reduziert sich die für den einzelnen notwendige Arbeitszeit, was zu mehr Freizeit führt.

Die wirkliche Revolution wäre, wenn jemand eine solche Insel realisieren könnte, in der man sich einfach vertraut und Leistungen ohne Handel, ohne Bedingung und Aufrechnung einer Gegenleistung gegenseitig erbringt, soweit und sobald erforderlich. Die handelsfreie Versorgung der Menschen ist also offensichtlich weniger Resultat einer Gesellschaftsveränderung, sondern eher ihre unbedingte Voraussetzung.

Beginnen muss das aber weder plötzlich noch global. Eine kleine Gruppe einander versorgender Menschen würde genügen, natürlich mit dem Bestreben, immer mehr Menschen einzubinden und die Gruppe nach und nach immer weiter zu vergrößern. Nahrung, Wohnung, Energie und Kleidung stellen in dieser Reihenfolge die wichtigsten Ressourcen dar und würden die Kosten aller Teilnehmer bereits massiv reduzieren. Je mehr Menschen hinzukommen, je vielfältiger die Fähigkeiten und Kenntnisse werden, desto niedriger die monetären Kosten und desto weiter entfernt man sich von Geld und Handel, bis zu deren völligem Ausbleiben. Ohne Handel braucht es kein Geld, gibt es keinen Gewinn, keine Ausbeutung und nichts, was damit zusammenhängt.

Womit aber nicht gesagt werden soll, dass es dann nicht andere Probleme gibt, die bewältigt werden müssen. Durch den Wegfall der gegenseitigen Konkurrenz, der gegenseitigen Befremdung hin zu mehr Menschlichkeit und Zusammenarbeit bin ich jedoch zuversichtlich, dass auch dafür Lösungen gefunden werden.