Probe entfällt wegen Auftritt!
von Severin Heilmann
Montag morgens wird der Delinquent zwecks Hinrichtung aus seiner Zelle geholt. Sein Befund:„Die Woche fängt ja gut an!“ Ein Witz – wir dürfen schmunzeln! Wäre es keiner, gehörte sich das freilich nicht! Leben ist immerhin eine ernste Sache, gegen Ende zu eine todernste gar. Wir aber schmunzeln, ahnungsvoll. Vielleicht, dass etwas Wesentliches verraten wurde und wir uns darüber auch etwas verraten fühlen? Verraten etwa in den Anstrengungen des Überlebens – Daseinsbewältigung nennen wir’s – vor dem Hintergrund ihrer letztendlichen Nichtigkeit? Einen Witz auseinanderlegen ist natürlich auch eine Unart, aber behalten wir die Geschichte im Kopf, indes wir folgende Überlegungen anstellen.
Auf die Mischung kommt es an
Wie lässt sich denn lust- und freudvoll leben angesichts der einzigen so ungewissen Gewissheit, des jeweiligen konkreten Endes? Hierzu Nietzsche: „Durch die sichere Aussicht auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein – und nun habt ihr wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gift-Tropfen gemacht, durch den das ganze Leben widerlich wird!“ (Menschliches, allzu Menschliches II) Lusttropfen oder Gifttropfen, was haben wir uns da beigemischt? Allwo „die sichere Aussicht“ die einen in Angst und Schrecken stürzt, leitet sie andere derweil zu ausgelassener, spielerischer Unbeschwertheit – seltsam, dass sie beides, so Gegensätzliche vermag. Haben wir uns also eine üble Vergiftung zugezogen? Wenn ja, wes Art ist das Gift und weshalb dann – bei gleicher Aussicht – mischen wir’s uns stets hinein?
Ein Blick in die Apothekerseelen offenbart die Kur
Spätestens als die Antike noch jung war dürfte die Vorstellung, das Leben nach jeweiliger philosophischer Präferenz willentlich gestalten zu können und sollen, Einfluss gewonnen haben. Freude und Freuden bieten hier allemal einen viel versprechenden Ansatz. Die Wahl zwischen Lust und Unlust, Freude und Leid scheint nicht allzu schwierig. Doch Momente höchster Lust sind selten hienieden und obendrein von kurzer Weile. Lange Weile, wir wissen’s, hat sie jenseits. Kein Wunder, dass mit gebotener Skepsis von allzu heftigem Luststreben abgeraten wurde, mit der Empfehlung, sich vielmehr den ewigen, himmlischen Freuden der Seele zu ergeben als den höllischen, zudem vergänglichen Gelüsten des Fleisches. Eine Empfehlung übrigens, die nur auf dem Boden der systematischen Trennung von Leib und Seele, von diesseits und jenseits ernst genommen werden kann.
Wo man ihr folgte, trieb sie nicht selten beachtliche Lust- und Leibfeindlichkeit hervor. Weil aber selbst die reinste Seele noch kaum den Zuckungen und Lockungen ihrer Trägersubstanz zu widerstreben vermag, behalf sie sich zuweilen recht pragmatisch:
Der Wikipedia-Eintrag „Askese“ erklärt im Zusammenhang mit den antiken Kynikern: „Die sofortige Befriedigung sollte die Hoffnung auf künftigen Lustgewinn überflüssig machen und so der Entstehung vermeidbarer Bedürfnisse vorbeugen.“ Unsere Kur hingegen: „Die sofortige Lustunterdrückung sollte die Hoffnung auf künftigen Lustgewinn entfachen und so die Entstehung vermeidbarer Bedürfnisse schüren.“ Jedoch, Lust wie Leben lassen sich nicht aufschieben. Sonnenuntergänge, reife Erdbeeren, Vogelgesang und Abschiedsküsse wollen jetzt genossen sein. Spontaneität ist das Gebot für allen Genuss; und was ist Spontaneität im Wesen anderes, als die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen, staunen zu können?
Was nun aber tun wir? Wir wachsen hinein in ein Korsett des sanften Zwanges, tragen es stolz und schnallen es enger. Wir leben in Schachteln und wissen drum, wo drinnen und draußen, was mein, was dein ist, haben Name und Anschrift und Schubladen für den Rest. Alles ist so lange in Ordnung, als es seine Ordnung hat. Zeit und Raum sind reglementiert, unser Wohlverhalten darin somit gewährleistet; Uhrenwecker, Mittagspausen, Gedanken-Stoppschilder, Vorschriften, Warnhinweise, die gesicherten Wege nicht verlassen! Wir misstrauen allem Naturhaften, Unbändigen, Unregulierten: es widersetzt sich unserer Ordnungsliebe. Unsere Ordnung nämlich will Sicherheit, darum Berechenbarkeit, darum Kontrolle, darum also Zwang. „Um es kurz zu fassen, es sind zwei weitverbreitete Eigenschaften der Menschen, die es verschulden, dass die kulturellen Einrichtungen nur durch ein gewisses Maß von Zwang gehalten werden können, nämlich, dass sie spontan nicht arbeitslustig sind und dass Argumente nichts gegen ihre Leidenschaften vermögen.“ (Sigmund Freud, Zukunft einer Illusion)
Zwängler
Dass wir ohne dieses gewisse Maß von Zwang sogleich samt unseren kulturellen Einrichtungen zurück in den chaotischen Urzustand kippen wollten, dem wir zufällig einst entschlüpft zu sein glauben, lässt sich unschwer weiterspinnen. Wobei schon der merkwürdige Umstand, dass wir es trotz Arbeitsunlust und Leidenschaftlichkeiten bis hierher geschafft haben, zu manch Zweifel an Freuds Bespiegelung Anlass geben sollte. Jedenfalls scheint aus solchem Blickwinkel unsere Situation von jeher prekär, die Lage ernst. Kontrollzwang ist deshalb keineswegs nur eine individuelle pathologische Symptomatik, unsere Gesellschaft gründet darauf. Und so finden denn in der dominierenden Kommunikationsform unserer Tage Sicherheit, Berechenbarkeit und Kontrolle auf ihre unappetitliche Art zusammen: Geld geworden üben sie ihren sanften Zwang aus – hier ist der Lust kein fruchtbarer Boden bereitet. Wo Momente der Überraschung, der Ungezwungenheit und Unberechenbarkeit grundsätzlich auf Unbehagen und Misstrauen stoßen, weil, was Ordnung stört, auch Sicherheit gefährdet, da kann sie nicht gedeihen. Geblieben sind ihre kümmerlichsten Reste in leer geräumten, sterilen Lustreservaten des Warenkonsums. Da ist mit Sicherheit zu haben, was Lust nie wollte: berechenbare, kontrollierbare und gleichförmige Abfüllung. Erfüllung ist nicht abzusehen und auch gar nicht vorgesehen; zufriedene Menschen sind keine guten Konsumenten.
Und doch ahnen wir, dass wir verraten und verkauft sind, dass das nicht alles gewesen sein kann, wir gewiss einem fürchterlichen Betrug zum Opfer gefallen sein mussten. Nackte Angst packt uns beim Gedanken, dass es sodann jederzeit vorbei sein könnte, ohne freilich je gelebt zu haben. Just hier, in dieser einzig entscheidenden Bedenklichkeit – Gibt es ein Leben vor dem Tod? –, die uns den wohlriechenden Tropfen Leichtsinn hätte beimischen können, versagen wir vollends. In dumpfer Behaglichkeit zerstreuen wir uns mit allerlei ungefährlichen Pläsierchen und nichtigen Ungezogenheiten und tun so, wie alle andern auch: als wäre die Sache gar nicht die unsrige, als würde hier lediglich probiert.
Lust ist auch Schmerz
Lust und Schmerz, meinen wir, das ginge nicht zusammen. Zwar sagen wir „Freud und Leid“ und „Lust und Schmerz“ und erinnern damit intuitiv an das verschwisterte Verhältnis, aber wollen tun wir stets nur das eine…von beiden. Lust und Schmerz mögen die zwei entgegengesetzten Pole am jeweiligen Ende einer Gefühlsskala markieren, doch die Skala ist ein und dieselbe. Empfindungsvermögen und Sensibilisierung sind ihrer beider Voraussetzung; und, was braucht’s mehr zum Lebendigsein?
Und wir: was braucht es mehr, um sich dagegen abzusichern? Wenn nämlich sie, die Lust, nicht zu haben ist, so, bitte möchten wir doch wenigstens vom Schmerz verschont bleiben. Allein, wo fängt er an, wo hört er auf und hört er auf, wo sie anfängt? Die ganze Bandbreite der Nuancen liegt ja dazwischen und verbindet sie. Wer könnte da noch explizit auseinander halten, was implizit doch zusammenhält? Könnte anhand einer Momentaufnahme entschieden sein, ob es unsäglicher Schmerz oder unaussprechliche Lust ist, was in höchster Ekstase das Antlitz eines Menschen zeichnet?
Es ist darum verwegen, vielleicht aber nicht gar so verdreht, sich gegen Schmerz zu immunisieren, indem man Lust (wenigstens) aus ihm zieht. In der Tat ist Masochismus nicht lediglich auf den klinisch bedeutsamen Befund beschränkt, und nicht nur in Schlafzimmern und strengen Kammern wird er wohlgelitten, ebenso im Sport, in der Arbeit und in gewaltsamen, zuweilen auch künstlerisch-performativen Auseinandersetzungen. In der Hauptsache jedoch behelfen wir uns, Apotheker die wir sind, vermittels einer wahrhaftigen Rosskur: Abstumpfung, Desensibilisierung, Aushärtung bis zur hinreichenden Empfindungsstarre – Anästhesierung, ein Hausmittel! Wir haben uns mit unserm Gift-Tropfen paralysiert, nur der Ernst, der bleibt – ihn brauchen wir nicht zu fühlen, wir sind es; und meinten dabei irrtümlich, es wäre dies eben der Ernst des Lebens. Wollten wir das tatsächlich?
Appassionato
Ganz anders als Masochismus oder gleich Abtötung pflegt die Leidenschaftlichkeit Umgang mit der Lust. Sie will die Kultivierung dessen, was Lust bereitet, daher die Steigerung der Eindringtiefe, daher aber auch die mögliche Verletzlichkeit, daher auch die Anfälligkeit für Schmerz; hingegen – anders als der reinste Hedonismus – weiß sie um die prinzipielle Unmöglichkeit, das Lustempfinden vom Schmerzempfinden zu lösen; sie weiß um die Unmöglichkeit, die Klaviatur so zu manipulieren, dass diese bloß in Dur noch bespielt werden kann, sondern erfreut sich gleichermaßen an gelegentlich angeschlagenen Moll-Akkorden. Nicht, dass ihr danach gelüstete – sowenig wie nach Stumpfsein –, doch auch diese kultiviert sie; sie weiß um ihren eigenen Wortsinn, mag sie gut leiden. Kraft ihrer Kreativität schafft sie intensivierte Erlebnismöglichkeiten und findet in ihren schönsten Momenten, eben weil sie mögliches Leid nicht scheut, zu Rausch und Überwältigung, zu Intensität und Erlebnistiefe.
Ja zur Lust
…bedeutet demnach, allenfalls auch Ja zum Schmerz zu sagen, freilich ohne ihn deshalb gleich begrüßen zu müssen. Dagegen ist Schmerzfreiheit nur bei Totalverlust unseres Empfindungsvermögens zu realisieren, das sollten wir nicht wollen. Vor allem bedeutet ein Ja zur Lust das Verlassen der Einhegungen, des abgesicherten Terrains des Alltags, welchen wir „den grauen“ nennen. Sicherheit gibt’s im Safe, im Betonbunker und im Stahlsarg; Leben ist anderswo! Wir haben keine Lust zu überleben; immer nur überleben – das kann bloß wollen, wer nie je gelebt. Lust zu leben, am Leben, im Lebendigsein ist uns gegeben – nehmen wir sie an! Das „es gibt“, das wir vor alles setzen, das einen Namen hat, verweist ja auf den Geschenkcharakter des Lebens! Das will nicht bloß als Dasein bewältigt werden, es will als Hiersein genossen, gelitten sein: Hiersein ist herrlich!; voller Überraschung, Wandel, Variation. Staunend und leichten Fußes in sie hinein; durchaus mit Humor die Unlust zu transzendieren, und maßvoller Ironie den Ernst zu blamieren, da kann nicht viel verhakt sein, das Ja-Wort zu geben.
Der Tod, seine Frische
Im Grunde sind wir todgeweiht. Aber ist der Tod ernst? Alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt, sinnierte Thomas Bernhard und meinte wohl den Tropfen Leichtsinn. Ernst ist drum allenfalls das Leben. Und Ernst ist der einzig ernste Feind der Lust. Wie ihm begegnen? Und wie bekommt unser Leben die köstliche, wohlriechende Note Leichtsinn?
Alles, was der Tod gebietet, ist vollständige Aufgabe und Hingabe; im Grunde nichts anderes, als es die schönen Augenblicke tiefen Empfindens auch verlangen. Überhaupt hat Lust nicht wenig mit der Fähigkeit zu tun, sich selbst im rechten Moment zu vergessen, aufzulösen, hinzugeben; Selbstkontrolle und Ich-Grenzen zu überwinden. Was Franzosen nicht ungefähr la petite mort, also den kleinen Tod nennen, sei uns hier Hinweis genug. Jedenfalls ist’s gewiss diese Art Leichtsinnigkeit, die Nietzsche empfiehlt, die dem gravitätischen Ernst des Lebens die Zunge zeigt und das aufgeschobene, betrogene Leben mit voller Kraft und ohne Rückversicherung wieder in seine intensivste Mitte holt.
Gestorben wurde zwar immer schon; dass der Tod dennoch nichts an seiner Frische eingebüßt hat (E.M. Cioran), braucht nicht zu wundern, ist er doch das Unannehmlichste, was dem betrogenen Leben so passieren kann. Zum Wundern ist allerdings, dass noch gelebt wird; angesichts der Beschneidungen und Einhegungen der Lustreviere fragt sich, was da überhaupt noch gelebt werden soll? Bedauerlicherweise stoßen wir kaum je auf Hinweisschilder, die darauf etwa, wie folgt, Aufschluss geben würden:
Pardon, meine Herrschaften, das hier ist keine Generalprobe, wir sind bereits mitten in der Aufführung. Aber keine Angst: sterben werden wir soundso, in hundert Jahren sind wir alle mausetot. Lasst uns zusehen, dass wir vorher noch ein bisschen Leben haben!…ein lustvolles! Denn spätestens „am Ende ist alles ein Witz“ (ahnte Charlie Chaplin); den gab’s hier aber eingangs schon!