Im Vermessungsfieber
von Franz Schandl
Wirtschaft ist das, wovon niemand etwas versteht, aber doch alle mitspielen. Das Mitmachen ist jedoch kein freiwilliges, da hat sich niemand etwas auszusuchen. Es regiert das „Es“, wie Hans Bürger vermerkt. (S. 130) „Sind wir also verrückt geworden“, fragt er. „Wir haben Angst vor Märkten“ (S. 12). – Zweifellos, so ist es und es hat so kommen müssen. Denn geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut, ist nicht nur ein griffiges Motto, es ist auch konsensuales Vorurteil. Nun geht es freilich nicht mehr so gut, und daher sind neue Wege gefragt.
Bürgers Zurückweisung des neoliberalen Homo oeconomicus hat durchaus seine Berechtigung. Wenn er nun aber meint, es gäbe ihn gar nicht, dann stimmt das und wiederum auch nicht. Es gibt diese Figur zwar nirgendwo als Voraussetzung, sehr wohl aber existiert sie als Resultat. Denn gerade in der Ökonomie müssen sich die Menschen so verhalten, wie man ihnen nachsagt, dass sie sind. Jetzt, wo sie sich tatsächlich so verhalten, behauptet man inständig, dass sie auch nur so sein können. Bürger hält ja selbst fest: „Zuerst die Kunstfigur und erst dann der Fleisch gewordene Egoist und Rechner.“ (S. 27) Als Marktteilnehmer werden wir von Kindesbeinen an so formiert. Daher ist auch die Gier gesellschaftlichen Ursprungs und nicht Hervorbringung irgendeiner menschlichen Natur. Die gibt es nämlich schlicht und einfach nicht, ist stets eine Erfindung der herrschenden Meinung, die sich damit unkritisierbar machen will.
Alternativen, so Bürger, wären längst in Sicht, etwa die Neuroökonomie, der „ökonomisch motivierte Blick ins Gehirn“ (S.96). Neuromarketing ist angesagt, eine Spezialabteilung derselben wäre Neurofinance , diese „untersucht das Handelsverhalten auf Finanzmärkten“. (S. 99) Begriffe wie „funktionelle Magnetresonanztomographie“ werden als erfrischend und nicht als bedrohend beschrieben. Hans Bürger hat überhaupt ein Faible für Laborversuche. Seitenweise listet er sie auf und beschwert sich, dass sie ignoriert statt realisiert werden. „Ein unerschöpfliches Feld für die Anwendung von Hirnforschung ist die Produktwerbung“ (S. 113), schreibt der Autor. Neuroökonomie ist nunmehr ein Konkurrent der herkömmlichen Meinungsforschung, da sie noch direkter in die Gemüter der Konsumenten einzugreifen verspricht. Bei alledem geht es letztlich darum, Kaufentscheidungen im Sinne von Absatz und Wachstum zu optimieren. Damit hat unser Autor auch kein Problem. Sein Vorwurf an die Neoliberalen ist vielmehr der, dass sie mit ihren Modellen die Menschen gar nicht richtig erfassen. Erfasst werden müssen sie unbedingt, auch weiterhin.
Menschen werden in der Ökonomie auch nicht vergessen, sie sind zwar nicht selbstbestimmte Akteure, aber doch reaktive Objekte derselben. Sie müssen kaufen, das ist der Zweck der Sache, egal was, egal wie, egal womit. Auf jeden Fall viel. Diesen Zweck des universellen Geschäfts stellt Bürger nie zur Diskussion. Es fällt ihm gar nicht auf, dass all seine Spiele monetärer Provenienz sind. Egal was, alles erscheint durch den Geldfilter in Geldform. Aussagen wie „Warum sind wir so? Weil wir eben so sind“ (S. 84), wirken eher trotzig als erhellend. Niemand ist eben so.
Bürger versteht sich als ein Vertreter des Glücks, das er aber sofort betriebswirtschaftlich programmieren will. „Wie messe ich Glück“ (S. 140), fragt er. Dass es vermessen ist, dieses zu messen will ihm gar nicht kommen. Glücksökonomen schreien bereits nach einem Hedonometer. (S. 159f.) Ob man glücklich ist, wird einem per Statistik nachgewiesen. Das Maß aller Dinge bleibt das Geld. Und das Ziel sowieso. Wenig ist schlecht, viel ist gut, aber zu viel ist schon wieder zu viel.
Unser Autor ist jedenfalls im Vermesungsfieber. Tabellen und Diagramme sollen anschaulich machen, was gemeint ist. Sie werden auch selten hinterfragt. Warum etwa stürzt Österreich zwischen 2009 und 2010 beim „Unidet Nations Human Development Index“, kurz HDI vom 14 auf den 25 Platz ab? Was war geschehen? Und was hat sich dann 2011 ereignet, dass das Land plötzlich wieder auf Rang 19 rangiert? (S. 142) Beim „Happy Planet Index“, kurz HPI liegt Österreich 2012 auf Platz 48, einen Rang hinter Syrien. (S. 144) Was machte die Syrer heuer glücklicher als die Österreicher? Der Bürgerkrieg wird ja nicht gemeint sein. Oder? Wer weiß?!? Möglicherweise gibt es wissenschaftlich geeichte Gehirnstrommesser, die nachweisen könnten, dass die Menschen sich freier und besser fühlen, wenn sie aufeinander schießen. Hormonell soll da einiges abgehen. Im Ernst: Was sagen diese Daten?
„Arbeit haben macht glücklich. Keine Arbeit haben macht unglücklich.“ (S. 208) Sollte man es nicht andersrum sehen. Natürlich, in einem System, wo man Menschen zu Arbeitstieren abrichtet und Identität über jene erfolgt, ist der Verlust ebendieser als soziale Degredation spürbar. Aber die Pflicht sich zu verdingen als Glück zu setzen und das nicht beschäftigt werden als Unglück ist doch ein starkes Stück. Für die allermeisten Leute hat die Arbeit trotz aller Bekenntnisse nichts mit Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu tun, sondern schuldet sich der Notwendigkeit etwas verdienen zu müssen, um existieren zu können. Es macht nicht unglücklich keinen Job zu haben, sondern nicht gut leben zu können, angewiesen zu sein, malträtiert zu werden, sich wertlos zu fühlen.
„Weniger Arbeit kann nicht gleichbleibenden Wohlstand bedeuten.“ (S. 215) Da ist Unsinn. Die Arbeitsproduktivität widerlegt das Tag für Tag, und dass das „Arbeitsvolumen geringer“ (S. 224) wird, konzediert auch Bürger. Warum wir vor diesem Hintergrund überhaupt immer mehr arbeiten sollen, ist völlig schleierhaft. Es hat nichts mit objektiven Anforderungen, wohl aber mit der Sorte Ökonomie zu tun, die sich Kapitalismus nennt. Das Problem ist allerdings, dass unser Wohl nicht an Dispositionen und Möglichkeiten, an Fähigkeiten und Fertigkeiten gemessen wird, sondern an Geld, primär Profiten und Löhnen. Das gute Leben ist möglich, aber es ist nicht finanzierbar. Das ist schon ein Problem. Aber wenn dem so ist, sollte man sich entscheiden: Geld oder Leben?
Der Band ist einfach geschrieben, zweifellos, und unfraglich kann er ohne Vorkenntnisse gelesen werden. Doch bringt die Lektüre wirklich weiter? Schärft sie irgendwo ein kritisches Bewusstsein?Ist es nicht eine dieser zahlreichen Streitschriften, wo einmal mehr Keynesianer gegen Monetaristen antreten? Letztere haben abgewirtschaftet, gewiss, aber sind die Vorschläge der Etatisten wirklich Erfolg versprechender? Die neuen Modelle sehen diesbezüglich nicht jünger aus als die alten, mit denen sie übrigens alle Prämissen teilen: Geld, Ware, Markt, Geschäft, das alles bleibt sakronsankt.
Schreiben und Reden sind nicht dasselbe in bloß unterschiedlicher Form. Sie unterscheiden sich in Duktus und Präsentation, in Aufbau und Wortschatz. Textkörper sind nicht einfach übertragbar. Was in einer Zehnsekundensequenz pointiert wirken kann, wirkt auf 250 Seiten monoton. Die eingestreuten Geschichten, die illustrieren sollen, ermüden. Bürger fundiert seine Überlegungen nicht, sondern streift seine Themen. Das permanente Antippen nervt. Trotz der vielen Ingredienzien ist das eine recht dünne Suppe geworden. Dieses Denken konzentriert sich nicht, es zerstreut. „Und wäre es nicht auch gut, wenn die Zahl derer, die unbelastet von ökonomischen Druck nachdenken könnten, wieder steigt?“ (S. 240) Ja!
Hans Bürger, Der vergessene Mensch. Neue Modelle zwischen Gier und Fairness, 280 S., geb. € 21,90, Braumüller Wien 2012
Leicht gekürzt erschienen in: Die Presse, 20. Oktober 2012,Spectrum, S. VI.