Geladene Geschoße
von Maria Wölflingseder
Kolumne Dead Men Working
Zeichnet sich nach jahrzehntelanger Beobachtung meiner Straßenkreuzung ein Sittenbild darin ab? Vor genau 20 Jahren zog ich hierher – in die Nähe der Kreuzung Schönbrunnerstraße / Gaudenzdorfer Gürtel, die ich fast täglich zwei Mal als Fußgängerin quere. Es treffen hier eine drei- und eine vierspurige Hauptverkehrsader aufeinander. Die Verhältnisse haben sich in dieser Zeit gehörig verändert. Nicht nur die des Verkehrs.
Heute gibt es hier vier Zebrastreifen mit Fußgängerampeln. Viele Jahre lang gab es nur drei. Aber damals die Schönbrunnerstraße auf der Innenseite des Gürtels ohne Schutzweg zu queren, war wesentlich weniger gefährlich als heute bei Grünphase der Fußgängerampel. Früher sind die Autofahrer, die gleichzeitig grün haben, gerne stehen geblieben. Heute preschen sie wie gehetzte Hunde knapp vor dir oder knapp hinter dir über den Zebrastreifen, um ein paar Meter weiter ohnehin vor einer stets roten Ampel wieder stoppen zu müssen. – „Wer bremst, fällt zurück!“, wird gerne großspurig verkündet.
Noch gefährlicher ist die Querung des Gaudenzdorfer Gürtels auf jenem Schutzweg, auf den ebenfalls Fußgänger und auf zwei Spuren abbiegende Fahrzeuge gleichzeitig geschickt werden. Wer nicht sofort bei grün auf den Zebrastreifen springt, hat kaum mehr eine Chance, überhaupt noch die Straßenseite zu wechseln, weil dann die Autos schon in voller Fahrt sind. Hat sich das erste Gefährt gerade doch noch eingebremst, hüte man sich davor, erleichtert weiterzugehen, da auf der nächsten Spur ein weiterer Flitzer auf dich zusteuert. Auch die Nachkommenden sollten im Auge behalten werden. Wenn sie auf den Bremsenden auffahren, wirst du von einem Doppelgeschoß niedergestoßen. Jeweils zwei Zebrastreifen müssen von mir überquert werden, um zur U-Bahn bzw. wieder nach Hause zu gelangen. Um dies weniger riskant zu gestalten, beobachte ich die Chauffierenden genau und versuche ihr Verhalten zu kalkulieren. Seit einigen Jahren werde ich immer wieder – mitunter auch von jungen Frauen – wüst beschimpft, wenn ich dezent auf die grüne Fußgängerampel deute. Ein Novum im Wiener Verkehrsgewühl, das sich seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs mindestens vervierfacht hat.
Das Wort Konkurrenz leitet sich vom Lateinischen her. Concurrere heißt „zusammen laufen“, „um die Wette laufen“. Könnte es sein, dass die rasant gestiegene ökonomische Anspannung, die auch jeder Einzelne zu spüren bekommt, sich auf das Gebaren hinterm Steuer auswirkt? Kann es da nicht leicht passieren, dass der allseits spürbare hohe Druck unbewusst aufs Gaspedal übertragen wird? – Umgekehrt ist wiederum vom Wirtschaftsmotor die Rede, der ins Stocken gerät. Auch ein in der Arbeitswelt oft gebrauchter Imperativ ist dem Metier der Motoren entlehnt: „Durchstarten!“, lautet die Devise immerzu. An die Poleposition! Nur die Schnellsten haben – vielleicht – noch eine Chance. Die geforderte „Dynamik“ der Arbeitsmonaden wird in den Medien und in der Werbung gerne von entsprechenden Illustrationen begleitet: Menschen in eilender Bewegung – in den verschiedensten Ausführungen. Sie streben in allen Lebenslagen nach den höchsten Quoten, den meisten „Gefällt-mir“-Klicks und an die Spitze der Charts. Als Gegenbild wird jenes der Hängematte ventiliert, in welcher die Arbeitslosen, die „Sozialschmarotzer“ und gewisse EU-Länder auf der faulen Haut liegen.
In so einer verrückten Welt ist es nur logisch-konsequent, die erzwungene Stehzeit der Autos an roten Ampeln produktiv zu nützen. Ein richtiger Straßenzirkus, der an meiner Kreuzung immer wieder aufgeführt wird. Im Ampelphasentakt springen junge, verkleidete Menschen auf die Straße und nötigen den Chauffierenden allerlei Werbeartikel auf. Damit alle wissen, wofür die Stundenlöhner Kopf, Kragen und Bronchien riskieren, wird ein Transparent mit dem Logo des Auftraggebers quer über die Straße entrollt. – Manchmal trauen sich auch Bettler auf die Kreuzung. Sie „arbeiten“ in Eigenregie.
Interessant ist, wie dem veränderten Verkehrsverhalten der Autofahrer von Staats wegen begegnet wird. Selten wird einem Übel auf den Grund gegangen, sondern stets versucht, einen Missstand vornehmlich technisch zu lösen. (Damit kann ja hervorragend Geld gemacht werden.) Im Falle meiner Kreuzung bastelte man im Laufe der Jahre an verschiedenen Erneuerungen. Der erwähnte vierte Schutzweg erhöhte jedoch die Gefahr eher. Die neuen LED-Lampen in den Ampeln sind zwar kilometerweit sichtbar, aber für grüne Fußgängerampeln scheinen viele Lenker blind zu sein. So wurden schließlich neben die rot-grüne Fußgängerampel zwei abwechselnd blinkende orange Lichter montiert. Auch von diesen wollen sich viele nicht bremsen lassen. Und zu guter Letzt sind alle Fußgängerampeln noch von Kameras flankiert worden. Aber lassen sich die Autos von einem fernen Auge des Gesetzes beeindrucken?
Übrigens auch auf Reisen sind Ruhe Suchende immer öfter von geladenen Geschoßen umzingelt. Seit Jahrzehnten friedliche Meeresbuchten werden plötzlich jeden Nachmittag von Ausflugsbooten belagert, die sich wie Freilufttechnodiscos gebärden. Wenn diese endlich wieder in den Hafen zurückkehren, starten die Wassermopeds durch und drehen in höchsten Tönen und giftigen Abgasen ihre Runden. An der Adriaküste gab es auch bereits Tote und Schwerverletzte durch rasende Motorboote in Küstennähe.
Wo soll all die Rastlosigkeit hinführen? Im Burnout sind wir schon massenhaft. Ein weiteres fatales und letales Resultat der selbst verordneten Hetz-Unkultur ist der Sekundenschlaf von Autolenkern. Mitunter ist die chronische Übermüdung nicht mehr zu kontrollieren und das weithin überschätzte „Betriebssystem Mensch“ bricht auf offener Strecke zusammen. Sein fahrbarer Untersatz wird einmal mehr zur Tötungsmaschine. Oft ein Himmelfahrtskommando auch für völlig Unbeteiligte.
In allerletzter Zeit scheint sich die Puls erhöhende Lage an meiner Kreuzung dennoch etwas entspannt zu haben. Zeigen die technischen Errungenschaften tatsächlich Wirkung? Oder ist es die Reaktion auf Unfälle, die im Frühjahr in Wien innerhalb kurzer Zeit mehreren Fußgängerinnen und Kindern das Leben kosteten. Oder beginnen die Menschen gar zu realisieren, dass sie die kollektive Ruhelosigkeit weder reich noch glücklich macht? – Herzklopfen bekomme ich jedenfalls lieber anderswo als auf meiner Kreuzung.