Europäisches Krisendomino
von Tomasz Konicz
Die in Wechselwirkung mit dem deutschen Spardiktat eskalierende Krisendynamik treibt nun Spanien unter den europäischen „Schutzschirm“. Italien gerät ebenfalls verstärkt in Schieflage.
Nun ist Madrid an der Reihe. Nach Griechenland, Portugal und Irland muss Spanien nun Kredite des europäischen Krisenfonds EFSF in Höhe von 100 Milliarden Euro in Anspruch nehmen, um den Kollaps des heimischen Finanzsektors zu verhindern. Wochenlang wurde die spanische Regierung um den konservativen Premier Mariano Rajoy vor allem von deutscher Seite dazu gedrängt, die Gelder der „EU-Rettungsfonds“ anzunehmen. Ursprünglich hoffe Madrid darauf, dass der ab Juli aktivierte Rettungsfonds ESM direkt die Rekapitalisierung der Banken auf der Iberischen Halbinsel bewerkstelligen könnte, was ohne korrespondierende Auflagen vonstatten ginge. In Deutschlands meinungsführenden Presseerzeugnissen wurde aber gerade dieser Souveränitätsverzicht der spanischen Regierung eingefordert, wie die FAZ in einem Kommentar vom 6. Juni formulierte. Die Spanier könnten keinesfalls „ihre faulen Hauskredite auf dem gemeinsamen Krisenfonds ESM abladen“, so die FAZ, die anschließend fragte, wieso Madrid die „Unterstützung“ im Rahmen von Staatskrediten seitens des EFSF ablehnt: „Zögert die Regierung in Madrid wegen der damit verbundenen Auflagen? Diese müsste Spanien nicht fürchten, wenn es so vorbildlich den Arbeitsmarkt reformiert hätte, wie allseits gelobt wird.“
Dennoch schien sich der hinhaltende Widerstand der spanischen Regierung gegen die Inanspruchnahme des „Rettungsfonds“ ausgezahlt zu haben, sollten doch die damit einhergehenden Auflagen ersten Berichten zufolge nicht so repressiv ausfallen wie bisher in solchen Fällen üblich. Laut ersten informellen Absprachen soll abermals eine „Troika“ aus EU-Kommission, IWF und EZB die Umsetzung der mit den Krisenkrediten einhergehenden Auflagen in Spanien überwachen, doch sollen sich diese nur auf die Restrukturierung des unter einem Berg fauler Kredite kollabierenden Finanzmarktes beschränken. Weitere drakonische „Sparpakete“ sollen Spanien im Gegensatz zu den anderen europäischen Krisenländern nicht oktroyiert werden.
Die Hilflosigkeit der europäischen Krisenpolitik wurde kurz nach Bekanntgabe dieser gigantischen Geldspritze für Spaniens Banken offensichtlich, als die anfangs euphorisch reagierenden Aktienmärkte abermals ins Minus drehten. Somit sinkt die Halbwertszeit der Rettungspläne der EU auf wenige Stunden, in denen mittels 100 Milliarden Euro eine kurze Aktienhausse ausgelöst wurde. Ein Absenken der unerträglich hohen Zinsbelastung Spaniens auf den Kapitalmärkten wurde hingegen nicht erreicht, da am Montag die Renditen für spanische Anleihen sogar höher notierten als in der vergangenen Woche. Dabei sollten die nun Madrid aufgenötigten Finanzmittel den eigentlichen Refinanzierungsbedarf des spanischen Finanzsektors weit übertreffen, der laut IWF bei rund 37 Milliarden liegen soll. Mit dieser hohen Summe wollte die Eurogruppe keinerlei Zweifel über ihre „Abwehrbereitschaft“ aufkommen lassen, behauptete etwa EU-Währungskommissar Olli Rehn.
Zur Wirkungslosigkeit dieser jüngsten Krisenmaßnahme tragen im gewissen Ausmaß die anhaltenden Auseinandersetzungen um deren konkrete Ausgestaltung bei. Die europäische Krisenpolitik wird durch die divergierenden nationalen Interessen in der Eurozone geprägt, und es sind insbesondere deutsche Politiker wie Wolfgang Schäuble, die „Spanien an die kurze Leine“ (Die Welt) nehmen wollen. Schäuble plädierte im Deutschlandfunk für eine Strikte europäische Kontrolle bei der Restrukturierung des spanischen Finanzsektors, während Bundesbankpräsident Jens Weidemann in der ARD umgehend weitere „Strukturreformen“ auf der Iberischen Halbinsel anmahnte. Mit diesem Schlagwort werden in Berlin für gewöhnlich alle Maßnahmen belegt, die zur Prekarisierung des Arbeitsmarktes und zum fortgesetzten Lohnkahlschlag beitragen sollen – ganz nach dem Vorbild der berüchtigten deutschen Hartz-IV-Arbeitsgesetze.
Die Regierung von Premier Mariano Rajoy ist hingegen weiterhin bemüht, die mit den Hilfsmaßnahmen einhergehende Einschränkung der finanzpolitischen Souveränität Spaniens möglichst gering zu halten, um so den Ausverkauf des Landes zu verhindern. Es sind die spanischen Sparkassen, die unter den Folgen der geplatzten Immobilienblase in Spanien zu leiden haben – und die im Fall einer Restrukturierung ihre umfangreichen Industriebeteiligungen abstoßen müssten. Längst würden „Geierfonds“ auf diese Geschäftsgelegenheit warten, erklärte ein Analyst gegenüber dem Manager Magazin. „Die wissen genau, dass die EU den Banken Auflagen als Gegenleistung für die Staatshilfen machen wird.“ So könnten „attraktive Geschäftsfelder“ und Industriebeteiligungen als regelrechte „Schnäppchen“ erworben werden. Das Beharren insbesondere der deutschen Politik auf einer europäisch kontrollierten Restrukturierung des spanischen Finanzsektors dürfte gerade darauf abzielen, einen solchen großen Ausverkauf der spanischen Industrie zu initiieren, der vor allem dem deutschen Kapital zugutekäme.
Die Wirkung der jüngsten Geldspritze verpufft aber vor allem deshalb, weil die Milliarden für Spaniens Banken nicht zur Belebung der spanischen Wirtschaft beitragen, die aufgrund des dem Land aufgenötigten Spardiktats in eine ähnliche Depression übergeht wie in Griechenland. Das Kabinett Rajoy war seit seiner Amtsübernahme bemüht, die drakonische Sparpolitik umzusetzen, die im maßgeblich von Berlin entworfenen „EU-Fiskalpakt“ für ganz Europa verbindlich wurde. Inzwischen haben die brutalen Austeritätsmaßnahmen eine ähnliche ökonomische Abwärtsspirale in Spanien ausgelöst, wie sie auch Griechenland verheerte. Die immer neuen Kahlschlagsprogramme im Öffentlichen Dienst und im Sozialbereich lassen die Binnennachfrage einbrechen, was zur Rezession, steigender Arbeitslosigkeit sowie sinkenden Steuereinnahmen führt – und die beabsichtigte Haushaltskonsolidierung trotz Sparmaßnahmen in weite Ferne rücken lässt.
Inzwischen musste Madrid trotz immer neuer Sparprogramme sein Haushaltsdefizit mehrmals nach oben korrigieren. Der durch den Sparterror in Spanien ausgelöste Einbruch der Binnennachfrage wird an der Entwicklung der Einzelhandelsumsätze deutlich, die gegenüber dem Vorkrisenzeitraum in 2007 bereits um rund 25 Prozent eingebrochen sind. Hierdurch kollabierte – dem Desaster Griechenlands folgend – auch die spanische Industrieproduktion, deren Ausstoß sich gegenüber dem April 2009 um 35 Prozent verringerte. Die desaströse Lage Spaniens spiegelt sich auch in der europaweit höchsten Arbeitslosenquote von rund 24 Prozent, die bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sogar 51 Prozent beträgt. Die Rezession, in der sich Spanien befindet, wird den meisten Prognosen zufolge langwierig sein. So geht etwa die Ratingagentur Fitch Ratings davon aus, dass die Wirtschaftskontraktion auf der Iberischen Halbinsel mindestens bis 2013 andauern werde. Inzwischen mehren sich ähnliche Signale eines umfassenden Wirtschaftseinbruchs auch in Italien.
Im Übrigen wird die Rezession den Berg fauler Kredite in Spanien weiter anschwellen lassen und so selbst die beabsichtigte Stabilisierung des Finanzsektors wieder untergraben. Mit zunehmender Arbeitslosigkeit häufen sich die Kreditausfälle in Spanien, deren Umfang bei anhaltender Rezession schnell die nun vereinbarten Notkredite von 100 Milliarden Euro übersteigen könnte. Der internationale Bankenverband Institute of International Finance (IIF) nennt einen generellen „Vorsorgebedarf“ des spanischen Finanzsektors in Höhe von 218 bis 260 Milliarden Euro. Diese Summe ergibt sich aus der Annahme des IIF, dass die künftige Kreditausfallrate in Spanien ähnlich hoch sein wird wie in Irland. Spaniens Banken haben insgesamt Kredite von rund 1,9 Billionen Euro (!) vergeben, wovon rund 60 Prozent auf Hypotheken entfallen.
Obwohl diese verheerende Krisenspirale nahezu alle europäischen Krisenstaaten erfasste und die Eurozone auf einen katastrophalen Kollaps zusteuert, weigert sich die deutsche Politik weiterhin hartnäckig, von dem eingeschlagenen europäischen Sparkurs abzurücken. Während der Euro auf einen kritischen Scheideweg zusteuere, lebten deutsche Politiker „in einem Wolkenkuckucksheim“, so der Ökonomie Nobelpreisträger Paul Krugman wörtlich, der den fortgesetzten Glauben an knallharte Sparprogramme als „beängstigt“ bezeichnete: „Wenn höchste Repräsentanten Deutschlands dermaßen von der Wirklichkeit entkoppelt sind, welche Chancen hat Europa noch?“
Wie groß die aus dem deutschen Spardiktat resultierenden Spannungen in der Eurozone inzwischen sind, machten die Reaktionen etlicher europäischer Krisenländer auf die Kreditkonditionen für Spanien deutlich. Selbst beim neoliberalen Musterschüler Irland löste die „Hilfe für spanische Banken“ beträchtliche „Hoffnungen auf zusätzliches Entgegenkommen“ bei den brutalen Auflagen der EU aus, berichtete die Neue Züricher Zeitung. In Italien, dessen Wirtschaftsabschwung an Intensität gewinnt, würden hingegen laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zunehmend Forderungen nach Eurobonds laut. Berlin werde inzwischen „von Ministerpräsident Mario Monti hart kritisiert“, so die FAZ. Am deutlichsten wurden hingegen griechische Linkspolitiker, die sich in ihrer Forderung nach einer gänzlichen Rücknahme des deutschen Spardiktats bestätigt fühlten. Die „Nachrichten aus Spanien bestätigen unsere Position, dass es sich bei der Krise um ein paneuropäisches Problem handelt“, erklärte der Vorsitzende der griechischen Partei Syriza, Alexis Tsipras, in einem Zeitungsinterview. Der bisherige Politikansatz sei „komplett ineffektiv und sozial desaströs“ gewesen und müsse umgehend revidiert werden. Giannis Dragasakis, der wirtschaftspolitische Sprecher von Syriza, machte wiederum klar, wohin das derzeitige Spardiktat führe, dass Griechenlands Wählern mit der Drohung eines Euro-Ausschlusses aufgenötigt werden solle. Diese Erpressungsversuche folgten bereits einer „faschistischen Logik“, so Dragasakis.