Die Wut und ihre Bürger
von Franz Schandl
„Das darf doch nicht wahr sein“, ist des Wutbürgers Schrei und dokumentiert doch nichts anderes als sein breites Unverständnis. Ansonsten könnte er nicht dauernd erschüttert und überrascht sein. Permanente Aufregung ist Kennzeichen der Ignoranz. Wut ist dumpf, aber entschieden. Sie weiß alles, wovon sie nichts versteht. Ihre Empörung ist ihr heilig. Darunter macht sie es nicht. Und über sie kann sie sich nicht erheben. Wut ist nur möglich, wo der Gedanke verbannt ist, der Reflex über die Reflexion obsiegt.
Der eigene Affekt erscheint nicht verdächtig, er ist vielmehr dieses Bürgers feste Burg. Er setzt sich in Gang, ohne von sich wissen, geschweige denn sich erforschen zu wollen. Er tritt auf als Lösung, nicht als Problem. Dass gerade das Sich das eigene Rätsel ist wie auch dessen Schlüssel wäre, will seinem Träger nicht kommen. „Ich bin, wie ich bin“, sagt der Wutbürger, „und ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist.“ Leider.
Wutbürger kündigen der Politik ihre Gefolgschaft, umso frenetischer verherrlichen sie deren Ideologie. Das Sein wird ausschließlich an seinem von ihm selbst gesetzten Sollen bemessen. Man will die Widersprüche nicht als immanente erkennen, sondern sitzt ihnen förmlich auf. Die Diskrepanz zwischen Idealität und Realität wird nicht als für die kapitalistische Gesellschaft konstitutiv angenommen, sondern als auf ihrem Boden behebbare Störung. Die Diskrepanz erscheint nicht als notwendige Täuschung, sondern als vorsätzlicher Betrug. Stets werden untragbare Zustände als abstellbare Missstände aufgefasst, unentwegt reproduziert und mobilisiert der gesunde Menschenverstand bürgerliche Tugenden und marktkonforme Muster gegen die Wirklichkeit. Seine Replik ist ein Duplikat der Konvention.
Die Begrifflichkeit der Wutbürgerei drückt die ganze Befangenheit dieser Empörung aus. An ihrer Terminologie sind sie leicht zu erkennen. Was sich heute als Widerstand formiert, ist in den meisten Fällen schwer kontaminiert. Das ist jetzt gar nicht als Vorwurf gemeint, sondern lediglich als Feststellung, der nicht wenig Traurigkeit anhaftet. Das soll man nicht leugnen und schon gar nicht einem Bewegungsfetischismus huldigen, der puren Aktivismus zu einem positiven Kriterium erhebt.
Wut ist letztlich ein Affekt, wo das gesellschaftliche Objekt durch das gesellschaftliche Subjekt bestätigt wird. In der Wut kommt der Bürger nackt zu sich. „Wir sind wütend“, schreit der Mob. Da erwacht die Herde und wird zur Horde. Koma versetzt sich in Amok. Die Beschränktheit der Beschränkten macht sich in der Wut Luft, sie ist der adäquate Ausdruck konformierten Widerstands. Verfestigung der Wut wäre demnach der Hass, eine blindwütige Feindschaft, die nach Opfern schreit. Ist Wut noch eine korrigierbare Verunglückung, so Hass bereits ein schwer behebbares Unglück.
Von seinem Erfinder, dem Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit noch in verächtlicher Weise sowohl gegen Sarrazin-Anhänger als auch Stuttgarter Bahnhofsdemonstranten gebrauchtes Wortgebilde, hat sich der Wutbürger inzwischen verselbständigt, ja ist gar zum Wort (nicht Unwort!) des Jahres aufgestiegen, positiver Bezugspunkt geworden, selbst wenn gelegentlich das „W“ durch ein „M“ ersetzt worden ist
Findet zum Begriff Wut eine, wenn auch seltsame Debatte statt, so bleibt die Kategorie Bürger völlig unproblematisiert. Dass gerade die Spezies des Bürgers die anzurufende Instanz ist, wird vorausgesetzt. Wer sonst? Menschen? Aber geh! Alles was sich regt und aufregt, muss als Bürger verkleidet daherkommen und in die Zivilgesellschaft und ihre Werte verliebt sein. Der Bürger, der hier Besitz- und Staatsbürger vereinigt, ist Leitbild einer Opposition, die keine ist. Der Bürger soll nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr verwirklicht werden. Er ist Referenz-, nicht Abstoßungspunkt. Sein Universum ist nicht überschreitbar. Indes stünde gerade dieses zur Disposition.