Die Wirtschaftskrise und das „fiktive Kapital“
Interview mit Ernst Lohoff und Norbert Trenkle über die Wirtschafts- und Finanzkrise – Teil 2
Fragen von Reinhard Jellen
Diese Verlagerung der Akkumulation von der Produktion in die Sphäre der Spekulation beseitigt aber das Verwertungs-Problem nicht, sondern bringt es nur auf eine tiefgreifendere Ebene – mit umso schwerwiegenderen Konsequenzen. Bricht der Glaube an die Realisierung der zukünftigen Werte weg, weil absehbar ist, dass sich die realwirtschaftliche Basis auf die sich die Eigentumstitel beziehen, erodiert, bricht nach Ansicht der Autoren von Die große Entwertung das gesamte kettenbriefartig strukturierte System zusammen.
Teil 2 des Gesprächs mit Ernst Lohoff und Norbert Trenkle über die Wirtschafts- und Finanzkrise.
Was sind die Ursachen für die gegenwärtige Krise?
Norbert Trenkle:
Bei den Ursachen muss man die beiden Hauptschichten der Krise unterscheiden. Die basale Krise der Wertverwertung ist, wie gesagt, der beschleunigten Produktivitätsentwicklung geschuldet, die immer mehr Arbeitskraft überflüssig macht. Dabei spielt die dritte industrielle Revolution eine entscheidende Rolle. Zwar gab es auch in früheren Phasen der kapitalistischen Entwicklung gewaltige Rationalisierungsschübe, so etwa, als in den 1920er und 30er Jahren die fordistischen Produktionsmethoden eingeführt wurden. Aber gleichzeitig wurden damit auch neue Sektoren für die industrielle Massenproduktion erschlossen, die massenhaft zusätzliche Arbeitskraft benötigten. Diese Expansion der Warenproduktion auf neue Felder kompensierte die Rationalisierungseffekte, sodass letztlich sogar mehr Arbeitskraft vernutzt wurde als zuvor.
Mit der dritten industriellen Revolution funktioniert dieser Kompensationsmechanismus jedoch nicht mehr. Denn die Umstrukturierung der Produktionsprozesse auf Grundlage der IuK-Technologien bedeutet eine Verlagerung der gesellschaftlichen Produktivkraft auf die Ebene des Wissens, genauer gesagt, hin zur Anwendung des Wissens auf die Produktion. Damit aber sind die Grundlagen der Kapitalverwertung in Frage gestellt, denn es kommt zu einer absoluten Verdrängung von Arbeitskraft quer durch alle Sektoren der Wertproduktion, die nicht mehr durch die Erschließung neuer Branchen wettgemacht werden kann.
Was ist nun das „fiktive Kapital“ und welche Rolle spielt es in der aktuellen Krise?
Ernst Lohoff:
Das „fiktiven Kapital“ ist für das Verständnis der zweiten Schicht der Krise zentral. Marx führte diesen Begriff in Abgrenzung zum Begriff des „fungierenden Kapitals“ ein. Er zeigte, dass das Kapital im Laufe seiner Entwicklung nicht nur die Produktion von Kartoffeln, Stahl, Textilien usw. in Warenproduktion verwandelt, sondern dass das Geldkapital selber ebenfalls zur handelbaren Ware wird.
„Anspruch auf zukünftigen Wert“
Dabei geschieht etwas höchst Merkwürdiges. Aufgrund des Verkaufs gewinnt das Ausgangskapital plötzlich eine doppelte Existenz. Einerseits befindet sich das Ausgangskapital beim Kreditnehmer beziehungsweise beim Aktien ausgebenden Unternehmen, gleichzeitig hat aber der Kreditgeber beziehungsweise der Aktionär ein Spiegelbild des Ausgangskapitals in Händen, nämlich einen Eigentumstitel (Anleihe, Aktie etcetera), der einen monetären Anspruch darstellt. Diese Verdoppelung ist keineswegs eine bloße Fiktion, wie der Begriff des „fiktiven Kapitals“ nahe legen könnte. Sie existiert nicht nur in den Köpfen, sondern gewinnt in Gestalt des Wertpapiers eine objektive gesellschaftliche Existenz, solange der verbriefte Anspruch als einlösbar erscheint. Es handelt sich um einen Anspruch auf zukünftigen Wert und dieser stellt zunächst genauso kapitalistischen Reichtum dar wie der vom fungierenden Kapital der Arbeitskraft abgepresste Wert.
Zu Marxens Zeiten stellte diese Art der Kapitalvermehrung durch Vorabkapitalisierung künftigen Werts eine für die längerfristige Entwicklung der Kapitalakkumulation irrelevante Marginalie dar. Seit dreißig Jahren aber ist sie zur eigentlichen Quelle kapitalistischen Reichtums geworden. Um die kapitalistische Produktion am Laufen zu halten, obwohl durch die Produktivitätsentwicklung immer mehr Arbeitskraft überflüssig gemacht wird, wurden immer größere Portionen an zukünftigem, fiktivem Wert in die Gegenwart gepumpt. Damit konnte die strukturelle Krise der Verwertung zunächst einmal aufgeschoben werden.
Und was ist der Haken bei der Sache?
Ernst Lohoff:
Dummerweise kann ein auf Vorwegnahme künftiger Wertproduktion beruhendes System nur als Kettenbriefsystem funktionieren. Und als solches kommt es von zwei Seiten in die Klemme: auf der einen Seite wachsen die Altlasten schon verbrauchter kapitalistischer Zukunft umso schneller in den Himmel, je länger diese verrückteste Form des Kapitalismus schon vor sich hin prozessiert. Die Schulden der Vergangenheit können nicht folgenlos verschwinden. Sie müssen entweder refinanziert werden oder es wird gesellschaftliches Kapital durch die Annullierung des fiktiven Kapitals vernichtet.
„Schulden der Vergangenheit können nicht folgenlos verschwinden“
Zum anderen kann die wachsende Flut immer neuer Eigentumstitel nur dann Absatz finden, wenn es irgendwie plausibel erscheint, dass sich die Zahlungsversprechen und Gewinnaussichten der Kreditnehmer und sonstiger Eigentumstitelverkäufer auch realisieren lassen. Ist das nicht mehr gewährleistet, platzt die Blase und es erscheint dann so, als handele es sich um eine „Finanzkrise“. In Wahrheit aber versagt nur der Mechanismus, der es jahrzehnzelang erlaubt hat, die Strukturkrise der Verwertung aufzuschieben. Wenn man das versteht, weiß man, dass die aktuelle Krise weitaus dramatischer ist, als sie wahrgenommen wird. Es handelt sich um eine Systemkrise im strengen Sinne des Wortes, um eine Krise, die das System der kapitalistischen Reichtumsproduktion ernsthaft in Frage stellt.
Welche Folgen wird die Sparpolitik zeitigen, die gegenwärtig als Lösung der Krise von der wirtschaftlichen und politischen Klasse betrieben wird?
Norbert Trenkle:
Was die Sparpolitik angeht, muss man zwei Dinge auseinanderhalten. Sparpolitik in dem Sinne der offiziellen Zwecksetzung, nämlich als Weg hin zur Haushaltskonsolidierung, ist eine Fata Morgana. Die Neuverschuldung wird schon allein deshalb weitergehen müssen, weil den Staaten gar keine andere Wahl bleibt, als immer wieder zig Milliarden in das Banken- und Finanzsystem zu pumpen, um dessen Zusammenbruch so lange wie irgend möglich aufzuschieben, weil sonst katastrophale Folgen drohen. Diese Milliarden können jedoch unmöglich aus der realen Wertschöpfung stammen, sondern lassen sich nur durch den erneuten Vorgriff auf zukünftigen Wert aufbringen.
„Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung sind verheerend“
Also müssen die Staaten alles daran setzen, ihre Kreditwürdigkeit zu wahren und so zu tun, als wären sie zu einer längerfristigen Haushaltskonsolidierung in der Lage. Und genau das demonstrieren sie durch eine knallharte Sparpolitik gegenüber all jenen gesellschaftlichen Bereichen, die vom Standpunkt des fiktiven Kapitals als reiner Ballast gelten: die Sozialsysteme, die öffentlichen Dienste, der Bildungssektor etc. Die offizielle Sprachregelung ist in dieser Hinsicht eigentlich sehr offenherzig, wenn sie zwischen „systemrelevanten“ und „nicht-systemrelevanten“ Sektoren unterscheidet. Dass die Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung und die stoffliche Reichtumsproduktion verheerend sind, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Es genügt ein Blick nach Griechenland und Spanien, wo gerade vorexerzert wird, was früher oder später auch in den Ländern droht, die bisher noch nicht ganz so stark von den Krisenfolgen betroffen sind.
Wozu diese Verelendungspolitik?
Norbert Trenkle:
Diese wird nicht etwa deswegen betrieben, um die Gesellschaft „nachhaltig“ zu gestalten und „unseren Kindern“ keine übermäßigen Schulden zu hinterlassen, wie es im moralinsauren, pathetisch-verlogenen Politikerjargon heißt, sondern nur um die Akkumulation des fiktiven Kapitals noch eine Zeitlang fortzusetzen. Der Preis dafür wird allerdings immer höher. Denn jetzt geht es nicht mehr nur darum, die Maschine der abstrakten Reichtumsproduktion, die aufgrund der hohen Produktivität ins Stocken geraten ist, durch das Ansaugen von zukünftigem Wert in Schwung zu halten. Vielmehr muss in erster Linie verhindert werden, dass das aufgetürmte Gebirge uneinlösbarer Zahlungsversprechen zusammenbricht. Deshalb fließt der Großteil des neu geschöpften fiktiven Kapitals wieder direkt in den Finanzsektor zurück und immer weniger davon kommt im realwirtschaftlichen Kreislauf an.
„Aufgetürmte Gebirge uneinlösbarer Zahlungsversprechen“
Damit gelangt die demonstrative Sparpolitik allerdings an einen Punkt, wo sie kontraproduktiv selbst noch für den bornierten Zweck der Akkumulation von fiktivem Kapital wird. Wo sie nämlich ins Extrem getrieben wird wie derzeit in Griechenland und Spanien, führt das direkt in die wirtschaftliche Depression – und davon ist dann auch das Banken- und Finanzsystem betroffen. Langsam dämmert das auch den Hardlinern unter den deutschen und europäischen Sparkommissaren. Deshalb und natürlich auch wegen der massiven Proteste werden jetzt neue Wachstums- und Konjunkturprogramme diskutiert. Ob diese jedoch noch rechtzeitig umgesetzt werden, bevor die Lawine abgeht, ist unklar. Zu hoffen ist es, denn immerhin könnte damit der Verarmungsschub erst einmal abgebremst werden.
Freilich wäre damit bestenfalls ein gewisser zeitlicher Aufschub erreicht. Denn solche Programme hängen ja genauso am Tropf des fiktiven Kapitals und deshalb ist es auch konsequent, dass ihre Fürsprecher, wie der neue französische Präsident Hollande, keinesfalls die Sparpolitik als solche in Frage stellen, sondern sie nur etwas anders gestalten wollen. Auch sie rennen der Illusion eines ausgeglichenen Haushalts hinterher und sind letztlich bereit, der Bevölkerung für diese Fiktion alle möglichen Opfer abzuverlangen. Von einer möglichen rot-grünen Bundesregierung im kommenden Jahr sind in dieser Hinsicht jedenfalls jede Menge Grausamkeiten zu erwarten.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass „früher oder später ein Punkt erreicht sein muss, an dem das erreichte Niveau der Produktivkräfte mit der kapitalistischen Reichtumsform unvereinbar wird.“ – Gibt es aber nicht in jeder Krise beziehungsweise danach Tendenzen, die der Krise entgegenwirken?
Ernst Lohoff:
Die Marxsche Krisentheorie verbindet zwei Elemente miteinander. Zum einen vertritt Marx die These, das Kapital steuere aufgrund der Produktivkraftentwicklung auf eine unüberwindbare historische Schranke zu. Auf der anderen Seite hat er auch den Verlauf der periodischen Krisen untersucht, die immer wieder den Fortgang der Kapitalakkumulation unterbrechen. Diese beiden Elemente sind in seiner Krisentheorie insofern miteinander verklammert, als in den periodischen Krisen das Grundproblem des Kapitalismus, die Unterordnung der stofflichen Reichtumsproduktion unter den armseligen Zweck der Wertverwertung, immer schon aufscheint.
„Buddhistisches Krisenverständnis“
Gerade in der linken Diskussion herrscht noch viel mehr als in anderen Segmenten der Gesellschaft eine ausgeprägte Tendenz, die gegenwärtige Krise kleinzureden. Dementsprechend wird das Problem der periodischen Krisen isoliert betrachtet und die Möglichkeit einer historischen Schranke einfach durchgestrichen. Das Ergebnis ist eine Art buddhistisches Krisenverständnis, demzufolge Krisen nichts weiter sind als reine „Selbstreinigungskrisen“. Sie kommen und gehen ewig und stärken letztlich das Kapital nur. Bei Marx selbst klingt das, auch wo er nur von den periodischen Krisen spricht, völlig anders: „Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandenen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen“ (MEW 25, S.259). Das Übergreifende ist für ihn die beständige Verschärfung und Akkumulation neuer Widersprüche.
Unsere Argumentation im Buch knüpft unmittelbar an der Marxschen Vorstellung einer historischen Schranke an und verortet diese in der dritten industriellen Revolution. Dass die Kapitalvernichtung in der Krise die Profitabilität des überlebenden Kapitals wiederherstellen und damit zum Ausgangspunkt eines neuerlichen Akkumulationsschubs werden kann, bezieht sich nicht auf das Problem der historischen Schranke, sondern ausschließlich auf die periodischen Krisen. Vorausgesetzt ist dabei, dass nach der Bereinigung von Überkapazitäten ein neuer Schub selbsttragender Kapitalverwertung einsetzen kann. Aber genau das ist unter den Bedingungen der dritten industriellen Revolution grundsätzlich ausgeschlossen.
ursprünglich erschienen: Telepolis 2.8.2012