Demokratie in der Krise
Die derzeitige Krisis enthüllt den ambivalenten Charakter bürgerlicher Demokratie.
Krise des Kapitalismus – Teil 4
von Tomasz Konicz
Wohin treiben wir? Wir lenken schon lange nicht mehr, führen nicht, bestimmen nicht. Ein Lügner, wer’s glaubt. Schemen und Gespenster wanken um uns herum – taste sie nicht an: sie geben nach, zerfallen, sinken um. Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.
Kurt Tucholsky
Ist das Grundgesetz krisenkompatibel? Deutschlands Verfassungshüter sehen sich derzeit enormen politischen Druck ausgesetzt, diese Frage zu bejahen, seitdem das Bundesverfassungsgericht über etliche Eilanträge gegen den Euro „Rettungsschirm“ und den Fiskalpakt verhandelt. Die Mahnungen seitens der Politik an Karlsruhe brachte Bundesfinanzminister Schäuble auf den Punkt, als er vor „erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen mit nicht absehbaren Folgen“ warnte, sollte das Verfassungsgericht den Rettungsschirm ESM stoppen:
„Zweifel an der verfassungsrechtlichen Möglichkeit oder der Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, Gefahren für die Stabilität der Eurozone abzuwenden, könnten dazu führen, dass die derzeitigen Krisensymptome deutlich verstärkt würden.“
Die Eilanträge gegen diese jüngst vom Bundestag beschlossenen Krisenmaßnahmen, die von politisch so unterschiedlichen Kräften wie der Fraktion der LINKEN, dem CSU-Populisten Gauweiler und der ehemaligen SPD-Justizministerin Däubler-Gmelin („Dazu braucht es einen Volksentscheid“) eingereicht wurden, artikulieren ein verbreitetes und diffuses Unbehagen in der Bevölkerung, das sich in der Angst vor einer Aushöhlung der Demokratie, in Ohnmachtsgefühlen oder Ressentiments manifestiert. Die Ahnung greift immer stärker um sich, dass die Einflussmöglichkeiten der Bevölkerung auf den Krisenprozess schwinden, dass eine schleichende Entmachtung der demokratisch legitimierten Institutionen einsetzt, bei der nationalstaatliche Kompetenzen und Machtmittel in eine undurchschaubare, europäische und postnationale Bürokratie verlagert werden.
Diese Gefühle der Ohnmacht und Ausweglosigkeit, die sich oftmals mit Aggressionen gegen Sündenböcke unterschiedlichster Couleur anreichern, haben einen sehr realen Kern. Denn Schäuble hat Recht. Wir haben – nicht nur im Fall des ESM – keine Wahl. Ein höchstrichterlicher Stopp des ESM wird selbstverständlich die ohnehin zerrüttete Eurozone in weitere Turbulenzen stürzen. Ohne diesen „Schutzschirm“ würde die Zinsbelastung in Südeuropa rasch auf ein unerträgliches Niveau ansteigen, würde die Eurozone sich erneut am Abgrund wiederfinden.
Der von einer Systemkrise erfasste Spätkapitalismus kann nur noch als ein autoritäres, hyperbürokratisches Gebilde aufrecht erhalten werden, dass offen die elementaren Bedürfnisse der überwiegenden Anzahl der Menschen in Europa negiert. Damit ähnelt er wieder den absolutistischen Militärdiktaturen, die im 17. Und 18. Jahrhundert als Geburtshelfer dieser brutalen Gesellschaftsformation dienten.
Die Reproduktion der gesamten Gesellschaft hängt am Tropf der Kapitalreproduktion
In gewisser Weise macht die Bevölkerung in Deutschland gerade dieselbe Erfahrung durch, die den Menschen in Südeuropa bereits hinlänglich bekannt ist (Weniger Demokratie wagen: Dass es da eine mächtige Krisendynamik gibt, die stärker ist als der Wille des Souveräns und seiner demokratischen Institutionen. Die systemimmanente Ausweglosigkeit der Krisenpolitik ist etwa den Griechen bereits mehrmals vor Augen geführt worden; zuletzt bei den Drohungen vor der Parlamentswahl, als auch deutsche Politiker massiv Druck ausübten, um die Wählerschaft in Hellas zur „richtigen“ Wahl zu animieren. Die Richtlinien der Politik werden in dem in Schuldknechtschaft gehaltenen Land längst von der „Troika“ aus EU-Kommission, EZB und IWF bestimmt.
Auch Spaniens rechte Regierung um Premier Rajoy kämpfte wochenlang gegen eine immer noch als „Hilfe“ bezeichnete Intervention der EU im Bankensektor, bis sie aufgrund der steigenden Zinslast auf den „Märkten“ kapitulieren musste. Italiens Ministerpräsident Monti ist selber ein „Produkt“ der Krise, da sein Vorgänger Berlusconi erst nach einer Eskalation der italienischen Schuldenkrise und massiven politischen Druck sein Amt räumte.
Die Illusion von Demokratie und Selbstbestimmung im Kapitalismus geht nun deswegen verloren, weil das Produktionsverhältnis in eine fundamentale Krise geraten ist, das diese Gesellschaftsformation konstituiert. Aufgrund der Krise des Kapitalverhältnisses, das immer neue Produktivitäts- und Rationalisierungsschübe hervorbringt, (siehe: Die Krise kurz erklärt), werden immer mehr Menschen in Arbeitslosigkeit und Elend gestoßen – während in Deutschland der Widerstand gegen immer neue „Rettungspakete“ für diese südliche Peripherie wächst.
Dieser marktvermittelte Vorgang nimmt den Charakter eines „Sachzwanges“ an, der alternativlos ist, da bei dessen Nichtbefolgung zusammenbruchsartige Verwerfungen drohen. Die Griechen und Spanier müssen immer neue Sparpakete auflegen, Deutschland wird weiter für die Eurozone haften, da ansonsten der Zusammenbruch der Eurozone droht. Die Krise lässt nun für Alle sichtbar werden, dass wir eigentlich keine Wahl haben, da die Reproduktion der gesamten Gesellschaft am Tropf der Kapitalreproduktion hängt. Gerät das Kapitalverhältnis in die Krise, so steht alles zur Disposition: Das Grundgesetz, die Demokratie, elementare Menschenrechte und auch Menschenleben.
Alternativen stehen nicht zur Debatte
Die „Technokratenregierungen“ in Südeuropa sind nur der offenkundige Ausdruck dessen, dass die gesamte Gesellschaft den Vorgaben der kriselnden Kapitalakkumulation ausgeliefert ist. Die eskalierende Diktatur des kapitalistischen „Sachzwanges“ ist eine objektive Begleiterscheinung der Krise des Kapitalismus. Diese subjektlose Herrschaft des Kapitalverhältnisses bildet im Endeffekt die totale Negation der Demokratie, wenn hierunter Emanzipation, Selbstbestimmung und tatsächliche Wahlmöglichkeiten bezüglich der eigenen Lebensumstände zu verstehen sind. Die bürgerliche Demokratie hingegen ist eine Konkurrenzveranstaltung – sowohl zwischen den Parteien wie auch innerhalb der Parteien -, bei der letztendlich um die Optimierung des bestehenden Systems gestritten wird und die nur ein Echo des allumfassenden Konkurrenzkampfes in der Wirtschaftssphäre bildet. Die Wahlmöglichkeiten beschränken sich auf die Optimierung des bestehenden Systems, Alternativen stehen überhaupt nicht zur Debatte. Die bürgerliche Demokratie erschöpft sich im Endeffekt in der Wahl zwischen Pepsi und Coke.
Wir hatten also noch nie eine richtige Wahl, aber diese Eindimensionalität bürgerlicher Demokratie kommt erst in der Krise zum vollen Vorschein, sodass diese Einsicht nun massenhaft um sich greift. Die Ahnung, dass wir unser Leben unter dem Kapitalverhältnis gerade nicht selbstbestimmt gestalten können, bildete ja auch einen wichtigen Impuls bei der Gründung der Piraten und ähnlicher radikaldemokratischer Bewegungen in Osteuropa (Die Piraten Tschechiens: Dissidenten gegen „Mafiakapitalismus“), die mit neuen Demokratieformen wie dem „Liquid-Konzept“ experimentieren oder eine Rückbesinnung auf ursprüngliche, angeblich „reine“ Formen der Demokratie anstreben. Generell findet eine „Rückbesinnung“ auf die Ursprünge und Gründungsmythen der krisengeschüttelten Gesellschaften statt, bei der die irrsinnige Jagd nach den zerfallenden „Schemen und Gespenstern“ der Vergangenheit einen Weg in die Zukunft weisen soll.
Diese Krisenideologie, die die Zukunft in der Vergangenheit verortet, hat System. Da die bürgerliche Demokratie wie der korrespondierende öffentliche Diskurs nur auf die Optimierung des bestehenden Systems geeicht sind, können sie bei der gegenwärtigen Systemkrise keine Lösungswege offenlegen. Stattdessen drehen sich die Protagonisten des demokratischen Diskurses immer schneller im Kreise, die eigenen Argumente wiederholend und den Forderungen der Gegenseite nachschnappend.
Die Diskursbewegung einzelner Akteure erinnert an Hunde, die ihrem eigenen Schwanz nachjagen. Seit dem Krisenausbruch tobt in der Öffentlichkeit die öde Auseinandersetzung um die Fragestellung, ob denn nun weitere Konjunkturpakete oder Sparmaßnahmen den Weg aus der Krise weisen – ohne dass die Beteiligten wahrnehmen wollen, dass beide Konzepte im Rahmen der bisherigen Krisenpolitik erprobt wurden und spektakulär gescheitert sind (Ist es schon zu spät?). Die Konsequenz daraus zu ziehen und die Systemkrise überhaupt erst mal wahrzunehmen, ist innerhalb der „veröffentlichten“ Meinung kaum möglich.
Und genau diese ideologische Eindimensionalität, dieses blinde Verharren in den Kategorien des kriselnden Kapitalismus, macht die kapitalistische Demokratie in Krisenzeiten so brandgefährlich. Wenn die systemimmanenten Rezepte – wie Konjunkturprogramme und Sparmaßnahmen – in der üblichen Intensität bei der Überwindung der Schuldenkrise nicht helfen, dann gewinnt die Tendenz an Intensität, das bestehende System ins Extrem zu treiben. Das Bestreben, mit einer Rückkehr zu den „reinen“ und unverfälschten Ursprüngen und Gründungsmythen die Systemkrise zu überwinden, führt in der Praxis zu einer strukturellen Verhärtung, zu einer Steigerung des Drucks im System.
Wirtschaftlicher Druck schafft einen Extremismus der Mitte
Der Druck wird auf alle erhöht, die als Kostenfaktoren gelten: etwa auf Arbeitslose oder auf Südeuropäer. Die betriebswirtschaftliche Logik wird längst der gesamten Gesellschaft übergestülpt, die schon Sprichwörtlich als die „Deutschland AG“ bezeichnet wird. In seiner finalen Krise ist das Kapitalverhältnis in einer letzten brutalen Expansionsbewegung bestrebt, das gesamte menschliche Gemeinwesen dem im Scheitern begriffenen Ökonomismus unterzuordnen: Alle müssen beständig unter Beweis stellen, dem Wirtschaftsstandort Deutschland nicht zur Last zu fallen. Jeder, der aus der Arbeitsgesellschaft herausfällt, gilt bereits jetzt in der Öffentlichkeit wie in den staatlichen Behörden als Freiwild.
Und selbstverständlich ist diese Haltung mehrheitsfähig. Härtere Strafen gegen Arbeitslose und eine Verweigerung jeglicher Hilfen an Südeuropa könnten in Deutschland vermittels Liquid Feedback jederzeit durchgesetzt werden. Die breite Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland erfährt die Krise als eine beständige Zunahme von Druck am Arbeitsplatz – und dieser angestaute Druck verlangt nach Triebabfuhr, der wechselnde Sündenböcke dienen. Ein Extremismus der Mitte wird derzeit mehrheitsfähig, bei dem die betriebswirtschaftliche Logik auf die gesamte Gesellschaft projiziert wird und alle aus der Deutschland AG herausgefallenen Menschen als deren Feinde betrachtet werden. Demokratie verkommt so zu bloßem Terror der Mehrheit gegen die marginalisierte Minderheit.
Unfähig, die Strukturen und Kategorien des kollabierenden Kapitalismus in Frage zu stellen, tendiert der bürgerliche öffentliche Diskurs zum Extremismus – und letztendlich zur Barbarei. Diese krisenbedingte „extremistische“ Eigenbewegung der veröffentlichten Meinung erklärt auch den Erfolg populistischer Akteure wie Hans-Werner Sinn und Thilo Sarrazin. Sie treiben den Extremismus der Mitte voran, indem sie all die Ressentiments in die Öffentlichkeit hineintragen, die bereits an den Stammtischen gepflegt werden. Insbesondere Sarrazins erfolgreiches Geschäftsmodell besteht aus einem permanenten Zivilisationsbruch, bei dem die letzten Reste von Anstand und Rücksichtnahme öffentlich geschleift werden.
Der eindimensionale – in den zerfallenden kapitalistischen Kategorien verfangene – öffentliche demokratische Diskurs bildet somit in Krisenzeiten die größte Gefahr für die Demokratie, indem er dem Terror der Ökonomie eine demokratische Legitimation verschafft. Doch zugleich bildet Demokratie die conditio sine qua non jeglicher transformatorischer Überwindung der Krise. Jede Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise kann nur in der Form eines breiten, öffentlichen Diskurses ablaufen, bei dem die Beteiligten sich in Ansätzen über Wege und Ziele einer postkapitalistischen Gesellschaft verständigen. Ein solcher demokratischer Diskurs würde sich nicht in dem irren und zusehends barbarische Zügen annehmenden Bestreben zur Aufrechterhaltung eines zerfallenden Gesellschaftssystems erschöpfen, sondern sich auf die Suche nach dem Neuen begeben – und einen gesellschaftlichen Aufbruch initiieren. Die Occupy-Bewegung und die spanischen „Indignados“ bilden Beispiele für Bestrebungen, die mittels neuer basisdemokratischer Organisationsformen einen solchen Aufbruch zu initiieren.
Kampf um die Begriffe
Der Kampf um die Zukunft unserer krisengeschüttelten Gesellschaft ist somit auch ein Kampf um Begriffe. Was verstehen wir unter Demokratie? Werden die Kategorien des Kapitalismus weiterhin die stumme Voraussetzung eines massenmedial gesteuerten öffentlichen Diskurses und der korrespondierenden Entscheidungsfindung bilden, oder kann ein egalitärer, auf die Transformation der bestehenden Gesellschaftsunordnung abzielender Diskurs eingeleitet werden?
Neben dem Kampf um Begriffe tobt somit bereits ein Kampf um die Struktur des öffentlichen Diskurses: Trotz aller positiven Wandlungen durch das Internet ist der Krisendiskurs in Deutschland immer noch hierarchisch strukturiert, sodass wenige Medienkonzerne mit ihren Produkten und Webpräsenzen den Diskussionsverlauf maßgeblich prägen konnten. Voraussetzung eines demokratischen Aufbruchs aus der kapitalistischen Dauerkrise sind aber freie Kommunikationsmöglichkeiten und eine egalitäre Diskursstruktur, die eine Monopolisierung des Diskurses verhindert.
Letztendlich ist es entscheidend, wie innerhalb des öffentlichen Diskurses auf das eingangs dargelegte Gefühl der „Ohnmacht“ reagiert wird, das durch die eskalierenden Krisendynamik gespeist wird: In Deutschland dominiert eine gesteigerte Unterwerfung unter den Terror der Ökonomie. In Ländern wie Spanien oder Griechenland konnten sich hingegen Bewegungen etablieren, die mit Auflehnung reagieren und neue Formen von Demokratie und Entscheidungsfindung erprobten.
Demokratie bildet somit die größte Gefahr für unsere Zukunft – und sie ist zugleich unsere größte Hoffnung. Es hängt letztendlich von uns ab, ob wir uns in einer Abend- oder einer Morgendämmerung befinden. Der nächste Text wird die krisenbedingten Wandlungen des Rechtsextremismus thematisieren.
zuerst erschienen in Telepolis 16.07.2012