Das Zentrum des Sturms ist die Bewegung
Über die Systemkrise des Kapitalismus, seine historischen Ursachen und die Occupy-Bewegung
US-Marxist Richard D. Wolff im Interview mit Tomasz Konicz
Die wirtschaftlichen Turbulenzen in den USA und Europa sollten nicht als Finanz- oder Schuldenkrise, sondern als Systemkrise des Kapitalismus verstanden werden, meint Prof. Richard D. Wolff, einer der bedeutendsten marxistischen Ökonomen in den USA. Der emeritierte Professor der University of Massachusetts in Amherst forschte vor allem zu Grundsatzfragen der ökonomischen Methodologie und der Klassenanalyse. Der 69-Jährige, der auch am Brecht-Forum in New York lehrte, hält die Occupy-Bewegung gerade in den USA für sehr bedeutend, denn erstmals seit Jahrzehnten stelle eine Massenbewegung den Kapitalismus insgesamt infrage. Im Mai erscheint sein neues Buch: »Occupy the Economy: Challenging Capitalism«. Mit Richard Wolff sprach nd-Autor Tomasz Konicz.
nd: Ob in den USA oder in Europa – der Kapitalismus steckt in der Krise. Haben gierige Banker diese ausgelöst oder ist sie auf systemische Ursachen zurückzuführen?
Richard D. Wolff: Die gegenwärtige Krise als eine Finanzkrise oder als eine Krise der Wall Street darzustellen, ist ideologisch. Ich spreche von einer Krise des Kapitalismus, weil es eine Krise des gesamten Systems ist: der Wall Street wie der Main Street (Mittelschicht), des Finanzsektors wie der Industrie, der Exporte und des Arbeitsmarkts.
Was ist aus Ihrer Sicht also die zentrale Ursache für die Krise?
Diese ist auf ein dem Kapitalismus innewohnendes Problem zurückzuführen, das Karl Marx perfekt verstand: Wenn Kapitalisten die Möglichkeit haben, ihre Lohnkosten zu reduzieren – durch Lohnkürzungen oder durch Entlassungen und Automatisierung der Produktion -, dann hoffen sie darauf, höhere Profite zu erzielen. Aber sie vergessen, dass die verringerte Anzahl der Arbeiter mit niedrigeren Löhnen dann nicht mehr das kaufen kann, was Kapitalisten und Arbeiter zusammen produzieren. Ihr Erfolg im Absenken der Löhne wird für die Kapitalisten zum Problem beim Warenabsatz. Der Kapitalismus hat es nie vermocht, diesen fundamentalen Widerspruch zu lösen. Periodisch, wenn es zu weit in Richtung steigender Profite auf Kosten der Arbeiterlöhne geht, kollabiert das System. Genau wie jetzt.
Was sind die Hauptdimensionen der aktuellen Krise in den USA?
In den letzten 30 Jahren wurden die sozialen Programme und Errungenschaften demontiert, die eingeführt worden waren, als der Kapitalismus das letzte Mal in einer Systemkrise steckte – während der »Großen Depression« der 1930er Jahre. Damals führten die USA das System der »Social Security« ein. Die großen Sozialprogramme verwandelten in Wechselwirkung mit Steuererhöhungen für Reiche und Konzerne die USA von einer sehr ungleichen Gesellschaft zu einem der egalitärsten kapitalistischen Staaten. Dieser relativ egalitäre Wohlfahrtskapitalismus wurde aber schon immer von einem signifikanten Teil der Unternehmerschaft und der reichsten Bürger bekämpft. Ab den 70er Jahren wurde ihre Opposition hegemonial und es fand die Umkehrung der erreichten Angleichung der Einkommensverteilung und Lebensverhältnisse statt. Die Steuern für die Reichen und Konzerne wurden gesenkt, es fand eine umfassende Deregulierung statt. Nun haben wir wieder einen Kapitalismus, in dem die Abgründe zwischen Reich und Arm, die Unterschiede zwischen Profiten und Einkommen so groß sind, dass der Boden für einen abermaligen Kollaps wie 1929 bereitet war.
Wie vermochten es Unternehmer und die Reichen, den Rückbau des Sozialstaates einzuleiten?
In den 1970er Jahren hatten sich Deutschland und Japan vom Desaster des Zweiten Weltkriegs erholt und stiegen erneut zu mächtigen Rivalen der USA auf. GM und Ford mussten sich mit Volkswagen und Toyota auseinandersetzen. Dies führte erstens dazu, dass die Kapitalisten nicht mehr höhere Löhne zahlen konnten. Zweitens wurden Millionen von Arbeitern durch Computer ersetzt. Drittens realisierten amerikanische Kapitalisten, dass sie Arbeitskräfte in Europa, Lateinamerika und vor allem in Südostasien als billigen Ersatz nutzen konnten. Die Verlagerung von Arbeitsplätzen und die Automatisierung der Produktion ließen die Nachfrage nach Arbeitskräften in den USA signifikant sinken. Zugleich führten zwei wichtige Entwicklungen zu einem Anstieg des Angebots: die fantastische feministische Emanzipationsbewegung, bei der Millionen erwachsener Frauen aus ihrer Rolle als Hausfrau auszubrechen begannen, und eine erneute massive Immigrationswelle, diesmal aus Lateinamerika.
Die Kapitalisten waren daher nicht mehr wie in den vergangenen 150 Jahren mit einem Arbeitskräftemangel konfrontiert und sie mussten folglich auch nicht mehr die Löhne erhöhen. Die Reallöhne in den USA liegen heute auf dem Niveau der späten 1970er Jahre! Da die Produktivität aber beständig anstieg, erlebten wir einen beispiellosen Profitboom. Deshalb hat sich auch der Abgrund zwischen Arm und Reich so sehr ausgeweitet. Es fand eine fundamentale Verschiebung in den Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit statt.
Welche Rolle spielte der anschwellende Finanzsektor? Wurde hier der Kredit generiert, mit dem die Lücke zwischen steigender Produktivität und stagnierender Nachfrage geschlossen wurde?
Wenn Reichtum von den Lohnabhängigen immer stärker in die Hände der obersten Schicht von Konzernen, Managern und Superreichen abfließt, dann wächst der Finanzsektor rasch an, um den wachsenden Bedarf an finanziellen Dienstleistungen dieses kleinen Teils der Bevölkerung zu decken. Wir müssen uns aber auch in Erinnerung rufen, dass die Masse der Arbeiter sich an steigende Löhne gewöhnt hatte. Darauf baute der Glaube an die Einzigartigkeit der Vereinigten Staaten als einem »von Gott auserwählten Land« auf, wo du bei harter Arbeit besser leben wirst als deine Eltern – und wo es deinen Kindern besser als dir gehen wird. Als all das in den 70ern zu Ende ging, löste dies eine Art Trauma in der Arbeiterschaft aus. Dieses äußerte sich in einem bizarren Verhalten: Die Ersparnisse wurden aufgezehrt und die Verschuldung nahm zu. Dadurch konnten die Kapitalisten zusätzlich profitieren, indem sie ihre Gewinne als Kredite für die Arbeiterschaft reinvestierten. In gewissem Sinne ermöglichte der Kredit es der Arbeiterschaft, vor den Konsequenzen des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit zu flüchten.
Warum wurden die Gewinne nicht in die Industrie reinvestiert?
In den 80er und 90er Jahren wurden ganz enorme Investitionen getätigt – in die Computer-, Telekommunikations- und Internettechnologien sowie in die Verlagerung der Standorte nach China oder Indien. Die amerikanischen Kapitalisten waren aber nicht mehr primär an der amerikanischen Arbeiterschaft als ihren Konsumenten interessiert. Die Hoffnung besteht darin, dass Wachstumsmärkte in Europa, Lateinamerika und vor allem in Asien entstehen. Die Vereinigten Staaten könnten deshalb bald genau so aussehen wie die Länder, von denen man sich so fundamental zu unterscheiden glaubte: mit einer Schicht von 10 bis 20 Prozent Wohlhabenden und 80 Prozent, die ein sehr unangenehmes Leben führen müssen.
Wieso bildetet aktuell Europa das Zentrum der Krise?
Das Zentrum des Sturms ist in permanenter Bewegung. Ich glaube nicht, dass es viel Sinn macht, hier nach einzelnen Ursachen zu suchen. Um wieder auf Marx zurückzukommen: Der Kapitalismus stellt kein System dar, das seine Teile gleichzeitig und gleichmäßig entwickelt, im Gegenteil. Wir könnten daher genauso die Frage aufwerfen, wieso die Krise in den USA begann. Hier war der Anstieg der Arbeitslosigkeit zunächst viel höher als in Europa, die Produktion kollabierte viel stärker. 2010 und 2011 verschob sich das Krisenzentrum nach Europa, während wir eine schwache Erholung in den USA haben. Dies wird nicht allzu lange andauern. Ich glaube, 2012 werden wir eine leichte Stabilisierung in Europa sehen sowie eine Eskalation der Lage in der sogenannten Dritten Welt. In Brasilien, Indien und China setzt bereits eine wirtschaftliche Verlangsamung ein.
Die fundamentale ökonomische Lage in den USA ist weiterhin sehr schlecht, das kann ich Ihnen versichern. Wir waren nicht fähig, die Arbeitslosenrate in den vergangenen drei Jahren signifikant zu senken. Was zur Stabilisierung verhalf, war die Möglichkeit, gigantische Geldsummen zu einem sehr niedrigen Zinssatz zu leihen. Die Unsicherheit in vielen Weltregionen lässt das Bedürfnis nach einem sicheren Anlagehafen entstehen, den viele reiche Individuen und Konzerne suchen, die nun riskante Investitionen scheuen.
Die USA wurden also zu solch einem globalen sicheren Hafen?
Den global agierenden Konzernen ist durchaus klar, in welch desaströsem Zustand sich die US-Wirtschaft befindet. Der amerikanische Staat, die Regierung wurde zu solch einem sicheren Hafen. Somit konnten die Vereinigten Staaten vom Rest der Welt nahezu unbegrenzten Kredit zu äußerst niedrigen Zinsen gerade zu einer Zeit erhalten, in der sie enorme Ausgaben zur Stimulierung der eigenen Ökonomie tätigten. Das ist natürlich eine unglaublich vorteilhafte Konstellation, die Ländern wie Griechenland, Irland, Spanien, Portugal oder Ungarn nicht zur Verfügung steht. Und sie ist keine Garantie dafür, dass die USA nicht erneut zum »Zentrum des Sturms« werden.
Deutschland stellt sich in der EU als Erfolgsmodell dar. Ist dies berechtigt?
Wenn eine der Wurzeln der gegenwärtigen Krise darin zu suchen ist, dass die steigenden Profite des Kapitals auf Kosten der Arbeiterschaft erzielt wurden, dass die relative Verarmung der Masse der Bevölkerung zur Krisenursache für die Kapitalisten wurde, dann wird dasselbe Problem auch Deutschland bedrohen und zerstören. Der deutsche Aufschwung in einer Zeit fortschreitender Desintegration in Süd- und Osteuropa wird in einen Abschwung umschlagen und die Profitabilität der deutschen Ökonomie unterminieren. Beim Jubel über die relative deutsche Prosperität, während ein Großteil der europäischen Abnehmer deutscher Waren verarmt, werden dieselben Fehler wiederholt, die in den USA begangen wurden, als amerikanische Unternehmer viel Geld machten und sich weigerten, die damit einhergehende Verarmung und Verschuldung einzudämmen.
Der deutsche Erfolg fußt also auf den Schulden Europas?
Ja, und dies ist ein sehr gefährliches Fundament. Für ein Land mit solch einer schrecklichen Geschichte von Versuchen, auf dem Rücken der übrigen Europäer zu Wohlstand zu gelangen, ist dies nicht nur wirtschaftlich gefährlich, sondern auch in politischer und ideologischer Hinsicht. Ich bin verblüfft, dass nicht viel mehr Deutsche sich dieser historischen Parallelen bewusst sind und dass es nicht viel mehr diesbezügliche Befürchtungen gibt.
Wie werden sich die Vereinigten Staaten in den kommenden Jahren wirtschaftlich entwickeln?
Sie werden weiter mit schweren wirtschaftlichen Problemen konfrontiert sein, denn die fundamentalen Probleme werden einfach nicht angegangen. Wir haben weiterhin die hohe Arbeitslosigkeit, die ungeheure Verschuldung der Lohnabhängigen sowie die Unmöglichkeit, durch Mehrarbeit höhere Löhne zu erzielen. Deswegen gibt es auch keinen Ausweg durch Erhöhung des Konsums. Selbst wenn es nun eine leichte Verbesserung bei der Arbeitslosigkeit gibt, so gehen die Reallöhne weiterhin zurück.
Die Überwindung dieser Krise soll anscheinend nach dem üblichen Muster verlaufen: Die Arbeitslosigkeit steigt soweit an, dass die Arbeiterschaft es akzeptiert, zu viel niedrigeren Löhnen zu arbeiten. Wenn genügend Unternehmen kollabiert sind, sodass die Kosten der Unternehmenstätigkeit sich rapide verringern, kann ein neuer Aufschwung einsetzen. Aber es kann niemand sagen, wann dies der Fall sein wird.
Dies ist die Prognose – es sei denn, es kommt zu einer gewaltigen politischen Explosion. Diese könnte bei der Rechten erfolgen, etwa wenn genügend wütende Menschen einen skrupellosen, zynischen und korrupten Machtpolitiker wie Newt Gingrich zum Präsidenten wählen. Oder wir haben eine Erneuerung durch die Occupy-Bewegung. Um aber die wahrscheinliche Entwicklung zu verstehen, lohnt ein Blick auf Japan.
Seit dem Platzen seiner Immobilienblase in den späten 80ern verblieb das Land in Stagnation und Deflation.
Genau dies halte ich für das wahrscheinlichste Szenario.
Wie schätzen Sie die Aussichten für die progressiven Kräfte ein?
Meiner Meinung nach stellt die Occupy-Bewegung einen historischen Einschnitt in der Geschichte der Vereinigten Staaten dar. In den vergangenen 50 Jahren haben sowohl die Arbeiterschaft wie auch die Linke – ob organisiert oder unorganisiert – es nicht gewagt, das ökonomische System offen in Frage zu stellen. Wir haben die Emanzipationsbewegungen der Afroamerikaner, der Frauen, der Homosexuellen, der Immigranten und auch Bestrebungen zur Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter. Aber es fand kein direkter Angriff auf die Grundsätze des ökonomischen Systems und die daraus resultierenden fundamentalen Ungerechtigkeiten statt. So etwas wurde als illoyal und unamerikanisch gebrandmarkt. In den vergangenen zehn Jahren kritisierte die Linke den Neoliberalismus, als ob nur diese Art von Kapitalismus das Problem wäre.
Deswegen ist es so extrem wichtig, dass Occupy als erste Massenbewegung nach einem halben Jahrhundert den Kapitalismus als Ganzes ins Zentrum ihrer Agenda gerückt hat. Dies führte Millionen ähnlich denkenden Amerikanern vor Augen, dass sie nicht allein sind. Es führte aber auch dem politischen Establishment vor Augen, dass ein antikapitalistischer Standpunkt in den USA möglich und populär ist.
aus: “Neues Deutschland”, 22.02.2012