Auswälzung der Schulden
von Franz Schandl
Dem US-amerikanischen Anthropologen, Anarchisten und Vordenker der Occupy-Bewegung ist ein doch überraschender publizistischer Erfolg gelungen.
Die Rezensionen, vor allem in Deutschland, waren geradezu hymnisch: Der Spiegel hält „Schulden“* für ein „antikapitalistisches Standardwerk“, die Frankfurter Allgemeine sprach von einer „Offenbarung“, die Zeit fand es „furios“ und die Süddeutsche „grandios“. Wir hätten uns dem gerne angeschlossen, indes es wollte trotz wohlwollender Lektüre nicht gelingen.
David Graeber erzählt uns eine lange Geschichte, von den Sumerern bis heute reicht da der Bogen, den er aufgespannt hat. „Das vorliegende Buch ist also eine Geschichte der Schulden“ (S. 25), schreibt er. Der Untertitel unterstreicht das mehr als deutlich. Graeber besteht darauf, dass der Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Ordnungen in Schuldbeziehungen begründet ist. Schuld und Schulden habe es schon vor dem Geld, ja vor der Schrift gegeben, er behandelt sie wie eine anthropologische Konstante.
Schuld ist eine Ungleichheit unter Gleichen: „Schulden sind etwas Spezielles, und sie entstehen in sehr speziellen Situationen. Erstens muss es eine Beziehung zwischen zwei Personen geben, die einander nicht als grundsätzlich unterschiedliche Arten von Wesen betrachten, die zumindest potenziell gleich sind und tatsächlich gleich in den Belangen, die wirklich wichtig sind. Sie befinden sich derzeit nicht in einem Zustand der Gleichheit – aber es besteht eine Möglichkeit, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.“ (S. 127) „Schulden sind eigentlich ein Tausch, der nicht zu Ende geführt wurde.“ (S. 128)
Nicht nur der letzte Satz holpert, irgendwie ist das alles schlampig! Zumindest was den entwickelten Kapitalismus betrifft, sind Schulden dezidiert nichts Spezielles in speziellen Situationen (das mag in anderen Gesellschaften der Fall gewesen sein), sie sind vielmehr der Allgemeinheit der Finanzierung geschuldet, somit Regel, nicht Ausnahme. Auch ist der Tausch oder Kauf trotz Schulden zu Ende geführt, lediglich die Bezahlung steht noch aus.
Vorerst könnte man ja durchaus angetan sein, dort nämlich, wo Graeber eine Ontologie des Tauschs gründlich desavouiert. Smith’ Argumentation von der Natürlichkeit des Tausches wird strikt abgelehnt und dies auch umfangreich ethnologisch begründet. „Für Ökonomen beginnt die Geschichte des Geldes immer mit einer Fantasievorstellung einer Welt mit Tauschhandel.“ (S. 29) Doch „niemand tauschte je Pfeilspitzen gegen Fleischstücke.“ (S. 35) Bezüglich der imaginären Dörfer des Adam Smith spricht er zu Recht von einem „Mythos vom Tausch“. (S. 49) „Tatsächlich können wir mit gutem Grund vermuten, der Tausch sei gar kein sonderlich altes Phänomen, sondern habe sich erst in modernen Zeiten verbreitet.“ (S. 43) Ja, er gräbt sogar tiefer, wenn er ganz richtig feststellt, dass das Wort „Tausch“ bei Aristoteles nie vorgekommen ist. (S. 412) So weit, so gut.
Fütterung der Ontologie
Damit hat es sich aber leider, andere Termini finden in keiner Weise eine ähnliche Hinterfragung, im Gegenteil, sie sind völlig überfrachtet. Kreditsysteme sollen mitunter schon seit ewig existieren, sie seien vor der Münze und vor dem Geld anzusiedeln. (S. 45) „Kreditsysteme, Anschreibungen, auch Ausgabenkonten gab es lange bevor es Bargeld gab. Diese Dinge sind so alt wie die Zivilisation.“ (S. 24) „Was wir heute virtuelles Geld nennen, war zuerst da.“ (S. 47) Hier wird die Ontologie gefüttert. Denn wenn jene tatsächlich sich mit dem Menschsein etablierten, ist schwer zu argumentieren, dass sie nicht ewigen Bestand haben sollen.
Auch ist die Frage zu stellen, ob man jede vermerkte Einbringungsverpflichtung oder überhaupt jedes Register gleich in das Schema von Schuld und Kredit pressen soll. Ob damit nicht „unsere“ Sichtweise der Dinge Verhältnisse überfällt, die ganz anderen Logiken gehorchten, als sie uns geläufig sind.
Tausch ist für Graeber unpersönlich und äquivalent, der Kredit hingegen sollte persönlich und nicht äquivalent sein. Zumindest will er es so. Das mag jetzt etwas verwirren, und so ist es auch. Bezüglich Markt und Tausch finden sich permanent widersprüchliche Aussagen, möglicherweise aber auch der schnellen (und mäßigen) Übersetzung geschuldet. Manchmal steht Markt unter Anführungszeichen, manchmal nicht. Ich muss ehrlich sagen, ich hab mich nicht immer rausgesehen. Es war manchmal – obwohl überhaupt nicht kompliziert formuliert, geschweige denn hermetisch – eine äußerst mühselige Lektüre.
Die Sprache der Ökonomie ist zur Sprache des Alltags geworden, sagt Graeber (S. 95). Allerdings bedient er sich sehr unkritisch dieser Sprache. Die herrschende Begrifflichkeit ist allzu oft auch seine. Was wirklich ernüchtert, ist die völlige Unbefangenheit betreffend Alltagskategorien wie Ökonomie, Politik, Demokratie, Kapital, Kredit, die einfach verwendet werden, als sei keiner dieser Begriffe auch nur irgendwie problematisch. Permanent, ja penetrant findet sich ein positiver Bezug auf die Gerechtigkeit und natürlich auf die Werte (S. 185). Wert oder Werte sind laut Graeber ganz dem gesunden Menschenverstand folgend „Auffassungen des Erwünschten“, dahingehend zu interpretieren, dass sie sagen, was wir „wollen sollten“ (David Graeber: Die falsche Münze unserer Träume. Wert, Tausch und menschliches Handeln [2001], Zürich 2012, S. 20). Wert wird also entlang der scheinbar unproblematischen Schiene einer „Wertorientierung“ (ebd., S. 21) diskutiert.
Die Politik-Definition, sie könnte aus einem Staatsbürgerkundelehrbuch sein, ist geradezu hanebüchen in ihrer Schlichtheit: „Schließlich ist Politik die Kunst der Überzeugung; in der politischen Dimension des gesellschaftlichen Lebens wird etwas tatsächlich wahr, wenn nur ausreichend viele Menschen daran glauben.“ (S. 360) Einige Zeilen weiter unten vergleicht er plötzlich Politik mit Magie, was der Sache schon näher kommt, weil es die kulturindustrielle Dimensionierung doch anspricht. Aber der Widerspruch bleibt einfach stehen. Alles in allem ist da vieles inkonsistent.
In sich handelt es sich um ein sehr ungeordnetes Buch. Es ist wie ein wilder Ritt durch die Weltgeschichte, durch Zeiten und Räume, durch Bevölkerungen und Gebräuche. Bewaffnet ist der Ethnologe mit einem Suchscheinwerfer, der primär einen einzigen Sachverhalt ausleuchten will: die Schulden. Hier hat ein sehr kenntnisreicher Autor ein relativ erkenntnisarmes Buch geschrieben. Er kapriziert sich auf ein Thema, fokussiert es so stark und blendet alles andere aus. Nichts zu Fabrik und Büro, zu Geschlecht und Rasse; zu Alltag und Kulturindustrie, zu Arbeit und Hausarbeit. Nichts auch zum Kauf und den Geschäften, was wohl beim Thema Schulden und Kredit naheliegend gewesen wäre. Nichts zu Konkurrenz und Monopol. Auch keine expliziten Theorien des Geldes finden sich. Nichts zur Differenz privater und öffentlicher Schulden, nichts zur Definition von Schuldner und Gläubiger, nichts zur Psychologie und Psychosomatik von Schulden.
Marktwirtschaft ist nicht Kapitalismus
„In der Praxis bedeutete dies, dass die Konfuzianer den Markt guthießen, aber den Kapitalismus ablehnten.“ (S. 274) Mit solchen Sätzen im Mittelalter-Kapitel unterstellt Graeber einen unendlich weiten Kapitalismus-Begriff, der sich primär an Spekulation und Wucher, Krieg und Abpressung orientiert. Im Mittelalter konnte aber noch gar keine Rede sein von Kapitalakkumulation und Kapitalismus. Zarte Ansätze gab es vielleicht in einigen oberitalienischen Städten.
Tatsächlich versucht sich Graeber durchgehend an der Division von Markt und Kapitalismus: „Dies wirkt widersinnig, weil wir uns an die Prämisse gewöhnt haben, Kapitalismus und Marktwirtschaft seien dasselbe. Aber wie der bedeutende französische Historiker Fernand Braudel erklärt hat, könnte man sie in mancher Hinsicht durchaus als Gegensätze betrachten. Während die Märkte dazu dienen, mit Hilfe von Geld Güter auszutauschen – historisch geben sie dem, der Getreide übrig hat, die Möglichkeit, Kerzen zu erwerben und umgekehrt (dies könnten wir volkswirtschaftlich abkürzen als W–G–W‘, ‚Wirtschaftsgut-Geld-anderes Wirtschaftsgut‘) –, kann der Kapitalismus als Kunst bezeichnet werden, Geld einzusetzen, um weiteres Geld zu verdienen (G–W–G‘). Normalerweise geht das am einfachsten, indem man ein offizielles oder De-facto-Monopol errichtet. Aus diesem Grund versuchten alle Kapitalisten, ob sie nun Handelsherren, Financiers oder Industrielle sind, Bündnisse mit den Machthabern zu schließen und die Freiheit des Marktes einzuschränken.“ (S. 274, vgl. auch S. 395)
Er reduziert den Markt hier auf seine Gebrauchswertseite. Doch die Dinge, die dort zum Angebot liegen, sind Waren, keine Güter. Der Markt ist kein Lagerhaus oder gar eine Abgabe- und Entnahmestelle, wo man gegen etwas Rechengeld zu unschuldigen Produkten kommt, sondern umgekehrt: die für den Markt produzierten Waren sind dazu da, über sie an Geld zu kommen. Einmal mehr feiert das Märchen, dass das böse Kapital (und sein Staat) den armen Markt bedrängen und unterjochen, seine Auferstehung, es gelte daher, den Markt aus diesen Zwängen zu befreien. Absurd auch die Vorstellung, Geld auf ein reines Zahlungsmittel einschränken zu können, ihm den Warencharakter auszutreiben.
Bezeichnend etwa das Lob des islamischen freien Marktes im Mittelalter (S. 320, S. 337). Besonders angetan hat es unserem Autor der orientalische Basar, wobei er ausdrücklich das Feilschen als „eine Quelle des Vergnügens“ (S. 110) besingt. Überhaupt ist er in den Basar im Speziellen wie den Markt im Allgemeinen verliebt. Hier erscheint alles persönlich und die Gleichmacherei des Kommerzes ausgeschaltet zu sein. „Vor allem müssen die Marktbeziehungen auf etwas anderem als reiner Berechnung beruhen, das heißt auf etwas, das typischer für das wirtschaftliche Zusammenleben der Menschen ist; auf einem Ehrenkodex, auf Vertrauen, auf Gemeinsinn und gegenseitiger Hilfe. Unter diesen Bedingungen spielt der Wettbewerb nur eine sehr untergeordnete Rolle.“ (S. 404)
An anderer Stelle schließt Graeber den aufsteigenden Buddhismus in China mit dem Finanzkapital kurz. (S. 281) Also: die Konfuzianer hatten es mit dem Markt, die Buddhisten jedoch mit dem Kapital. Begrifflichkeiten wandern verwegen, aber sehr zielfixiert durch die Jahrhunderte, ja Jahrtausende. Graeber unterzieht sich keiner Anstrengung zu historisieren, im Gegenteil. Er denkt zusammen, was differenziert werden müsste. Er tut alles in seine große Schachtel.
Getreu den anarchistischen Postulaten kommt der Staat immer schlecht, der Markt aber meist ganz gut weg. Staat und Markt werden an vielen Stellen antipodisch gedacht, nicht als zusammengehörende Ergänzungen, die beide zur Kapitalherrschaft unabdingbar sind. Der gute Markt schimmert stets durch (S. 297).
Das Unterkapitel „Was ist also Kapitalismus?“ (S. 363 ff.) hinterlässt große Ratlosigkeit: Zuletzt wird behauptet, der Überbau sei schon vor der Basis da gewesen, Fabriken und Lohnarbeit seien erst dazugekommen. Vorher waren schon: Banken, Brokerfirmen, Spekulationsblasen, Renten. Um dann zu resümieren: „Der geheime Skandal des Kapitalismus ist, dass er nie hauptsächlich auf der freien Arbeit beruhte.“ (S. 368)
Zur Illustration sei die Marx’sche Sicht zitiert: „Da die kommerzielle und Zinsform älter sind als die von kapitalistischer Produktion, das industrielle Kapital, das die Grundform des Kapitalverhältnisses ist, wie es die bürgerliche Gesellschaft beherrscht – und wovon alle andren Formen nur als abgeleitete oder sekundäre erscheinen –, abgeleitet, wie das zinstragende Kapital; sekundär, d.h. als Kapital in einer besondren Funktion (die seinem Zirkulationsprozess angehört), wie das kommerzielle, so hat das industrielle Kapital im Prozess seines Entstehens diese Formen erst zu unterwerfen und in abgeleitete oder besondre Funktionen seiner selbst umzuwandeln. Diese ältren Formen findet es vor in der Epoche seiner Bildung und seines Entstehens. Es findet sie als Voraussetzungen vor aber nicht als von ihm selbst gesetzte Voraussetzungen, nicht als Formen seines eignen Lebensprozesses. Wie es ursprünglich die Ware vorfindet aber nicht als sein eignes Produkt, und die Geldzirkulation vorfindet, aber nicht als ein Moment seiner eignen Reproduktion. Ist die kapitalistische Produktion entwickelt in der Breite ihrer Formen, und die herrschende Produktionsweise, so ist das zinstragende Kapital beherrscht durch das industrielle Kapital, und das kommerzielle Kapital nur eine aus dem Zirkulationsprozess abgeleitete Gestalt des industriellen Kapitals selbst. Aber als selbständige Formen müssen beide erst gebrochen und dem industriellen Kapital unterworfen werden. Dem zinstragenden Kapital gegenüber wird Gewalt (der Staat) angewandt, durch gewaltsame Herabsetzung des Zinsfußes, so daß es dem industriellen Kapital nicht mehr die terms diktieren kann. Dies aber eine Form, die den unentwickeltsten Stufen der kapitalistischen Produktion angehört. Die wahre Manier des industriellen Kapitals, es sich zu unterwerfen, ist die Schöpfung einer ihm eigentümlichen Form des Kreditsystems.“ (MEW 26.3: S. 460)
Marx argumentierte so: Kredite hat es schon lange gegeben, aber ein Kreditsystem ist lediglich dem Kapitalismus eigentümlich und spezifisch. Die vorgefundenen Formen werden nicht übernommen, sondern revolutioniert und den neuen Verhältnissen unterworfen. Es findet Transformation statt. Der Wucher von einst hat mit den Zinsen von heute bloß peripher zu tun. Marx notiert: „Daher der Kredit in irgendwie entwickelter Form in keiner frühren Weise der Produktion erscheint. Geborgt und geliehen ward auch in frühren Zuständen, und der Wucher ist sogar die älteste der antediluvianischen (vorsintflutlichen; Anm. F. S.) Formen des Kapitals. Aber Borgen und Leihen konstituiert ebensowenig den Kredit, wie Arbeiten industrielle Arbeit oder freie Lohnarbeit konstituiert. Als wesentliches entwickeltes Produktionsverhältnis erscheint der Kredit historisch auch nur in der auf das Kapital oder die Lohnarbeit gegründeten Zirkulation.“ (MEW 42: S. 441)
Schuldenerlass
Mit seinem Aufruf zu einem Schuldenerlass nimmt Graeber Anleihen in der Antike: „Ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig, für Staatsschulden wie für Konsumschulden.“ (S. 410) Das klingt sympathisch, ist es doch auch ein Einbekenntnis, dass die Verteilung durch die Geldwirtschaft immer in eine Schieflage gerät. Doch Vorsicht: Wie werden welche Schulden kategorisiert? Was stünde tatsächlich zur Annullierung an? Das bürgerliche Subjekt würde wahrscheinlich dafür plädieren, seine Schuldenstände zu liquidieren und seine Außenstände zu exekutieren.
Doch nehmen wir mal an, dieser Vorschlag ginge auf, ohne dass sofort ein Zusammenbruch erfolgt, was dann? Würden die entgangenen Schulden sich nicht in den zukünftigen Preisen wiederfinden? Und überhaupt: Beginnt dann das Spiel des Geldes und in unserem Fall das Spiel des Kapitals wieder von vorne? Folgen dem Ablassjahr die Anlassjahre? Konkrete Schuldenerlässe gibt es auch heute schon, es geht ja gar nicht anders: Privat- und Firmenkonkurse sind letztlich Schulderlässe, die Schuldner müssen bloß einen geringen Prozentsatz (zehn Prozent) zurückzahlen, um dann nach einigen Jahren als schuldenfrei zu gelten.
Wir wollen nicht zahlen wird erst zu einer elementaren Forderung, wenn gleichzeitig: Wir wollen nicht bezahlt werden proklamiert wird, was eigentlich nur logisch wäre: Denn wenn alle nicht zahlen, kann niemand mehr bezahlt werden. Doch vor dieser Logik schrecken die Occupys nicht nur zurück, sie scheint ihnen gar nicht in den Sinn zu kommen. Ihr Begriff- und Erkenntnisgebäude ist absolut konventionell, geht nirgendwo über die bürgerlichen Werte hinaus. Im Gegenteil, die erleben wieder einmal eine dieser seltsamen Reprisen.
Elementarer Kommunismus
„Ich habe die Ansicht vertreten, jedes Tauschsystem beruhe zwangsläufig auf etwas anderem, auf etwas, das zumindest in seiner gesellschaftlichen Ausprägung letzten Endes dem Kommunismus entspräche.“ (S. 282) Dazu zählt er Liebe, Geselligkeit, Menschlichkeit, Freundschaft, „die Existenz des Kosmos“ (S. 282). „Kommunismus ist das Fundament des menschlichen Zusammenlebens. Er macht die Gesellschaft überhaupt erst möglich.“ (S. 102) Graeber spricht von einem „elementaren Kommunismus“, etwa einen Menschen zu retten, wenn es uns möglich ist, jemandem Essen und Trinken in Not zu geben etc. – „Kommunismus gründet demnach weder auf Tausch noch Reziprozität – außer, wie ich angemerkt habe, in dem Sinn, dass gegenseitige Erwartungen und Verantwortlichkeiten ins Spiel kommen. Selbst hier scheint es besser, ein anderes Wort zu verwenden – ‚Wechselseitigkeit‘ vielleicht –, um hervorzuheben, dass Austausch nach völlig anderen Prinzipien abläuft; es ist eine grundsätzlich andere moralische Logik.“ (S. 109)
So dürfte der „Kommunismus, der sich im Alltag äußert, was wir als ‚Liebe‘ bezeichnen – die Grundlage aller zwischenmenschlichen Beziehungen sein, aber auf diesem Kommunismus wird stets ein System des Tauschhandels und üblicherweise der Hierarchie errichtet. Diese Tauschsysteme können verschiedenste Formen annehmen, die meist vollkommen unschädlich sind (Hervorh. F. S.). Doch hier haben wir es mit einer ganz bestimmten Art von berechnendem Tausch zu tun. Wie ich schon anfangs erläutert habe, ist es etwas ganz anderes, ob man jemandem einen Gefallen oder ob man Geld schuldet, denn Geldschulden können exakt berechnet werden.“ (S. 405)
Irgendwie sagt er: unser Leben und unser Alltag wären schon in Ordnung, sie werden aber usurpiert. Ich würde umgekehrt meinen, dass das, was er als Kommunismus bezeichnet, einerseits die Gegenwehr gegen die ökonomischen Zumutungen darstellt, andererseits aber durchaus eine Qualität hat, die in Ansätzen die Befangenheiten tendenziell überwinden kann. Diese Formulierung ist absichtlich vorsichtig. Denn zu behaupten, das Richtige sei schon von jeher da, es werde vom Falschen nur niedergehalten, lässt mich ein sehr dualistisches Weltbild unterstellen, wo die Bösen immer das oder die anderen sind.
Opfer gegen Täter
Genau so ist es. Die Weltgeschichte denkt Graeber ganz moralisch als ein „Wir“ und ein „Die“, als ein „Unten“ und „Oben“. Stets betont er den Gegensatz von Reichen und Armen, der für ihn einer von Gläubigern und Schuldnern ist. Im großen Crash von 2008 offenbarte sich „ein Betrug, ein unglaublich komplexes Kartenhaus, bei dem der Zusammenbruch in dem Wissen eingeplant war, dass die Opfer am Ende gezwungen sein würden, die Täter zu retten“. (S. 392) Das ist dann die wissenschaftliche Übersetzung von 99 gegen 1. Eine kleine verschworene Clique kassiert nur ab und nimmt uns aus, und wir, die Lämmer der Unschuld, finanzieren die Wölfe der Schuld. Da ist der anarchistische Sympathisant des Marktes mit den keynesianischen Sympathisanten des Staates auf einer Linie.
Es ist doch keineswegs so, dass die kleinen Leute oder gar die beschworenen 99 Prozent nur Schuldner und die Banken und Konzerne nur Gläubiger sind. Man denke bloß an die Sparguthaben, die Lebensversicherungen und vor allem die Pensionsfonds. Schuldner und Gläubiger treffen sich in uns allen. Die Schuldknechtschaft (wenn man das Wort schon verwenden will) ist allgemeiner Natur, der Kapitalismus ist ein wahres Schuldenkarussell, und das dreht sich unaufhörlich. Die Spieler, die da so bereitwillig mitspielen, sollten doch nicht so tun, als herrsche Gerechtigkeit, wenn sie gewinnen, und als herrsche Ungerechtigkeit, wenn sie verlieren. Es wird ihnen übel mitgespielt, weil sie wie alle anderen üble Mitspieler sind. Die einen mehr, die anderen weniger, aber das ist oft mehr eine Frage der Kraft als des Willens.
Liberale Rezeption
Abschließend noch einige Bemerkungen zur Rezeption in Deutschland, die sogar in den bürgerlich-konservativen Medien (man denke nur an Frank Schirrmacher in der FAZ) geradezu enthusiastisch ausgefallen ist. Wenn der Markt so glitzert wie bei Graeber, ist der Liberalismus nicht fern. Der fühlt sich sodann magisch angezogen. So ziemlich alles, was ich hier bemängelt habe, wurde ihm dort positiv angerechnet.
Remigius Bunia etwa, einer dieser wohlwollenden Rezensenten, schreibt im Merkur über Graeber: „Einerseits mag er den Markt und sympathisiert mit einer Marktwirtschaft, die diesen Namen verdient; andererseits glaubt er nicht an den Staat und sieht im Staat schlicht einen Großkapitalisten, der in bestimmten Segmenten das Monopol hat – mit allen Nachteilen.“ (Heft 06, Juni 2012, S. 535) Laut Bunia gehe es mit Graeber darum, eine bessere Buchgeldwirtschaft zu entwickeln, denn „Wertbemessung“ sei ein „urmenschliches Bedürfnis“. (ebd., S. 536) Das ist richtig zusammengefasst, auf jeden Fall kommt es so rüber.
Remigius Bunia folgert sogleich: „Eindrucksvolle Kulturgüter sind undenkbar ohne Kapital. Flugzeuge, Opernaufführungen, Universitäten, Kinofilme, Computer samt Internet, Brücken und so fort hängen von ihm ab. Kapital lässt sich abstrakt begreifen als das Potential zu zukünftigen Handlungen.“ (ebd., S. 540) Stets geht es um die Finanzierung. Ohne Finanzierung läuft nichts. „Finanzierung im großen Stil ist nötig, wenn die Investition ein neues Kulturgut schaffen soll, zu dessen Erzeugung viel Einsatzbereitschaft und Material mobilisiert werden muss (…) Immense Schulden sind somit der Motor kultureller Entfaltung.“ (ebd., S. 540)
Was soll man da sagen? Vielleicht gar nichts, nur ein bissl kleinlaut fragen, in etwa: Baut die Finanzierung Gebäude und Brücken, erntet die Finanzierung die Felder und Gärten, lehrt die Finanzierung die Schüler und Studentinnen, schleppt die Finanzierung die Kühlschränke und Bierkisten, montiert die Finanzierung Waschbecken und Betriebsanlagen? Schreibt die Finanzierung Dramen und Romane, Gedichte und Essays, spielt die Finanzierung in Opern und Theatern die Rollen, hat die Finanzierung den Marxismus oder die Wertkritik hervorgebracht? – Wir haben es immer schon gewusst: Ohne Kapital sind wir nichts, gar nichts!
Es sind fähige Köpfe und fertige Hände, die hier letztlich walten, die Finanzierung ist nur ein Treibmittel aus ihrem wertvermittelten Fetischhaushalt, dessen sie bedürfen, um tätig zu werden und an die Lebens- und Produktionsmittel zu kommen. Alles, was sie können, vermögen sie nicht aufgrund des Geldes, sondern trotz des Geldes. Ohne Geld würden sie noch mehr vermögen, denn dann bräuchten sie sich nicht um den Fetisch kümmern, könnten sich auf die Sache konzentrieren. Heute aber sind diese Möglichkeiten ohne Finanzierung nicht zulässig, da sie Diebstahl an der Akkumulation wären. Bunia kommen derlei Fragen überhaupt nicht in den Sinn, man sollte es ihm auch nicht vorwerfen, ist er doch ein Agent aus der Propagandaabteilung des Kapitals. Aber auch bei Graeber, der das ja nicht ist, kommen derartige Überlegungen nicht einmal in Ansätzen vor.
Im Jungle World-Interview redet Graeber dann noch mehr Klartext als in seinem Buch: „Ob das Geld jemals ganz verschwinden wird, wer kann das sagen? Ich denke, in einer befreiten Gesellschaft ist es möglich, Geld so einzusetzen, dass es seine Funktion als vergleichende Maßeinheit für unterschiedliche Werte behält. Es ist schwer, sich eine komplexe Weltgesellschaft vorzustellen, in der bestimmte unterschiedliche Werte oder Arbeitsleistungen nicht über Geld miteinander vermittelt (alle Hervorh. F. S.) werden. Es wird diese Zusammenhänge, die Geld als Bezugspunkt erfordern, vermutlich weiterhin geben.“ (Jungle World 28, 12. Juli 2012)
Wenn das so gesagt wurde, dann ist das schlicht eine Kapitulationserklärung.
* David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012, 536 Seiten, gebunden, 26,95 Euro. Seitenzahlen beziehen sich, so nicht anders angeführt, auf dieses Buch.