Auf der Mülldeponie des fiktiven Kapitals

von Ernst Lohoff und Norbert Trenkle

1.
In den letzten drei Jahrzehnten hat sich das Gesicht des Kapitalismus vor allem in einer Hinsicht dramatisch verändert: Noch nie in seiner Geschichte hatte der Finanzsektor auch nur ansatzweise so großes Gewicht innerhalb der Gesamtwirtschaft wie in der gegenwärtigen Epoche. In den 1970er Jahren waren Derivate noch so gut wie unbekannt. Heute liegt das Gesamtvolumen allein dieses neuen Typs von Finanzmarktprodukten nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bei 600 Billionen Dollar und erreicht damit ungefähr das Fünfzehnfache der weltweiten Summe der Bruttoinlandsprodukte. Im Jahr 2011 belief sich der tägliche Umsatz auf den Weltdevisenmärkten auf 4,7 Billionen Dollar. Weniger als ein Prozent ging auf Transaktionen auf den Gütermärkten zurück. Der Kauf und Verkauf von Aktien, Schuldtiteln und anderen Zahlungsversprechen ist ins Zentrum der Kapitalakkumulation gerückt, und die „Realwirtschaft“ ist zu einem bloßen Anhängsel der „Finanzindustrie“ geworden.

Spätestens seit das Platzen der US-Immobilienblase die rasanteste Talfahrt der Weltwirtschaft nach   1930 auslöste, wird diese Entwicklung von allen Seiten vehement beklagt. Die Aufblähung des Finanzüberbaus soll für die Malaise verantwortlich sein. Nach dem Crash von 2008 richtete sich der Zorn vor allem gegen Banken und andere private Finanzmarktakteure, die, wie es hieß, in ihrer „Profitgeilheit“ risikoblind geworden seien. Mittlerweile hat sich der Fokus zur Staatsschuldenkrise hin verschoben, und es stehen nun verstärkt die angeblich verschwendungssüchtigen staatlichen Kreditnehmer am Pranger. Die Grundvorstellung aber ist hier wie dort die gleiche: Alles träumt von der Rückkehr zu einem „gesunden“, auf „ehrlicher Arbeit“ gegründeten Kapitalismus, einem Kapitalismus, in dem die „Realwirtschaft“ den Ton angibt und die Finanzwirtschaft jene nachgeordnete, dienende Rolle spielt, die ihr die volkswirtschaftlichen Lehrbücher andichten.

Gerade in der Krise treten die Widersprüche und Verrücktheiten des Kapitalismus schärfer denn je hervor. Das herrschende Denken jedoch will davon nichts wissen und redet nur von angeblichen „Fehlentwicklungen“ und „spekulativen Übertreibungen“ in einer besonderen Abteilung des Systems. Das aber kommt nicht nur einem Generalfreispruch für die angeblich alternativlose marktwirtschaftliche Ordnung gleich, sondern verbindet sich reibungslos mit einer Personifizierung der gesellschaftlichen Übel, die den „Bankern“ und „Spekulanten“ – wenn nicht gleich „der amerikanischen Ostküste“ – angelastet werden. Die überall grassierende einseitige Kritik am Spekulationskapital und an den sich immer höher türmenden Schuldenbergen ist aber nicht nur ideologisch verquer bis gemeingefährlich, sie stellt gleichzeitig den realen ökonomischen Zusammenhang auf den Kopf. Dass die manifesten Krisenschübe von der Finanzsphäre ihren Ausgang nehmen, heißt in keiner Weise, dass dort die grundlegenden strukturellen Krisenursachen zu suchen sind.

Die Verwechslung von Auslöser und Ursache ist keine Erfindung unserer Tage. Schon 1857 beim ersten großen Weltmarktcrash machten solche Pseudoerklärungen die Runde. Ein gewisser Karl Marx spottete damals: „Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung und nicht den letzten Grund und das Wesen darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansahen.“ (MEW 12, S. 336)

2.
Die kapitalistische Produktion verfolgt nur einen Zweck: die Verwandlung von Geld in mehr Geld. Kommt dem Kapital die Aussicht auf Verwertung abhanden, hört es auf Kapital zu sein. Deshalb ist das kapitalistische System zur Expansion verurteilt. Es muss sich immer neue Verwertungsfelder erschließen, immer mehr lebendige Arbeit einsaugen und immer höhere Warenberge auftürmen. Schon im 19. Jahrhundert kam es immer wieder zu Unterbrechungen dieses Ausdehnungsprozesses. Gemessen an den aufgehäuften Massen von Kapital herrschte periodisch Mangel an profitablen „realwirtschaftlichen“ Anlagemöglichkeiten. So oft sich solche Überakkumulationskrisen anbahnten, drängte verstärkt Kapital in den Finanzüberbau, wo es sich eine Zeitlang als „fiktives Kapital“ (Marx), also durch die Akkumulation von monetären Ansprüchen, vermehren konnte. Erst wo diese Kapitalvermehrung ohne Verwertung an ihre Grenzen stieß, kam es dann zu manifesten Krisenschüben.

Im Krisenprozess unserer Tage wiederholt sich dieses Grundmuster – allerdings in ganz neuen Dimensionen. Schon die zeitliche Dauer spricht Bände. Einst ein kurzfristiges, höchstens ein bis zwei Jahre währendes Phänomen am Vorabend der zyklischen Kriseneinbrüche, ist die Vermehrung des fiktiven Kapitals zum Hauptmerkmal einer ganzen Epoche geworden. Seit den frühen 1980er Jahren nimmt die Gesamtmasse an auf den Finanzmärkten gehandelten Eigentumstiteln ununterbrochen und exponentiell zu. Zwar wechselten die primären Träger dieser Dynamik mehrfach (Staatsanleihen, Aktien, Hypothekenkredite, Derivate etc.), doch stets bildete die „Finanzindustrie“ das Zentrum, von dem die globale Kapitalvermehrung abhing.

Das kommt nicht von ungefähr. Anders als in früheren Stadien kapitalistischer Entwicklung ist das Ausweichen in den Finanzüberbau in den letzten dreißig Jahren nicht mehr das Resultat eines nur vorübergehenden Fehlens ausreichender realwirtschaftlicher Verwertungsmöglichkeiten. Vielmehr ist seit dem Ende des fordistischen Nachkriegsbooms eine selbsttragende realwirtschaftliche Akkumulation ein für allemal unmöglich geworden. Denn der enorme Produktivitätssprung im Gefolge der dritten industriellen Revolution führte zur massenhaften Verdrängung von Arbeitskraft aus den wertproduktiven Sektoren und damit zum Abschmelzen der einzigen Grundlage der Wertverwertung: der Vernutzung lebendiger Arbeitskraft in der Warenproduktion. Deshalb kann die globale Akkumulationsbewegung schon seit Jahrzehnten nur weiterlaufen, weil die Finanzsphäre über die fortwährende Erzeugung neuer monetärer Ansprüche zum zentralen Motor der Kapitalvermehrung geworden ist. Gerät dieser finanzindustrielle „Produktionsprozess“ ins Stocken, ist ein katastrophaler Absturz der Weltwirtschaft unvermeidbar.

3.
Im gängigen Börsenjargon ist immer wieder die Rede davon, in Wertpapierkursen seien Erwartungen „eingepreist“ und es würde an den Finanzmärkten mit der „Zukunft“ gehandelt. In solchen Formeln scheint – wenn auch unbegriffen – das Grundgeheimnis des heutigen Kapitalismus auf. Bei der Schaffung von Eigentumstiteln geschieht etwas Verrücktes, das in der Welt der realen Güter, des sinnlich-stofflichen Reichtums, völlig undenkbar ist. Sinnlich-stofflicher Reichtum muss vor seiner Nutzung erst einmal vorhanden sein. Noch nie hat beispielsweise ein Mensch auf einem Stuhl Platz genommen, dessen Herstellung erst geplant war. Beim finanzindustriellen Reichtum ist diese zeitliche Logik auf den Kopf gestellt. Noch gar nicht geschaffener Wert, Wert, der möglicherweise nie entstehen wird, verwandelt sich vorab schon in Kapital – in fiktives Kapital. Bei jedem Ankauf von Staatspapieren und Unternehmensanleihen, bei jeder Aktienemission und Schaffung neuer Derivate wird ein in den Händen des Käufers befindliches Geldkapital gegen ein Zahlungsversprechen getauscht. Der Käufer lässt sich auf dieses Geschäft in der Erwartung ein, dass ihm die Einlösung des Zahlungsversprechens später mehr Geld einbringt, als er jetzt für dessen Ankauf an den Verkäufer weggibt. Diese Perspektive macht das Zahlungsversprechen zur aktuellen Gestalt seines Kapitals.

Für die gesamtkapitalistische Reichtumsbilanz ist aber weniger die Einlösung der springende Punkt als vielmehr eine für den Zeitraum zwischen Ausgabe und Einlösung des Eigentumstitels charakteristische Merkwürdigkeit. Solange dieses Zahlungsversprechen gültig und glaubwürdig bleibt, tritt es als Zusatzkapital neben das Ausgangskapital. Das Kapital verdoppelt sich also durch die bloße Schaffung eines verbrieften monetären Anspruchs. Und dieses Zusatzkapital existiert keineswegs nur auf dem Papier als Bilanzposten des Geldkapitalisten, sondern führt ein selbstständiges Leben. In der Gestalt des Eigentumstitels zirkuliert es auf dem Markt und geht genauso in den Wirtschafts- und Verwertungskreislauf ein wie das tatsächlicher Verwertung entstammende Geldkapital. Nicht anders als dieses kann es für den Kauf von Konsumgütern ebenso verausgabt werden wie für Investitionen. Seine Herkunft sieht man ihm nicht an.

4.
Im Zeitalter der dritten industriellen Revolution kann der Kapitalismus nur überleben, soweit es ihm gelingt, in immer größerem Ausmaß zukünftigen Wert in die Gegenwart zu pumpen. Deshalb sind die Finanzmarktprodukte inzwischen zum mit Abstand wichtigsten Warentypus geworden. Nur die Verwandlung des Kapitalismus in ein auf der Vorwegnahme von Wert beruhendes System hat ihm in den letzten drei Jahrzehnten einen neuen Entwicklungsspielraum verschafft, obwohl die Wertbasis permanent schrumpft.

Doch die finanzindustrielle Expansion stößt zunehmend an ihre Grenzen. Keinesfalls ist die „Ressource Zukunft“ so unerschöpflich, wie es scheinen mag. Logisch ergibt sich dies daraus, dass die Akkumulation von fiktivem Kapital durch finanzindustrielle Spiegelungen gegenüber der auf Wertproduktion beruhenden Kapitalakkumulation einige Besonderheiten aufweist. Eine wurde schon genannt: die begrenzte Lebensdauer dieser Art von Kapitalvermehrung. Mit der Einlösung von Eigentumstiteln (der Tilgung eines Kredits, der Fälligkeit eines Futures etc.) verschwindet auch das durch sie repräsentierte fiktive Zusatzkapital wieder im Orkus. Dieses muss erst einmal durch neue Eigentumstitel ersetzt werden, bevor es zu einer Expansion kommen kann. Daher kann die Produktion von Eigentumstiteln die Rolle des Ersatzmotors für den kapitalistischen Gesamtbetrieb nur ausfüllen, wenn der Ausstoß dieser Art von Waren sehr viel schneller wächst als die Produktion in den realwirtschaftlichen Schlüsselbranchen früherer Epochen. Sie unterliegt einem potenzierten Wachstumszwang, weil sie nicht nur immer wieder frischen künftigen Wert vorabkapitalisieren, sondern auch noch rastlos Ersatz für die auslaufende vergangene Wertantizipation schaffen muss. Dass sich das fiktive Kapital jahrzehntelang explosionsartig vermehrt hat, war also keine Fehlentwicklung, die sich zurückdrehen ließe; für einen Kapitalismus, der auf dem Vorgriff auf künftige Wertproduktion beruht, war es systemnotwendig.

Je schwerer die Last der schon vorab verbrauchten kapitalistischen Zukunft aber wird, desto schwerer fällt es auch die Dynamik der fiktiven Kapitalschöpfung in Gang zu halten. Das gilt umso mehr, als das Ansaugen zukünftigen Werts nur dann funktioniert, wenn die angebotenen Eigentumstitel sich auf realwirtschaftliche Hoffnungsträger beziehen, die zukünftigen Gewinn versprechen. Unter den Reaganomics waren dies vornehmlich US-Staatsanleihen, in Zeiten der New Economy Aktien von Internet-Unternehmen und in den Nullerjahren die scheinbar endlos steigenden Immobilienpreise. Fehlen aber solche Hoffnungsträger, stößt der auf der beständigen Neueinspeisung künftigen Werts beruhende Kapitalismus an seine Schranke.

Dieser kritische Punkt ist inzwischen erreicht. Zwar ging auch nach dem Einbruch von 2008 die Expansion der finanzindustriellen Produktion weiter; aber diese Dynamik wird nicht mehr von privatwirtschaftlichen Gewinnhoffnungen in irgendwelchen Wachstumssektoren getragen, sondern von den staatlichen Haushalten und den Zentralbanken. Im Bemühen, den augenblicklichen Kollaps des Finanzsystems zu verhindern, hat die öffentliche Hand als traditionell verlässlichster aller Schuldner die Altlasten übernommen. Noch einen Schritt weiter sind die Zentralbanken gegangen. Sie gewähren nicht nur den Geschäftsbanken in einem historisch beispiellosen Umfang Kredite zu faktischen Nullzinsen, sondern fungieren außerdem noch als „Bad Banks“, als Sondermülldeponien der verbrannten kapitalistischen Zukunft. Zum einen akzeptieren sie als Sicherheit bei ihrer Kreditvergabe auf dem Markt nicht mehr absetzbare Eigentumstitel, zum anderen kaufen sie zur Refinanzierung der öffentlichen Hand Anleihen ihrer eigenen Staaten an. Der Krisenprozess lässt sich mit solchen Maßnahmen auf Dauer selbstverständlich nicht stoppen, er wird nur verlagert und gewinnt eine neue Qualität.

5.
Für die längerfristige Entwicklung ist die Mutation der Zentralbanken zu „Bad Banks“ entscheidend. Denn die Währungshüter können zwar durch den Aufkauf notleidender Eigentumstitel die Dynamik fiktiver Kapitalschöpfung einstweilen aufrechterhalten, aber nur, indem sie ein riesiges Inflationspotential aufstauen. Die Entwertung des fiktiven Kapitals muss früher oder später auch in den USA und Europa in eine Entwertung des Geldmediums umschlagen. In China deutet sich dieser Prozess bereits an.

Prägender für die augenblickliche Situation ist freilich der paradoxe Doppelkurs aus Sparpolitik und Verschuldung, den die Regierungen der führenden kapitalistischen Länder eingeschlagen haben. Um Kreditwürdigkeit zu demonstrieren und sich auf den Finanzmärkten frisches Geld besorgen zu können, werden massive Sparanstrengungen für die Zukunft beschlossen. Bezeichnend dafür ist die in Deutschland mitten im Krisenjahr 2009 von allen großen Parteien beschlossene „Schuldenbremse“ ab 2016, die inzwischen nach halb Europa exportiert wurde. Es ist jetzt schon klar, dass sie zum gegebenen Zeitpunkt wieder ausgebaut oder „vorübergehend ausgesetzt“ wird, ähnlich wie im letztjährigen US-Budgetstreit, weil alles andere wirtschaftlich katastrophale Konsequenzen hätte. Vorerst aber beruhigt die Ankündigung die Gemüter an den Finanzmärkten und in der aufgescheuchten Öffentlichkeit und trägt so dazu bei, dass Deutschland seine Schuldner-Bestnote behält und neue Kredite zu günstigen Konditionen aufnehmen kann.

Trotzdem bleibt die proklamierte Politik des Schuldenstopps keinesfalls folgenlos. Der Sparwille wird nämlich demonstrativ an den Teilen der Gesellschaft exekutiert, die als „nicht-systemrelevant“ eingestuft werden. Ihnen wird noch das letzte Butterbrot genommen, nicht um damit die Schulden zu bezahlen, sondern damit die öffentliche Hand gegenüber den Geld- und Kapitalmärkten ein bisschen länger den Schein der Kreditwürdigkeit aufrechterhalten kann. Genau das macht auch den zynischen Charakter der aktuellen Sparprogramme vor allem in den südlichen Eurostaaten und Irland aus. Nur damit der Euro-Raum noch eine Weile die Rückzahlfähigkeit seiner Schulden simulieren kann, wird die Masse der Bevölkerung ins Elend getrieben.

6.
Wie dieses Verelendungsprogramm legitimiert wird, ist allgemein bekannt. Der griechischen Rentnerin kratzen die Sparideologen das spärliche Mahl vom Teller, weil die Gesellschaft angeblich „über ihre Verhältnisse“ gelebt habe. Der Aberwitz dieser Begründung übersteigt noch deren Unverschämtheit. Sie stellt das Grundproblem auf den Kopf, vor dem die Weltgesellschaft heute steht. Denn diese Gesellschaft lebt schon lange quantitativ und qualitativ weit unterhalb der Verhältnisse, die bei einer vernünftigen Anwendung der Produktivitätspotentiale, die der Kapitalismus selbst hervorgebracht hat, möglich wären. Längst schon könnte mit weniger als fünf Stunden produktiver Tätigkeit pro Woche und Person ein Reichtum produziert werden, der allen – und zwar wirklich allen – Menschen auf dieser Welt ein gutes Leben erlauben würde; und dies, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Dass diese Möglichkeit nicht längst verwirklicht wurde, liegt einfach daran, dass unter kapitalistischen Bedingungen aller Güterreichtum nur eine Daseinsberechtigung hat, wenn er sich dem Zweck der Kapitalvermehrung unterordnet und als abstrakter Reichtum darstellen lässt.

Mit der dritten industriellen Revolution aber hat die Gesellschaft eine Schwelle erreicht, an der sie zu produktiv für den armseligen Selbstzweck der Wertverwertung geworden ist. Nur der beständig erweiterte Vorgriff auf künftige Wertproduktion, die Vorabkapitalisierung von Wert, der nie produziert werden wird, hat drei Jahrzehnte lang die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Dynamik ermöglicht. Diese verrückte Aufschubstrategie steckt jedoch inzwischen selbst in einer heillosen Krise. Das ist aber weder ein Grund, den „Gürtel enger zu schnallen“ noch in den regressiven Phantasien eines „gesunden“, auf „ehrlicher Arbeit“ gegründeten Kapitalismus zu schwelgen. Eine emanzipatorische Bewegung gegen „Sparpolitik“ und repressive Krisenverwaltung muss vielmehr darauf zielen, die zwangsweise Kopplung von stofflicher Reichtumsproduktion und Wertproduktion ganz bewusst zu kappen. Es gilt, die Frage der „Finanzierbarkeit“ offensiv durchzustreichen. Ob Wohnungen gebaut, Krankenhäuser betrieben, Nahrungsmittel produziert oder Bahnlinien unterhalten werden, darf nicht davon abhängen, ob die nötige „Kaufkraft“ vorhanden ist. Kriterium dafür kann einzig und allein die Befriedigung konkreter Bedürfnisse sein. Wenn Ressourcen stillgelegt werden sollen, weil „das Geld fehlt“, müssen diese eben angeeignet und in bewusster Frontstellung gegen die fetischistische Logik der Warenproduktion transformiert und betrieben werden. Ein gutes Leben für alle kann es nur jenseits der abstrakten Reichtumsform geben.