Wenn Billiglöhne zu hoch sind

Produktionsverlagerungen aus Mittelosteuropa am Beispiel SEWS-Polska

von Tomasz Konicz

Ein durchschnittlicher Nettoverdienst von umgerechnet 400 Euro kann schon zu viel sein: Im Juni wird der japanische Autozulieferer Sumimoto Electric Wiring Systems (SEWS) seinen letzten Produktionsstandort in Polen schließen und somit sein gut fünfzehnjähriges Engagement in dem mittelosteuropäischen Land de facto beenden. Mehr als 1000 Lohnabhängige, die in der westpolnischen Stadt Leszno Verkabelungen und andere elektrische Komponenten unter anderem für Toyota und Honda herstellen, werden dann ihre Arbeit verlieren. Am Standort Leszno wird nur noch die „technische Abteilung“ übrig bleiben, in der ca. 50 Angestellte weiterhin beschäftigt werden. Hierbei handelt es sich im Endeffekt um eine klassische Betriebsverlagerung: Die Schließung der polnischen SEWS-Standorte geht mit einem Ausbau von mehreren Produktionsstätten in Rumänien, Marokko und vor allem in Ägypten einher, wo ein noch niedrigeres Lohnniveau vorherrscht.

Bis 2009 arbeiteten in den zwei westpolnischen SEWS-Standorten Leszno und Rawicz sogar circa 3000 Beschäftige für SEWS-Polska. In der Kleinstadt Rawicz fand die Betriebsauflösung bereits vor zwei Jahren – auf dem Höhenpunkt der Weltwirtschaftskrise – statt, die von der Betriebsleitung mit den Krisenfolgen in der Fahrzeugbranche begründet wurde. Ab Mitte 2009 verloren in Rawicz 1800 Beschäftigte ihre Arbeitsplätze, von denen 300 in den SEWS-Betrieb in Leszno übernommen wurden. Seitens der Politik wurden schon damals Vorwürfe gegen den japanischen Konzern erhoben, dieser nutze nur die Krise aus, um Betriebsverlagerungen in Billiglohnländer vorzunehmen. Der Parlamentsabgeordnete Jan Dziedziczak erklärte unter Berufung auf Gewerkschaftskreise in einer Anfrage an den polnischen Premierminister, dass die wahren Ursachen der Entlassungen „in der Absicht der Verlagerung der Betriebe in Rawicz und Leszno nach Rumänien und in afrikanische Länder“ zu verorten seinen.

Verhandlungsresistent

Grzegorz Krzyżanowski, Vorsitzender der Betriebskommission der Gewerkschaft Solidarność bei SEWS-Leszno, erinnert sich noch gut an die vergeblichen Versuche der lokalen Politik und der Gewerkschafter in Rawicz, den japanischen Konzern zum Umlenken zu bewegen: „Es wurde alles in unseren Kräften Stehende unternommen, um die Produktion in Polen zu halten.“ Der Bürgermeister von Rawicz habe SEWS-Polska den Vorschlag unterbreitet, auf alle Steuern und Abgaben zu verzichten, die der Konzern an die Kommune zu entrichten hatte. Auf Druck der Solidarność bot die polnische Regierung dem Autozulieferer sogar die Teilnahme an einem in der Krise aufgelegten Subventionsprogramm an, bei dem SEWS nur den in Polen üblichen Mindestlohn zu zahlen gehabt hätte, während der Fehlbetrag zum Tariflohn von Steuergeldern beglichen worden wäre. Als der Konzern weiterhin an der Betriebsschließung festhielt, organisierten die Gewerkschaftler eine Betriebsblockade, die über zehn Tage aufrecht erhalten, und erst nach der Zusicherung einer zusätzlichen Abfindung von 10 000 Zloty (circa 2550 Euro) aufgelöst wurde.

Das Universum der Billiglöhne

SEWS-Polska habe alle genannte Offerten ausgeschlagen, weil das Unternehmen sich bei deren Annahme dazu verpflichtet hätte „über fünf weitere Jahre die Produktion in Polen aufrecht zu erhalten“, erläuterte Krzyżanowski. Dies sei aber „nicht im Interesse“ des Autozulieferers gewesen, so der Gewerkschaftler weiter, der auf die Unterschiede im Lohnniveau zwischen Polen, Rumänien und Ägypten verwies. Eine Arbeitskraft in Polen komme auf einen Nettolohn von etwas mehr als 1500 Zloty (knapp 400 Euro), was einen Bruttolohn von circa 2500 Zloty (etwa 650 Euro) entspricht. In Rumänien würden die bei SEWS beschäftigten Menschen hingegen „weniger als 1000 Zloty“ (circa 260 Euro) verdienen – bei wesentlich niedrigeren Lohnnebenkosten. In Ägypten hingegen zahle SEWS Monatslöhne von umgerechnet „circa 100 US-Dollar“. Diese Angaben wurden von SEWS-Beschäftigen in Leszno bestätigt, die an Schulungen von Arbeitskräften in Rumänien und Ägypten teilgenommen haben. Demnach beliefen sich die Gesamtlohnkosten pro Beschäftigten für das Unternehmen in Polen auf circa 800 Euro monatlich. Die Gesamtkosten der „Ware Arbeitskraft“ beliefen sich für SEWS in Rumänien auf circa 500 Euro. In Ägypten seien es aber nur 100 Euro, da dort kaum Lohnnebenkosten entfielen. Der stellvertretende Betriebsleiter von SEWS-Leszno (Deputy Plant Manager), Andrzej Czarnul, wollte keine konkreten Angaben zu der Lohnhöhe in den Standorten in Rumänien und Ägypten machen, doch bestätigte er auf Nachfrage, das diese sich in Rahmen in der landesüblichen Durchschnittsentlohnung bewegten. Im vergangenen Februar betrug das durchschnittliche Nettogehalt in Rumänien circa 340 Euro. Unterschiedliche statistische Erhebung geben für Ägypten durschnittliche Wochengehälter von 40 bis 60 US-Dollar an.

Sumimoto Electric Wiring Systems baut schon seit mehreren Jahren drei Standorte in Rumänien aus, die sich in den Ortschaften Orastie, Alba lulia, und Deva befinden. In Ägypten errichtet SEWS gerade ein besonders großes Werk, das nach Aussagen des Gewerkschaftlers Krzyżanowski zu einer der größten Produktionsstätten der gesamten Branche zählen werde. Der stellvertretende Betriebsleiter Czarnul bezifferte die Gesamtzahl der in Rumänien, Ägypten und Marokko für SEWS tätigen Arbeitskräfte auf etwa 9000.

Modellwechsel mit Länderwechsel

Desweiteren betonte Czarnul, dass SEWS nicht einfach nur die gesamte Produktion von Polen nach Rumänien verlagere, sondern, dass die entsprechenden Produktionsaufträge ausgelaufen seien. Die Hälfte der Aufträge von Fahrzeugherstellern, die in Polen abgewickelt wurden, seien demnach ausgelaufen, da die entsprechenden Fahrzeugmodelle bald nicht mehr produziert würden. Es gebe keine Erneuerung des Produktionsauftrages seitens des Fahrzeugherstellers für das neue Modell, so Czarnul. Da die restliche Produktion in Polen nicht mehr profitabel sei, werde diese nach Rumänien ausgelagert. Seitens der Gewerkschaft und Belegschaft hieß es wiederum, dass SEWS den Modellwechsel seiner Auftraggeber genutzt habe, um bei dieser Gelegenheit den Standortwechsel zu vollführen, da die neuen Anlagen zur Fertigung der Elektrischen Komponenten der neuen Fahrzeugmodelle in Rumänien und Ägypten entstanden seien.

Die Krise habe laut Czarnul ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Entscheidung zur Fabrikschließung in Polen gespielt, der ganze Prozess sei „bei Krisenausbruch eingeleitet“ worden. Als weiteren Faktor, der zum Beschluss zur Betriebsverlagerung beigetragen habe, nannte der SEWS-Manager die zunehmende Konkurrenz in der Branche. Viele mit Sumitomo konkurrierende Firmen hätten demnach ihre Produktionsstandorte längst nach Nordafrika, den Nahen Osten, oder die Ukraine verlagert. Diese Länder bezeichnete Czarnul als „Low Cost Countires“ (LCC), als Niedrigkostenländer. Der anhaltende Trend zur Produktionsverlagerung in die LCC habe „die Konkurrenz mit diesen Fabriken für unseren Standort in Polen sehr erschwert.“ Viele der neuen Konkurrenten von Sumimoto entstanden erst im Gefolge der Welle an Prozessen des Outsourcing, die in den letzten Jahrzehnten in der Fahrzeugindustrie um sich griffen. Dies habe zu einer Zunahme der Konkurrenz in der Branche geführt.
Comeback der Handarbeit – Comeback der Lohndrücker

Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer seien laut Czarnul für Firmen mit einem hohen Anteil manueller Arbeit an den Produktionskosten besonders wichtig. Dies betreffe die Produktionsprozesse bei SEWS, die nicht leicht automatisiert werden könnten. Der Gewerkschaftler Krzyżanowski gab wiederum an, dass die Lohnkosten bei SEWS „in etwa 15 bis 20 Prozent“ der Gesamtaufwendungen des Unternehmens umfassten. Die – rein technisch machbaren – Investitionen in die Automatisierung dieser Arbeitsabläufe würden laut Czarnul in die „Millionen Euro“ gehen, weswegen „so etwas sich bei den immer kürzeren Produktionsspannen der einzelnen Fahrzeugmodelle – dies sind ja nur noch zwei, drei Jahre – nicht mehr rentiert.“ Nur die Kabelsysteme in besonders sicherheitsrelevanten Bereichen, wie etwa bei Airbags oder ABS-Systemen, werden durch automatisierte Fertigungsschritte hergestellt.

Ausweg: Hightech-Produktion

Sumitomo habe sein Engagement in Polen vor 15 Jahren wegen niedrigerer Löhne eingeleitet. Nun fänden Angleichungsprozesse an den Westen statt, der Kampf um diese Arbeitsplätze in den arbeitsintensiven Industriezweigen werde in Polen gerade verloren, so Czarnul. Es bestehe aber die Hoffnung, dass nun in Polen Branchen mit einer höheren Wertschöpfung Fuß fassten, die komplexe Fertigungsabläufe aufweisen, einen hohen Kapitaleinsatz erfordern und auf gut ausgebildete Fachkräfte angewiesen sind, bei denen die Lohnhöhe nicht entscheidend sei.

Bisher führten die Entlassungswellen bei SEWS aber nur zu einem teilweise dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Region. Am ehesten verkrafte diese Massenentlassungen die mehr als 65 000 Einwohner zählende Kreisstadt Leszno, erläuterte der Solidarność-Funktionär Krzyżanowski, da es dort noch weitere Industrie gebe, die „die entlassenen Arbeitskräfte teilweise aufnehmen“ werde. Dennoch wird die Arbeitslosenquote in der Stadt jüngsten Prognosen zufolge aufgrund der Entlassungen von acht Prozent auf circa zehn Prozent ansteigen. Weitaus schwieriger sei die Situation in der 60 Kilometer östlich von Leszno gelegenen Kleinstadt Rawicz, die über keine weiteren nennenswerten Industriebetriebe verfüge: „Viele der in 2009 entlassenen Menschen haben bis heute keine Arbeit finden können,“ so Krzyżanowski. Frauen stellten die überwiegende Mehrzahl der Arbeiterschaft bei SEWS-Polska, für die es in der Region ohnehin weit weniger Beschäftigungsmöglichkeiten gebe. Inzwischen pendle die Erwerbslosenquote in Rawicz zwischen 10 und 15 Prozent, doch sei die Lage dort „weiterhin sehr dynamisch“, da bald auch diejenigen Arbeiterinnen in Rawicz sich erwerblos melden werden, die derzeit noch in Leszno arbeiteten. Regelrecht dramatisch steige die Arbeitslosigkeit in der Kleinstadt Góra an, von der aus viele Arbeiterinnen nach Leszno zur Arbeit pendelten – und in der inzwischen 28 Prozent aller erwerbsfähigen Einwohner ohne Arbeit seien.

Vor allem unter Berücksichtigung der zuletzt stark ansteigenden Kosten für diese Pendler, die täglich teilweise Dutzende von Kilometern mit dem Auto zurücklegen müssten, seien weitere gewerkschaftliche Zugeständnisse bei der Lohnhöhe gegenüber SEWS-Polska nicht möglich gewesen, erläuterte Krzyżanowski. Allein die Anfahrtskosten können sich bei diesen Pendlern auf gut „ein Drittel ihres Nettoverdienstes von rund 1500 Zloty“ summieren, so der Gewerkschaftler: „Viel niedriger können die Löhne bei den steigenden Lebenshaltungskosten und Energiepreisen doch gar nicht sein!“

Eine neue Dimension der Betriebsverlagerungen

Für Jarosław Range, dem Vorsitzenden der Solidarność in der Region Großpolen, stellte die von SEWS-Polska eingeleitete Betriebsverlagerung ein Novum seiner sechsjährigen Dienstzeit dar: „So etwas haben wir in dieser Dimension bisher noch nicht erlebt,“ sagte Range, der ebenfalls bekräftigte, das SEWS die ersten Entlassungswellen in Rawicz noch mit den Krisenfolgen legitimierte. Dabei stellen die Betriebsverlagerungen in Leszno und Rawicz inzwischen keinen Einzelfall in Polen dar. Im August 2009 schloss der japanische Autozulieferer Takata Petri seinen Produktionsstandort in der Sonderwirtschaftszone der südwestpolnischen Stadt Wałbrzych, in dem bis zu 800 Arbeiter Lenkräder herstellten. Trotz der massiven Steuervergünstigungen, die mit der Niederlassung in solchen Sonderwirtschaftszonen einhergehen, entschloss sich die Konzernführung Takatas ebenfalls zur Betriebsverlagerung nach Rumänien. Von den verbliebenen 600 Arbeitern verloren 571 ihre Arbeitsplätze.

Next Exit: Egypt!

Dennoch verlieh der SEWS-Gewerkschaftler Krzyżanowski im Gespräch mit der GEGENBLENDE seiner Hoffnung Ausdruck, dass diesem globalen Lohndumping irgendwann Einhalt geboten werde. Der Gewerkschaftler verwies dabei auf die breite Streikwelle in Ägypten, die seit dem erfolgreichen demokratischen Aufstand gegen das Mubarak-Regime auch die Industriestadt Port Said erfasste, in der SEWS seine neue Fabrik errichtet habe. Inzwischen seien auch die ägyptischen Arbeiter in dem neu errichteten Werk des japanischen Autozulieferers in den Ausstand getreten, um höhere Löhne zu erkämpfen: „Die Arbeiter in Ägypten haben eine reelle Chance tatsächlich Lohnerhöhungen durchzusetzen, da die Firma dort gerade erst enorme Investitionen in den neuen Produktionsstandort getätigt hat.“ Nur wenn das Lohnniveau sich auch international angleiche, könnten Konzerne wie Sumimoto nicht mehr von den enormen Lohndifferenzen profitieren. Er hoffe, so Krzyżanowski abschließend, dass „die Menschen in Ägypten es tatsächlich schaffen, würdige Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen zu erkämpfen.“