Was hindert uns
von Petra Ziegler
Auf die Produktion von Schrott versteht sich die Marktwirtschaft. Ganze Branchen hängen am beschleunigten Verkürzen der Produktzyklen. Da mag die zivilisierte Welt in einem Meer aus Müll baden gehen. Der Strudel aus Kunststoff-Pellets im Nordostpazifik kann zur Illustration ebenso dienen wie die Berge ausgesonderter Computer, Fernseher und Mobiltelefone in Nigeria, Ghana oder Pakistan oder irgendwo sonst, wo nur genug arm genug sind, gezwungen, in den vor sich hin modernden Abfällen der modernen Wegwerfgesellschaft nach einem Stück elender Existenzgrundlage zu wühlen. Dem mitfühlenden Gemüt tut es angesichts der hässlichen Kehrseite der schönen, bunten Warenwelt in der Seele weh; das neue iPad, brauch ich nicht…
Es geht im globalen wirtschaftlichen Getriebe bekanntlich darum, aus Geld mehr Geld zu machen, in anderen Worten: um die „Verwertung des Werts“. Am Erfolg dieses Unterfangens hängt nicht nur die ökonomische Überlebensfähigkeit der Einzelkapitalien. Jedes noch so „alternative Budget“ will abschöpfen und umverteilen, was zuvor an Mehr-/Wertmenge produziert wurde, es pocht auf die „Finanzierbarkeit“ gesellschaftlicher Reproduktion. Reichtum in Geld- und Warenform, augenscheinlich in Masse vorhanden, beliebig eintauschbar zwecks Befriedigung individueller Bedürfnisse, materieller wie immaterieller Art. Die spezifisch kapitalistische Form verstanden als Reichtum schlechthin.
Die Empörung gilt den als zunehmend ungerecht und dysfunktional wahrgenommenen distributiven Ergebnissen einer Profit- und Geldlogik, die „nie genug bekommen kann“, die „Reichtum“ anhäuft, nur um den Verwertungsdruck noch weiter zu steigern. Der Abgrund zwischen dem, was ist, und dem, was längst sein könnte, tut sich immer weiter auf.
Was hindert uns, unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten, alle Kreativität und die Anstrengungen individueller wie kollektiver Intelligenz, für das gute Leben nutzbar zu machen?
Die für die Marxsche Analyse der kapitalistischen Produktionsweise wesentliche Unterscheidung zwischen stofflichem Reichtum und abstraktem Wert (der in Geld seinen Ausdruck findet) spielt in den „kapitalismuskritischen“ Betrachtungen des linken Mainstream so gut wie keine Rolle. Die Ware, ob nun als Einzelding oder allgemeine Form des Reichtums im Kapitalismus, zeigt nicht nur vom unterschiedlichen Stand der Betrachtung ihr doppeltes Gesicht (Gebrauchswert und Wert), ihre beiden Charaktere stehen in vielfacher Wechselwirkung, doch gerade nicht im Sinne fröhlicher Koexistenz. Die Mesalliance von Arbeitszeit und Wert bildet die Basis einer höchst eigenwilligen Dynamik.
Mit steigender Produktivität der Arbeit treten stofflicher und wertförmiger Reichtum zunehmend auseinander. Verringert sich der (gesellschaftlich notwendige) Arbeitsaufwand, bleibt das nicht ohne Folgen für die pro stofflicher Einheit „produzierte“ Wertmasse. „Alle Mittel, die die Produktivität steigen lassen, etwa angewandte Wissenschaft und Technologie – erhöhen nicht die pro Zeiteinheit erzielte Wertmenge, wohl aber vermehren sie erheblich die Menge des produzierten stofflichen Reichtums. Der zentrale Widerspruch des Kapitalismus hat seinen Grund darin, dass der Wert unabhängig von den Entwicklungen der Produktivität die bestimmende Form des Reichtums und der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus bleibt, er aber in Bezug auf das den stofflichen Reichtum produzierende Potential der Produktivkräfte, das er hervorbringt, zunehmend anachronistisch wird.“ (Postone 2003, 302, Herv. i. O.) Der Wert der Waren steht also in umgekehrtem Verhältnis zur Arbeitsproduktivität. Mit Marx: „Derselbe Wechsel der Produktivkraft, der die Fruchtbarkeit der Arbeit und daher die Masse der von ihr gelieferten Gebrauchswerte vermehrt, vermindert also die Wertgröße dieser vermehrten Gesamtmasse, wenn er die Summe der zu ihrer Produktion notwendigen Arbeitszeit abkürzt. Ebenso umgekehrt.“ (MEW 23, 61)
Versetzt der Einsatz arbeits- und zeitsparender Technik das einzelne Unternehmen durchaus in die Lage, sein Stück am (gesamtgesellschaftlichen) Mehr-/Wertkuchen zu vergrößern, ergibt sich für die Gesellschaft insgesamt ein differenzierteres Bild. Entsprechend gestiegene Absatzzahlen vorausgesetzt, kann der innovative Betrieb den stofflichen Output im Zeitraum x um, sagen wir, 15 Prozent steigern, damit vergrößert er vorübergehend die im selben Zeitraum „geschaffene“ Wertmenge. Hat sich das neue Produktivitätsniveau konkurrenzbedingt erst einmal durchgesetzt, schwindet dieser Zugewinn. Die pro Zeiteinheit erzielte Wertmenge kehrt auf ihr Ausgangsniveau zurück, das Rennen um einen neuerlichen Vorsprung gegenüber den „Mitbewerbern“ beginnt auf erhöhter Basis von vorne.
So bestimmt die Steigerung der Produktivität die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit neu – und damit das Wertmaß. Andererseits drückt sich der Produktivitätszuwachs „in der proportionalen Wertabnahme jeder produzierten Einzelware aus“ (vgl. Postone 2003, 432 ff.). Je weniger Arbeitszeit auf die Fertigung einer einzelnen Ware aufgewendet wird, desto weniger Wert „steckt“ im einzelnen Produkt. Schon um die potentielle Umverteilungsmasse nicht schrumpfen zu lassen, müssen Output und (Ressourcen-)Verbrauch permanent erhöht werden. „Wesentlich für die Dynamik des vollständig konstituierten Kapitalismus ist der Tretmühleneffekt, der allein in der zeitlichen Dimension der Wertform des Reichtums begründet liegt.“ (ebd., 438)
Was folgt, sind nicht kreativer Müßiggang, weitgehend befreit von der Sorge um die materielle Existenz, sondern tendenziell immer noch mehr Maloche, Raubbau am Planeten und üble Emissionen.
Der Zuwachs an „disposable time“ (Marx) könnte längst zum Potential werden, die Produktion gemäß sinnlich-stofflicher Kriterien umzugestalten und das gute Leben in Angriff zu nehmen. Als Quelle „wirklichen“ Reichtums wird menschliche Arbeit mit fortschreitender Automatisierung überflüssig, allein die Wertverwerterei kommt ohne sie nicht aus. Ihr struktureller Zwang, ihre blinde Dynamik entzieht sich jeder „besseren Einsicht“. Es ist höchste Zeit, den Wert zu entsorgen.
Literatur
Marx, Karl (MEW 23): Das Kapital. Erster Band, Berlin 1985.
Postone, Moishe: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003.