Verstummen

Streifzüge 50/2010

Kolumne Rückkopplungen

von Roger Behrens

Schon einmal war ich da, das war vor einigen Jahren im Frühjahr. Die Bäume waren noch nicht sehr grün, weshalb man von hier aus am gegenüberliegenden Ufer das Autobahnviadukt sehen konnte. Der Verkehr war als das Rauschen von Motoren zu hören und mischte sich mit dem Zwitschern der Vögel. Wie damals ein kleiner Spaziergang von Klagenfurt aus. Diesmal war Sommer. Und wieder stand ich hier, vor dem Komponierhäuschen von Gustav Mahler, mitten im Wald, mit Blick auf den Wörther See. Freundlicherweise hat mich die Aufsicht hereingelassen, ohne dass ich Eintritt zahlen musste. Die Aufsicht: ein junger Mann, der im buchstäblichen Sinne sympathisch wirkte, nämlich als echter Fan sich bereit erklärt zu haben schien, alles Leiden, was an der Person und Kunst Mahlers haftet, noch einmal auf sich zu nehmen. Ihm fehlte ein Arm, er wirkte abwesend, ist eher irgendwo bei Mahler, über dessen Leben, Werk und Wirken er mitfühlend erzählt. Mahler hatte hier einige Symphonien fertiggestellt. „Und die Kindertotenlieder“, fügt der Mann mit trauriger Stimme hinzu, „Mahler sind ja damals schreckliche Dinge passiert“.

Das Häuschen wurde nicht als Arbeitsraum wieder hergestellt, sondern als Ausstellungsraum: Keine Möbel, mit denen Mahler da gehaust haben mag, keine Utensilien, keine Instrumente oder dergleichen. Die Ausstellung besteht mithin aus Informationstafeln, Collagen von Fotos, Programmzetteln, alten Zeitungsberichten und Reproduktionen von Cover-Artworks berühmter Schallplattenaufnahmen. Alles ist ein bisschen auf alt gemacht, die Bildtafeln sind in Holz gerahmt, die Flächen mit beige-braunen Leinen bespannt. Gleichwohl gibt es hier auch die dem einfühlsamen Kult angemessene Technik: Eine HiFi-Anlage beschallt den Raum. Mit seinem einzigen Arm schob der junge Mann – anscheinend nur für mich, denn ich war der einzige im Häuschen – die Fünfte in den CD-Spieler. Er spielt einen Auszug aus dem ersten Satz, springt dann zum vierten Satz: Adagietto – Visconti hatte es für seine Verfilmung von Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ verwendet und damit berühmt gemacht.

Um Neunzehnhundert zeichnet sich drastisch ab, dass die bürgerliche Gesellschaft mit dem idiotischen Vorhaben, ihr humanistisches Ideal als fortschreitenden Kapitalismus zu realisieren, gescheitert ist. Zugleich aber passiert auch der Aufbruch der Moderne, die alltäglichen Errungenschaften der sich etablierenden Konsumgesellschaft, die Mode und die Warenwelt als Lebensweise verändern den Alltag der Menschen. Dies ist die Ambivalenz der Moderne, von der Mahlers Musik wie keine andere Zeugnis gibt.

Gustav Mahler, 1860 in Böhmen geboren, 1911 in Wien gestorben, war zwar kein Avantgardist – ohnehin schlägt die Musik erst später ihren radikal-avantgardistischen Weg ein (nämlich dort, wo sie auf den Film stößt, sich auf den Rundfunk und den Sound der Straße einlässt …) –, er war aber doch musikalischer Wegbereiter, von der ersten Symphonie, uraufgeführt 1889, bis zur unvollendeten 10. Symphonie. Das Komponierhäuschen am Wörther See diente Mahler als Refugium von 1901 bis 1907. Hier komponierte er die 5., 6. und 7. Symphonie, schließlich die 8., die u.a. wegen der drei Chöre, fünfzig Streicher, vierzig Bläser, Fernorchester, Orgel, Harmonium etc. die „Symphonie der Tausend“ genannt wird. Sie beginnt bombastisch mit dem Pfingsthymnus „Veni, Creator Spiritus“. Indes – der erste Satz der 5. Symphonie: ein Trauermarsch, „In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt.“

Mahler ist in diesen Jahren, nach seiner Zeit als erster Kapellmeister am Stadttheater in Hamburg (1891 bis 1897), Hofoperndirektor in Wien. Bis 1907; im Juli dieses Jahres stirbt seine Tochter Maria Anna. Das Komponierstübchen am Wörther See, ebenso wie die dortige Villa an der Südufer Straße, wird Mahler nie wieder betreten. Im Dezember 1907 reist Mahler aus Wien ab, tritt seine Stelle als Leiter der New Yorker Philharmoniker an der Metropolitan Opera an. Mahler geht es gesundheitlich schlecht, diagnostiziert wird eine Herzkrankheit. Auch psychisch ist einiges im Argen, vor allem die Liebe zu seiner Frau Alma. 1910 konsultiert Mahler in Leiden den Psychoanalytiker Sigmund Freud; an Alma telegrafiert er danach: „Aus Strohalm Balken geworden.“ Freud selbst erinnert sich später an diese immerhin nur einen Nachmittag dauernde Kurzanalyse: „Ich hatte Anlass, die geniale Verständnisfähigkeit des Mannes zu bewundern. Auf die symptomatische Fassade seiner Zwangsneurose fiel kein Licht. Es war wie wenn man einen einzigen, tiefen Schacht durch ein rätselhaftes Bauwerk graben würde.“

Mahler notiert: „Man komponiert nicht, man wird komponiert.“ Die handschriftliche Bemerkung ist stark vergrößert auf Plexiglas gebracht, hängt wie ein Motto, ein Leitmotiv, oberhalb der Bilderrahmen, fast unter der Decke. „Komponieren“ heißt wörtlich „zusammensetzen“. Die Musik setzt den Menschen zusammen, ja sie erscheint als Rettungsversuch, die hoffnungslos zerrissene Person zusammenzusetzen, die Bruchstücke zusammenzufügen, irgendwie also zusammenzuhalten, was beständig auseinander treibt: Das Ganze ist nur noch in Teilen zu haben, in Fragmenten – das ist die Signatur der Romantik, die Mahler musikalisch in ihrer Spätphase definiert; der Übergang zur Zweiten Wiener Schule, zur Atonalität und schließlich Zwölftonmusik kündigt sich hier an. Doch nicht nur der Komponist, also Mahler, wird durch diese Musik komponiert, sondern schließlich auch der Hörer. Und wo solche monumentalen Kompositionen wie die Mahlers nicht mehr gelingen können, bleibt das Zusammengesetzte irgendwie unfertig, das komponierte Subjekt unvollständig.

Mithin hört das unvollständige Subjekt auch unvollständig. So scheint schließlich heute Mahlers Musik selbst unvollkommen, bruchstückhaft, fragmentarisch – nicht nur wegen der tatsächlich unvollendeten 10. Symphonie, die Mahler in Skizzen entwirft: „Erbarmen: O Gott, warum hast du mich verlassen“ oder „Vernichte mich, dass ich vergesse, dass ich bin!“. Die Musik scheint ohnehin unvollständig, gerade am Wörther See, an diesem eigentlich sehr trostlosen, vom Glück verlassenen Ort. Ich stehe vielleicht zehn, fünfzehn Meter vom Komponierhäuschen entfernt, höre den Tieren zu. Auch draußen hängen Boxen, und ab und zu gibt es ein paar Fetzen, noch immer aus dem Adagietto der Fünften. Und dann wird es ruhig, und plötzlich klar, dass in vielen Momenten die großen, dynamischen Werke, die monumentalen, klanggewaltigen Symphonien Mahlers die leiseste Musik der Welt sind, nämlich das Verstummen ankündigen, nicht nur einer Epoche, sondern aller Zeiten.