Sp(r)itzenleistungen
Doping am Arbeitsplatz dürfte langsam aber sicher zum Normalfall werden
Streifzüge 53 / Herbst 2011
von Peter Samol
Um in der Arbeitsgesellschaft als vollwertiges Mitglied zu gelten, genügt es für gewöhnlich nicht, eine Arbeit zu haben. Man muss darüber hinaus auch ein gewisses Maß an Leistung vorweisen. Meistens ein sehr hohes. Sonst drohen Anerkennungsverlust, Druck von Seiten der Kollegen bzw. Vorgesetzten und nicht selten am Ende der Rauswurf. Darüber hinaus verdichten sich in allen Berufsfeldern stetig die Leistungsanforderungen, meist begleitet von wachsendem Konkurrenzdruck und der Angst vor Stellenstreichungen. Um all dem besser gewachsen zu sein und damit man nach außen hin immer noch den fleißigen und belastbaren Mitarbeiter geben kann, steigt die Bereitschaft zur Einnahme von Medikamenten, die der Leistungssteigerung dienen sollen. Allein in Deutschland putschen sich mehr als zwei Millionen gesunde Menschen regelmäßig auf, um besser mit ihrer Arbeit fertig zu werden. Das sind fünf Prozent aller Beschäftigten. Es ist zu befürchten, dass diese Art des Medikamentenmissbrauchs künftig zunehmen wird.
Sport im Drogenkoma
Begonnen hat der Missbrauch von Medikamenten zur Leistungssteigerung im Sport. Hier wird die Einnahme entsprechender körperfremder Substanzen als Doping bezeichnet. Zum ersten Mal wurden leistungssteigernde Substanzen im Jahr 1910 beim Pferdesport nachgewiesen. Richtig los ging es mit dem Sportdoping in den 1950er Jahren. Von dieser Zeit an wurden verschiedene Substanzen für den Leistungszuwachs von Sportlern systematisch erprobt und verwendet.
Es begann seinerzeit mit Pervitin, einer Substanz, die Soldaten bereits im zweiten Weltkrieg gegen Müdigkeit und zur Steigerung der Aufmerksamkeit verabreicht wurde. In den Siebzigern waren dann Anabolika, sprich muskelaufbauende Präparate, das bevorzugte Mittel der Wahl, kurz darauf gefolgt von Wachstumshormonen. Anfang der 1990er Jahren geriet dann vor allem das Blut in den Fokus der künstlichen Leistungssteigerung. Beim Blutdoping wird die Anzahl der roten Blutkörperchen durch die Gabe von Fremd- oder Eigenblut sowie durch Epo-Präparate (Erythropoetin – kurz Epo – ist ein Hormon, das die Produktion der roten Blutkörperchen anregt) über den Normalwert hinaus gesteigert. Dadurch kann das Blut mehr Sauerstoff zu den Muskeln transportieren, was die sportliche Leistungsfähigkeit deutlich erhöht.
Mittlerweile ist der Spitzensport total von der Pharmakologie durchdrungen. Bei anonymen Umfragen räumt fast jeder zweite Spitzensportler freiwillig ein, schon einmal verbotene leistungssteigernde Substanzen zu sich genommen zu haben (siehe Pitsch, Emrich, Klein 2005, S. 68). Man kann also getrost davon ausgehen, dass nur ein relativ geringer Teil der Spitzensportler nicht gedopt ist. Vor allem, da die Leistungen im Spitzensport häufig nur um winzige Bruchteile von Sekunden oder Millimetern voneinander differieren. Hier kann eine leistungssteigernde Substanz den entscheidenden Unterschied zum Sieg ausmachen.
Eine Sportlerkarriere ist Darwinismus pur. In ihr setzen sich nur die Starken durch, während die Schwachen auf der Strecke bleiben und aussortiert werden. Noch dazu haben fast alle Spitzensportler ihre Kindheit und ihre Jugend dem Sport geopfert. Sie haben oft nichts anderes mehr und leben ständig in der begründeten Angst, diesen auch noch zu verlieren, wenn sie nicht gut genug sind. Was aber sollen sie tun, wenn sie bereits alles aus sich herausgeholt haben und es immer noch nicht reicht? Dann ist die Versuchung ungeheuer groß, mit unerlaubten Mitteln nachzuhelfen. Die Namensliste der erwischten Sportler ist lang. Sie umfasst die Radsportprofis Lance Armstrong und Jan Ulrich, den 100-Meter-Sprintprofi Justin Gatlin und viele andere. Das Thema schwebt über allen Sportarten, vor allem über denjenigen, bei denen es um individuell zurechenbare Einzelleistungen geht: Radrennen, Boxen, Gewichtheben, Kugelstoßen, Schwimmen, Leichtathletik, Tennis, Biathlon, Skilanglauf, Eisschnelllauf und viele mehr.
In den meisten Hochleistungssportarten werden immer neue Rekorde gefordert, um sie interessant zu halten. Aber weil die natürlichen Grenzen des menschlichen Körpers längst erreicht sind, ist das auf normalen Wegen praktisch nicht mehr zu schaffen. Wenn dessen ungeachtet buchstäblich übermenschliche Leistungen gefordert werden, dann wird die Unterstützung durch unerlaubte Mittel zur systemimmanenten Größe. Wie sollen sonst die ständig neuen Bestwerte im Spitzensport noch zustandekommen? Man kann davon ausgehen, dass viele Weltrekorde nur mit pharmazeutischer Hilfe errungen wurden. Ein Beispiel von vielen ist der 100-Meter-Sprint-Weltrekord des amerikanischen Athleten Justin Gatlin bei den olympischen Spielen in Athen 2004, der ihm später wieder aberkannt wurde.
Noch schwerer als die Rekordsucht dürfte der Umstand wiegen, dass die Sportler auf Erfolgsprämien und Sponsorenverträge angewiesen sind. Beides macht aus den Sportlern Leistungslöhner. Bei den Siegprämien von mehreren 10.000 Dollar sowie Weltrekordprämien von etwa 100.000 Dollar herrscht das „The-Winner-Takes-It-All-Prinzip“. Die Erstplatzierten bekommen fast alles; allenfalls erhalten Zweit- und Drittplatzierte noch nennenswerte Beträge und Ehrungen, während alle anderen gar nichts bekommen, egal wie gut sie ansonsten gewesen sind.
Und nur Sieger bekommen lukrative Sponsorenverträge. In den meisten Spitzensportarten verdienen weltweit nur die ungefähr zehn Besten von mehreren tausend Anwärtern nennenswerte Geldsummen. Wenn aber der Sieg zur Frage der Existenz wird, dann sind rasch alle Mittel recht. Wer nicht dopt, verspielt die eigenen Chancen auf den Sieg und damit auf Geld und Ruhm. Fast jeder Sportler steht früher oder später vor der Alternative, entweder als nicht leistungsfähig genug ausscheiden zu müssen oder zum Betrug mit Hilfe nicht erlaubter Substanzen zu greifen. Vor diesem Hintergrund ist die Erkenntnis, dass im Sport auf breiter Basis gedopt wird, so wenig überraschend wie die Erkenntnis, dass die Erde eine Kugel ist.
Doping für die Arbeit
Nachdem Doping im Leistungssport schon seit Jahrzehnten der Normalfall ist, wandert es zunehmend auch in die Arbeitswelt ein. Der schillernde spanische Philosoph und Essayist José Ortega y Gasset pflegte den Sport als „Bruder der Arbeit“ zu bezeichnen. Die Verwandtschaft gründet darin, dass in beiden Bereichen Leistung das wesentliche Prinzip ist.
Immer mehr Beschäftigte nehmen systematisch körperfremde Substanzen ein, um ihre Arbeit besser, schneller und ausdauernder verrichten zu können. Eine im Auftrag der DAK (Deutsche Angestellten-Krankenkasse) durchgeführte deutschlandweite Befragung von gut 3.000 Erwerbstätigen im Alter von 20 bis 50 Jahren aus dem Jahr 2008 ergab, dass fünf Prozent der Befragten regelmäßig dopen, um den Stress am Arbeitsplatz besser zu bewältigen oder ihre Leistung zu steigern (DAK-Gesundheitsreport 2009, S. 105). Umgerechnet auf die etwa 40 Millionen in Deutschland Beschäftigten ergibt das eine Zahl von zwei Millionen Dopingfällen. Darüber hinaus wären 60 Prozent der Berufstätigen dazu bereit, Mittel zur Steigerung der eigenen Leistungsfähigkeit zu nehmen, wenn keine Nebenwirkungen zu befürchten und sie legal erhältlich wären (ebd., S. 37).
Weit mehr als die Hälfte aller Berufstätigen haben sich also bereits mit dem Gedanken an eine Einnahme leistungssteigernder Substanzen im Job angefreundet. Diese hohe Einnahmebereitschaft dürfte stark mit den Veränderungen der modernen Arbeitswelt zusammenhängen. Ist doch die allgemeine Arbeitssituation durch wachsenden Stress, Arbeitsplatzunsicherheit und starken Konkurrenzdruck geprägt (ebd., S. 107). Tabletten erleichtern endlose Arbeitstage, schaffen Abhilfe bei wachsender Arbeitsverdichtung, hohem Zeitdruck sowie permanenter Verfügbarkeit rund um die Uhr. Alles in allem bekommt man zunehmend den Eindruck, dass für die Arbeitswelt nur noch olympiareife Athleten in Frage kommen.
Ähnlich wie beim Sport muss sich auch hier jeder gegen die Konkurrenz durchsetzen sowie stets am Ball und auf keinen Fall auf der Strecke bleiben. Kein Wunder also, dass immer mehr gesunde Menschen mit Medikamenten nachhelfen, um ständig auf Höchsttouren laufen zu können und den wachsenden Anforderungen am Arbeitsplatz zu genügen.
Anders als bei Leistungssportlern geht es bei der Arbeit aber nicht um eine Steigerung der körperlichen, sondern vor allem um eine der geistigen Leistungsfähigkeit. Um schneller, länger und konzentrierter arbeiten zu können, im Kundenkontakt „besser drauf zu sein“ oder mit weniger Schlaf auszukommen, beeinflussen arbeitende Menschen mit Hilfe von Medikamenten vor allem ihre Hirnfunktionen.
In diesem Zusammenhang nimmt der außermedizinische Einsatz von Psychopharmaka seit Ende der 1980er Jahre ständig zu (siehe Schäfer, Groß 2008, S. 188). Dabei handelt es sich vor allem um Mittel, die normalerweise bei Demenzerkrankungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen oder zur Beruhigung gegeben werden. Manager schlucken Beruhigungsmittel, um dem Stress besser gewachsen zu sein, Außendienstmitarbeiter nehmen Mittel gegen Demenz sowie Stimmungsaufheller, um sich die Namen ihrer Kunden besser merken und sie stets freundlich bedienen zu können, und Büroangestellte verordnen sich selbst Aufputschmittel, um nach einer Sechzehn-Stunden-Schicht am nächsten Morgen wieder frisch auf der Matte zu stehen.
Je nach Bedarf wird medikamentös aufgeputscht, beruhigt und vor allem die kognitive Leistungsfähigkeit gesteigert, um den Belastungen bei der Arbeit gewachsen zu sein. Das wird auch als „Neuroenhancement“ bezeichnet. „Enhancement“ bedeutet dabei soviel wie „Steigerung“, „Verbesserung“ oder „Stärkung“. Andere Begriffe in diesem Zusammenhang sind auch „Performance Enhancement“, „Hirndoping“, „Brain-Boosting“ oder „Minddoping“. Sie bedeuten alle dasselbe: Den Versuch, die kognitiven Fähigkeiten oder psychischen Befindlichkeiten von gesunden Menschen mit Hilfe von Medikamenten über das normale Maß hinaus zu steigern.
Selbst junge Menschen sind zunehmend gedopt. In den spätkapitalistischen Gesellschaften gilt das Prinzip des Wettbewerbs oft schon ab dem Kindergarten. Im Bildungssystem macht sich zunehmend eine Haltung breit, wonach Freude über „nur“ mittelmäßige Leistungen verpönt ist und ein Leben ohne Abitur praktisch schon als gelaufen gilt. In dieser Situation verschaffen viele Eltern ihren Sprösslingen bereitwillig „Unterstützung“ durch entsprechende Medikamente. Eine hohe Dunkelziffer von Schulkindern wird für Klassenarbeiten gedopt.
Tabletten sollen das Pauken in den Tagen vor der Prüfung erleichtern, Ängste mindern oder die Konzentration während der Prüfung erhöhen. Laut einer Befragung würden 80 Prozent der Schüler und Studenten leistungssteigernde Medikamente einnehmen, wenn diese frei zugänglich wären; nur für elf Prozent von ihnen käme ihre Einnahme überhaupt nicht in Frage (Lieb 2010, S. 25).
Alles in allem genießt die Einnahme von Medikamenten zur Problembewältigung gesellschaftlich ein höheres Ansehen als beispielsweise kürzer zu treten, sich Ruhe zu gönnen oder Krankheiten auszukurieren. Mindern doch all diese Maßnahmen die Leistungsbilanz, während Medikamente schneller und unkomplizierter wirken und obendrein auch noch die Leistung steigern. Daher wird Doping mehr und mehr zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit. Dass die Optimierung der menschlichen Leistungsfähigkeit auch einträgliche Geschäfte verspricht, versteht sich in einer kapitalistischen Gesellschaft sowieso von selbst – der weltweite Handel mit Dopingmitteln aller Art ist mengenmäßig durchaus mit dem Drogenhandel vergleichbar.
Auch die mit den Mitteln verbundenen Risiken werden gern ignoriert. Viele Medikamente sind noch so neu, dass „die Langzeitfolgen bei dauerhafter Einnahme noch nicht ausreichend erforscht sind“ (Schäfer, Groß 2008, S. 189). Bei den Mitteln zur geistigen Leistungssteigerung besteht aber auf jeden Fall die große Gefahr, dass die natürlichen Gehirnprozesse massiv beeinträchtigt werden. Die Neuro-Pillen greifen in hochkomplexe Hirnstrukturen ein und bringen dabei eine sehr fein aufeinander abgestimmte Physiologie durcheinander. Es kann dabei zu Hirnveränderungen kommen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Im schlimmsten Fall können die Mittel sogar Wahnvorstellungen oder Psychosen auslösen.
Gedopte Zukunft
Alles deutet darauf hin, dass wir uns erst am Anfang einer künftigen allgemeinen gesellschaftsweiten Doping-Praxis befinden, die weit über den Sport hinausgeht. Dass immer mehr Menschen bereit sind, diese Risiken einzugehen, um sich für noch mehr und noch intensivere Leistungen im Beruf fit zu machen, ist Ausdruck für eine strukturelle Überforderung. Die Leistungsgesellschaft verlangt den Menschen mehr ab, als sie auf Dauer zu erbringen vermögen. Wenn obendrein Schwächeren die Ausgrenzung droht, dann ist die Angst, von den Intelligenteren, Ausdauernderen ins Abseits gedrängt zu werden, allgegenwärtig. Dabei sinkt nicht nur die Hemmschwelle für den Gebrauch von Psychopharmaka, es entsteht auch ein wachsender Druck auf diejenigen, die nicht bereit sind, leistungssteigernde Mittel einzunehmen.
Wenn alle Menschen schneller und effizienter als ihre Mitkonkurrenten sein müssen, um sich die eigenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu sichern und immer mehr von ihnen zu diesem Zweck leistungssteigernde Mittel verwenden, dann verschieben sich über kurz oder lang die Standards dessen, was als „normale“ Leistung gilt. „Dann könnten die Leistungen der nicht ‚verbesserten‘ Personen als unterdurchschnittlich angesehen werden“ (Schäfer, Groß 2008, S. 189). Am Ende wird sich praktisch jeder dazu gezwungen sehen, aus Wettbewerbsgründen zu leistungssteigernden Medikamenten zu greifen.
Auf diese Weise wird eine Konkurrenzspirale in Gang gesetzt, bei der immer mehr gedopt wird, egal ob Körper und Psyche das auf Dauer aushalten oder nicht. Was bedeuten schon die gesundheitlichen Folgen von morgen, wenn es um die Existenz von heute geht? Eine Gesellschaft, in welcher der Leistungsgedanke alles andere beiseite fegt, entsorgt früher oder später auch die Grundlagen, auf denen Doping überhaupt als Problem wahrgenommen werden kann. Als Problemfälle gelten dann vielmehr diejenigen, die nicht dopen. Natürlich wird dadurch das Grundproblem der Konkurrenzgesellschaft in keiner Weise angetastet. „Minderleister“ gibt es in der Konkurrenz immer, ganz egal wie hoch das allgemeine Leistungsniveau liegt. Eine gesellschaftsweite Doping-Praxis spitzt den allgemeinen Leistungswahnsinn einfach nur weiter zu. Das dürfte spätestens dann jedem klar werden, wenn Menschen selbst mit Spritze im Arm und Pille im Bauch deklassiert und ausgeschlossen werden, weil sie nicht genügend Leistung erbringen.
Literatur
DAK-Gesundheitsreport: Schwerpunktthema Doping am Arbeitsplatz, in: ders. S. 37-90 sowie 105-108, 2009.
Lieb, Klaus: Hirndoping: Warum wir nicht alles schlucken sollten, Mannheim 2010.
Pitsch, Werner; Emrich, Eike; Klein, Markus: Zur Häufigkeit des Dopings im Leistungssport, in: Leipziger Sportwissenschaftliche Beiträge, Jg. 46, Heft 2, S. 63-77, 2005.
Schäfer, Gereon; Groß, Dominik: Enhancement – Eingriff in die personale Identität, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 105, Heft 5, S. 188-190, Februar 2008.