Kaltes neues Europa
Kontrolle, Bestrafung, Disziplin – Berlin setzt seine Vorstellungen eines „deutschen Europa“ beim jüngsten Krisengipfel weitgehend durch.
von Tomasz Konicz
Seit dem EU-Krisengipfel vom vergangenen Wochenende haben wir es mit einem „deutschen Europa“ zu tun. Bundeskanzlerin Angela Merkel konnte sich in nahezu allen Streitpunkten durchsetzen und die vor Gipfelbeginn ausgegebene Line, wonach es diesmal „keine faulen Kompromisse“ geben werde, nahezu vollständig einhalten. Im Endeffekt fand auf dem Gipfel kein Verhandlungsprozess mehr statt – es wurde letztendlich ein Diktat durchgesetzt, das von Merkel und ihrem Juniorpartner Sarkozy vorformuliert wurde. Einzig Großbritannien verweigerte sich diesem „kalten neuen Europa,“ das von „Strafen, Disziplinierung und anschwellenden Ressentiments“ geprägt sein werde, wie es der britische „The Guardian“ formulierte. (Siehe auch junge Welt vom 10.12.2012) „Zum ersten Mal in der Geschichte der EU haben nun die Deutschen das Sagen,“ erklärte Charles Grant vom Thinktank Centre for European Reform gegenüber dem linksliberalen Blatt. „Doch zugleich sind sie isolierter als zuvor.“
Kontrolle, Bestrafung, Disziplinierung
An Gelegenheiten zur Kontrolle, Bestrafung und Disziplinierung wird es in dem neuen Regelwerk der EU, das bis März 2012 im Rahmen eines multilateralen Vertrags ausgearbeitet werden soll, wahrlich nicht mangeln. Alle Mitgliedsländer der Eurozone, sowie die dem Vertragswerk „freiwillig“ beitretenden EU-Staaten, müssen „Schuldenbremsen“ nach deutschem Vorbild in ihre Verfassungen aufnehmen und sich verbindlich verpflichten, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Sollte der Haushalt dieser Staaten künftig ein strukturelles, um Konjunkturfaktoren bereinigtes Defizit von mehr als 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufweisen, wird ein „automatisches Korrekturverfahren“ fällig. Hierbei kann die machtpolitisch aufgewertete EU-Kommission, die künftig eine strikte „präventive Budgetkontrolle“ über die nationalen Haushalte ausüben soll, von den betroffenen Regierungen modifizierte Haushaltsentwürfe einfordern, um so diese den EU-Vorgaben anzupassen. Die Staaten Europas werden künftig nicht mal die Haushaltsplanung auf Grundlage ihrer eignen Wirtschaftsprognosen machen, sondern aufgrund der Konjunktureinschätzung „unabhängiger Experten“.
Besonders enge Daumenschrauben werden künftig den Schuldenländern Europas angelegt, die auf Finanzmittel aus den europäischen oder internationalen Krisenfonds angewiesen sind. Diese Staaten sollen im Dreimonatsrhythmus komplett von EU-Bürokraten durchleuchtet werden. Die „automatischen“ Sanktionsverfahren gegen Länder, deren Neuverschuldung drei Prozent ihres BIP überschreitet, können nach Vertragsänderung kaum noch gegen den Willen Berlins verhindert werden, da hierfür eine „qualifizierte Mehrheit“ der EU-Finanzminister notwendig sein wird. Bislang verhielt es sich genau umgekehrt: Eine qualifizierte Mehrheit war notwendig, um ein Sanktionsverfahren gegen „Defizitsünder“ einzuleiten. Die mit einem Sanktionsverfahren konfrontierten Staaten müssen beim Rat der EU ein verbindliches Austeritätsprogramm vorlegen, dass mittels Sparmaßnahmen und „Reformen“ auf raschen Defizitabbau abzielen soll. Die ökonomisch desaströse soziale Kahlschlagpolitik, wie sie etwa Griechenland in den wirtschaftlichen Abgrund trieb, wird somit auf europäischer Ebene institutionalisiert. Die Rolle des IWF beim Drangsalieren der europäischen Schuldenstaaten wurde auf deutsches Betreiben ebenfalls gestärkt, da diesem zusätzliche Mittel in Höhe von 200 Milliarden Euro von den europäischen nationalen Notenbanken zur Verfügung gestellt werden sollen.
Nur Peitsche, kein Zuckerbrot
Daneben konnte Berlin erreichen, dass keine nennenswerten Erleichterungen oder Hilfen für die unter ihrer Schuldenlast zusammenbrechenden Krisenländer Europas beschlossen wurden. Die zuletzt von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy geforderte Einführung von Eurobonds, mit denen die Zinslast der südeuropäischen Eurostaaten gesenkt werden könne, ist von Berlin ebenso abgeschmettert worden, wie die Vergabe einer Bankenlizenz an den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Mit einer Bankenlizenz wäre der ESM in der Lage gewesen, die Anleihen südeuropäischer Staaten als „Sicherheiten“ bei der EZB für weitere Kredite zu hinterlassen, was im Endeffekt auf eine Inflationierung der Schuldenkrise hinausliefe. Ein marginales Zugeständnis konnte Sarkozy der in Frankreich als „Madame Non“ titulierten Merkel mit der früheren Einführung des ESM entlocken, der nun Mitte 2012 – also ein Jahr früher – eingeführt wird und für eine Übergangszeit gemeinsam mit dem derzeitigen Rettungsfonds EFSF wirken soll. Zudem wurde eine „Hebelung“ des EFSF beschlossen, dessen Ausleihkapazität auf rund 750 Milliarden verdreifacht werden soll.
Dabei steht dieses „deutsche Europa“ auf tönernen Füßen, da dessen knallharte neue Regeln zur Eskalation der derzeitigen Wirtschafts- und Schuldenkrise beitragen werden: Sollten auf dem vergangenen Gipfeltreffen keine informellen Absprachen getroffen worden sein, denen zufolge die „unabhängige“ EZB bald mittels massiver Anleiheaufkäufe die Zinslast der vom Staatsbankrott bedrohten Eurostaaten absenkt, dann wird dieser Gipfel als ein entscheidender Markstein bei der Desintegration der Eurozone in die Geschichte eingehen. Ohne Anleiheaufkäufe durch die EZB oder den ESM wird die Zinslast der südeuropäischen Schuldenstaaten bald untragbar sein. Zudem werden die nun europaweit auf Druck Berlins umgesetzten Sparpakete die Konjunktur bald vollauf abwürgen: Ohne fortgesetzte Verschuldung wird die Eurozone in einer schweren Rezession versinken, die sich bereit mit europaweit fallender Industrieproduktion ankündigt. Dieser sich abzeichnende Wirtschaftseinbruch wird auch das derzeit noch in chauvinistischer Großmannssucht schwelgende Deutschland hart treffen, wie der jüngste Einbruch der deutschen Exporte im Oktober um 3,6 Prozent bereits andeutet.
Junge Welt, 12. Dezember 2011