Das Leben selbst

von Franz Schandl

Worüber soll ich schreiben, wenn ich doch den Schwerpunkt betreffende Artikel bereits in der Ausgabe 45 („Vom Schöpfen“ und „Das gute Leben“) veröffentlicht habe? Das Verlangen, hier noch einen theoretischen Beitrag beizusteuern, ist gering. Die Lust aber, über mich nachzudenken, unvergleichlich größer. Was ist für mich gutes Leben? Nicht nur, was es sein könnte, sondern: Was ist es schon jetzt? Daher die folgende Auflistung. Ohne diese gegenwärtigen Momente ist ja auch jede Perspektive eine lose Angelegenheit, blanker Konjunktiv.

Tarockieren

Mein Rechtschreibprogramm kennt nicht einmal das Wort. Schlägt stattdessen „schockieren“, „attackieren“, „blockieren“ vor. Tarock ist wohl ein Kampfspiel mit verschiedenen Wurzeln. Die meisten Kartenspiele sind in den neuzeitlichen Kriegen entstanden, in den Gefechtspausen der Soldaten, und dementsprechend auch geprägt: Das Stechen, die fixen Wertigkeiten der Karten, Könige, die mehr zählen als Damen oder gar Buben, Neuner, Achter etc. – Tarockieren hat sich zwischenzeitlich veredelt, hat einige Starrheiten und Primitivitäten der auf Schnapsen (66) aufbauenden Kartenspiele abgelegt. (Im süddeutschen Raum könnte man Tarock vielleicht mit Schafkopf vergleichen, wenngleich dieses nicht so elaboriert ist wie jenes.)

Mein Ja zum Tarockieren korrespondiert übrigens mit einem Nein zum Schach – dort gewinnt immer der „Bessere“! Und der Gute, der ich bin, möchte nicht immer der Bessere sein. Zumindest bilde ich mir das so ein. Außerdem: Wenn schon das Hirn belasten, dann für Denken, Schreiben, Handeln. Beim Spielen muss der Kopf sich lüften, darf nicht auch noch brummen.

Freilich sollte man ein Kartenspiel entwerfen, wo sich diese bürgerlich-adeligen Welten noch deutlicher auflösen. Ich versuche mich gerade an einer solchen Variante. Eingefallen ist es mir wie so vieles beim Joggen; und zwar am 13. Juli 2007. Ein Jahr ging das ganz gut, seither jedoch stockt es. Der Anspruch besteht darin, ein Spiel zu konstruieren, das einerseits mit der Tradition verbunden ist und mit obligaten 36 Karten auch gespielt werden kann (wenngleich ich mir ein neues Blatt vorstelle), andererseits aber die alten Hierarchien weitgehend entzaubert sind. Auch die Ansagerei, die ja eine Kampferklärung ist, muss in die absolute Übertreibung gesteigert werden, den letzten Bierernst verlieren, Spielmöglichkeiten und Spielzüge haben sich zu multiplizieren. Ich bin ein verspieltes Kind.

Gerne sehe ich mich auf einer Terrasse sitzen und Karten spielen. Dazu Wein, Bier, Schnaps und dann leicht beschwipst ins Bett fallen. Nicht täglich, aber mindestens wöchentlich. Alkohol mag ich. Sehr? Sehr! Der Geschmack, der Geruch, die Leichtigkeit des Rausches. Jener mundet mir so sehr, dass ich mich extrem davor hüte, Alkoholiker zu werden. Letzteres hieße nämlich, keinen mehr trinken zu dürfen, und das wäre wirklich schade, ein herber Verlust an Lebensqualität. Dafür begebe ich mich sogar jährlich in eine mehrwöchige Totalabstinenz.

Laufen

Gegenden sind zu erlaufen, auch wenn es meist dieselben Gegenden sind. Im Joggen vereinen sich Bewegung und Landschaft in einer selbstgewählten Geschwindigkeit des Läufers. Die Augen laufen mit und auch Ohren und Nase. Bisweilen werde ich langsamer, beginne zu schlendern, gelegentlich bleibe ich stehen oder setze mich ins Gras. Und immer öfter stolpere ich über Schwammerl, die dann ins Sackerl kommen. Alles Gründe, warum es mich wieder stärker aufs Land zieht, vor allem in die Wälder. Der Tag wird besser, wenn ich morgens gelaufen bin. Der Weg durchs Holz wird ja zu Unrecht als Holzweg verspottet. Für mich sind diese Wege Denkwege. Und ich ärgere mich fürchterlich, wenn mir etwas einfällt und dann wieder ausfällt.

Zum Laufen ist in den Jahren noch das Wandern gekommen. Gehen, gehen, gehen, es geht doch. Auch meine Töchter nehme ich (manchmal auch zwangsweise) mit, weil ich mir denke, dass ich kein Recht habe, ihnen den Schneeberg oder die Rax, das Kamptal oder die Blockheide vorzuenthalten. Auch will ich mir in unferner Zukunft nicht vorwerfen lassen, zu wenig mit ihnen unternommen zu haben.

Backen

Backen tue ich für mein Leben gern. Etwa „meinen“ Nußguglhupf. Dazu trinke ich am liebsten kühlen österreichischen Weißwein (Chardonnay oder Riesling) oder auch Kaffee mit Schlagobers. Dann ist da noch der Heidelbeerstrudel aus Germteig, wo nach dem Genuss alle Zähne wurzelbehandelt ausschauen und jeder Plombenrand Konturen gewinnt, wie sie kein Röntgenbild liefern könnte. Mein Tiramisu ist auch nicht zu verachten, zumindest die Meinigen tun das nicht. Wenn ich backe, stellt sich eine selige Zufriedenheit ein, die ich nicht missen möchte, ebensowenig die Kinder, die sich (freiwillig) auf die frischen Mehlspeisen stürzen.

Musik

Musik muss immer sein. Und wenn es live nicht geht, dann eben aus der Konserve. Was wäre das Leben ohne Surrogate? Aber echt ist echt besser: Zu Hause, im Konzerthaus oder in der Oper, aber auch in der Arena oder im Flex. Und neben T. im Saal zu sitzen, kann die Freude noch verdoppeln. Kann. Im Nebenzimmer spielt meine Tochter gerade Chopin. Ihr Klavierspiel wärmt mein Herz, ebenso wenn ihre Cello spielende ältere Schwester sich einige Räume weiter an Faurés „Elegie“ erprobt. Meine Gitarre habe ich leider schon viele Jahre nicht mehr angerührt.

Dichtung

Nichts kann so peinlich sein wie ein schlechtes Gedicht. Gelungene sind eine Rarität. Lyrik ist die dichteste und zugleich offenste Formgebung der Sprache. Ich probe. Indes nach Ingeborg Bachmanns „Keine Delikatessen“ (1963), was soll eins sich da noch trauen? Und ins Dramatische zieht’s mich dank Maren Rahmanns Anstoß („Marie übt Anarchie“) auch. Zur Zeit schreibe ich gerade an einem neuen Stück. Es geht voran, auch wenn es dauert. Hin und wieder erlebe ich in und mit den Texten Augenblicke der Erfüllung. Es ist Selbstbefriedung und Weltbeglückung. Ersteres weiß ich, letzteres hoffe ich.

Zeiten

Meine Zeit konnte meinen Vorlieben nie standhalten: ich habe zu wenig geschlafen, zu wenig geträumt, zu wenig geliebt, zu wenig getrunken, zu wenig verkostet, zu wenig gelesen, zu wenig mit meinen Kindern gespielt, zu wenig musiziert, zu wenig Holz gemacht, zu wenig Freundinnen und Freunde getroffen. Alles war zu wenig. Kegel scheiben war ich auch schon lange nicht mehr, oder Billard spielen. Und wann bin ich zuletzt an einem Flipper gestanden? Vor allem bin ich viel zu wenig kindisch gewesen. Mein Potenzial ist weit größer als meine realisierten Wenigkeiten.

Es liegt nicht an mir, sondern an meinen Dispositionen, die gar manches verunmöglichen. Dieses Zuwenig korrespondiert stets mit einem Zuviel an Unliebsamem. Einerseits gibt es natürlich Notwendigkeiten, denen man nicht ausweichen kann, ja darf (z.B. Haushaltstätigkeiten, Erziehungsaufgaben), andererseits hat aber die Welt des Geschäftes tausenderlei an Betriebsamkeiten erfunden, die an sich völlig unnütz sind, denen wir aber andauernd ausgeliefert sind. Die bürgerliche Gesellschaft ist so eine große Zeitraubmaschine. Gutes Leben ist jedenfalls etwas anderes als die Verwertung der Zeit.

Gar vieles, was ich erledigen musste, war von meinen Wünschen her betrachtet, völlig daneben: das Geld verdienen, dem Geld nachlaufen, Steuererklärungen vorbereiten, Behördenbriefe schreiben, marodierende Hausherren bekämpfen, der Großteil der Schulzeit. Ich will gar nicht länger nachdenken, sonst wird mir schlecht. Hier wurden Jahre meines Lebens vergeudet und ich fürchte bei den meisten anderen noch viel mehr. Alleine, dass ich mit Geld verkehren muss, halte ich für eine Zumutung sondergleichen. Da gewinnt man kein Leben, sondern sichert nur Überleben. Doch die nur überleben, sind nicht die Überlebenden, sondern die Überlebten. Vorleichen. Der Kapitalismus ist der Zuchtmeister des ausgehöhlten Lebens, eine Demütigung aller Individuen. Leben aber hat lebendig zu sein und gutes Leben noch lebendiger.

WirklICHkeit

Meine wirkliche Zeit ist das verbleibende Mosaik, das Termine und Fristen übrig lassen. Trotzdem leiste ich mir einigen Luxus: nie Karriere gemacht zu haben, drei bis fünf Kinder zu haben und die verdinglichte Zeit selbst kontrollieren zu dürfen. Befreiend empfinde ich auch, nichts werden zu müssen, mich aufzuhalten jenseits von Berufen, die das falsche Leben einem doch mitunter bieten oder besser: aufdrängen möchte. Ich berufe mich selbst. Nur Leute, die meinen, nichts zu sein, müssen etwas werden. Ich habe viel gesorgt, aber nie vorgesorgt. Wäre ich deswegen in Sorgen, würde ich mir allerdings ernste Sorgen um mich machen.

„Man darf nicht aufhören, sich permanent anzupassen“, lese ich im Karriere-Standard über dem Bild einer obligat gestylten Business-Lady. Derlei Botschaften lösen nicht Neid aus, sondern Trauer. Ansteht das Gegenteil, und das in aller Konsequenz. Nicht erst heute, sondern schon gestern und morgen erst recht: Man muss aufhören, sich permanent anzupassen, ganz kategorisch. Diese Anpassung ist Kapitulation, die das Leben durchstreicht, es nur als abhängige Funktion von etwas anderem gelten lässt. „In dem Moment, in dem die Gesellschaft entdeckt, dass sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich von ihr ab. Diese unterirdische Macht, die wuchs, bis sie souverän erschien, hat auch ihre Macht verloren. Wo wirtschaftliches Es war, muss Ich werden.“ (Guy Debord, Gesellschaft des Spektakels. Aus dem Französischen von Jean-Jacques Raspaud, §52.)

Scheitern ist nicht das Schlimmste. Noch schlimmer ist es, nicht einmal gescheitert zu sein, sich einer obligaten wie blinden Illusionslosigkeit hinzugeben. Abgeklärt. Verbiedert. Verhärmt. Unlustig. Grantig. All das kann ich schon auch sein, aber all das bin ich dezidiert nicht. Dabei ist es auch hilfreich, oftmals kontrafaktisch optimistisch zu sein. Wer es ohne probiert, landet früher oder später im Zynismus. Zweifellos enthält dieses Begehren eine hochfiktive Komponente. Die gilt es auch als solche zu benennen. Mir erscheint sie unerlässlich.

Lebensphilosophie?

In schlägigen Kreisen der Linken werde ich manchmal der Lebensphilosophie bezichtigt. Da ist was dran. Freilich frage ich mich, worin der Vorwurf denn nun liegen mag, oder gar, was die Alternative dazu ist: Eine Todesphilosophie? Nicht wenige kritische Geister kommen recht oft in deren unmittelbare Nähe und schwärzen sich in Unlust bis zur Ungenießbarkeit. Tatsächlich gibt es in der radikalen Linken ein mächtig-ohnmächtiges religiöses Jenseitsgetue, das eine andere Welt nur anderswo ausmachen will und sich daher ganz der Verkündigung esoterischer Weisheiten verschrieben hat. Doch der Bruch ist mehr als eine Zäsur, er ist eine permanente Herausforderung sowohl des Handelns als auch des Denkens. Es ist nicht so, dass jetzt gar nichts mehr geht und morgen alles…

Selbstverständlich vertreten wir eine Philosophie des Lebens und der Liebe: „Leute, die über Revolution reden, ohne sich ausdrücklich auf das alltägliche Leben zu beziehen, ohne zu verstehen, was an der Liebe subversiv und was positiv im Zurückweisen von Zwängen ist, sind die besten Wächter der alten Welt“, plagiiert plagiat#3.

Emanzipation!

Der junge Marx schrieb: „Das Gemeinwesen aber, von welchem der Arbeiter isoliert ist, ist ein Gemeinwesen von ganz andrer Realität und ganz andrem Umfang als das politische Gemeinwesen. Dies Gemeinwesen, von welchem ihn seine eigene Arbeit trennt, ist das Leben selbst, das physische und geistige Leben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche Tätigkeit, der menschliche Genuss, das menschliche Wesen. Das menschliche Wesen ist das wahre Gemeinwesen der Menschen.“ (MEW 1:408)

Emanzipation besteht darin, das Leben selbst zu gewinnen, es in die Hände zu bekommen. In ihm auch zu Hause sein zu können, es zu gestalten und zu genießen. Und das ist durchaus eine alltägliche Aufgabe, keine jenseitige. Das gute Leben ist nicht dieses, es ist aber auch nicht bloß jenseits von diesem. Es geht um die stete Zurückdrängung der allgemeinen Freudlosigkeit, um die Entfaltung von Lust und Fröhlichkeit. Um Lebendigkeit.

Ich bin gern heiter, doch sich nüchtern in die Heiterkeit zu versetzen, das ist nicht ganz leicht, am leichtesten noch durch die Liebe in ihrer ganzen Varianz. Dazu hätte ich wohl einiges zu sagen, und zu T. ebenfalls, doch traue ich mich nicht. Zumindest hier und jetzt nicht, an dieser Stelle, wo der Artikel auch schon aufhört.