Vorsicht, Zitat von Einstein
Streifzüge 48/2010
von Severin Heilmann
„Our separation from each other is an optical illusion of consciousness“ – klingt vorderhand völlig verrückt, oder? Aber mir gefiel es. Zunächst wahrscheinlich deswegen, weil es mit einer Realität aufräumte, mit der ich im Grunde nie viel hab anfangen können: Jene des vereinzelten Einzelnen, des Subjekts, das sich, teils tragisch teils komisch, irgendwie durchfrettet – wenig attraktiv. Andererseits behagten mir die Institutionen des sozialisierenden Zwangskollektivismus, wie die Schule damals oder die Pfadfinder, auch nicht so recht und ich schätzte drum bereits als Kind die Zurückgezogenheit.
Der Vorzug vom Rückzug besteht zweifellos darin, sich in der perspektivlosen Unvereinbarkeit zwischen sozialem Autismus und Pseudoindividualismus auf der einen Seite und der Vereinnahmung als soziales, staatenbildendes Insekt auf der andern identitär nicht unnötig verschleißen zu müssen; wie ich überhaupt eine grundsätzliche Abneigung gegen alle Arten freudloser Anstrengungen empfinde, worunter auch die mühsame Herausbildung einer Identität mittels Identifikation fällt.
Ich hielt mich also zurück und wartete ab und beobachtete. Zwar weiß man dabei nie genau wer man selbst ist, man bildet sich deshalb aber noch lang nicht ein, zu wissen, wer die andern sind. Das verunsichert zwar, doch eröffnet derartige Erwartungslosigkeit Möglichkeiten. Möglichkeiten etwa, sich selbst wie auch andere stets neu kennen zu lernen. Vielleicht hat Einstein ja das gemeint, dass die Wirklichkeit unseres Daseins nicht so sehr jener von stabilen Teilchen entspricht als viel eher den Möglichkeitsfunktionen interferierender Wellen, die per se nicht abgrenzbar, nicht trennbar sind.
Der Unberechenbarkeit einer Möglichkeitswelt ist auch das sog. Chaospendel ausgesetzt, auf dessen Arm weitere Pendel gehängt sind und dessen man sich gern zur Veranschaulichung komplexer chaotischer Vorgänge, wie sie für alles Leben charakteristisch sind, bedient. Seine Bewegungen lassen sich nicht vorhersagen, sie sind nichtlinear. Es gerät nämlich zuweilen an einen Schwebepunkt, in dem die Gesetzmäßigkeiten der klassischen Mechanik außer Kraft treten. Die Richtung, in die es kippen wird, ist in diesem hochsensiblen und instabilen Zustand u. U. von einer einzigen zufälligen Quantenfluktuation abhängig – an dieser Stelle, in diesem entscheidenden Moment nimmt das Pendel den ganzen Kosmos wahr: Größte Instabilität als Bedingung höchster Sensibilität.
Hingegen schätzt man auf unserm Planeten scheint’s Stabilität und Sicherheit – keine Freunde der Freiheit sind das. Schade, denn ebenso wie die statische Instabilität eines laufenden Beins durch Zuhilfenahme eines zweiten sich dynamisch stabilisieren lässt, könnten wir auch zueinander sein. Wir könnten uns in Freiheit verbunden fühlen, nicht in Abhängigkeiten gefangen.
Dann hören die andern auf, die Hölle zu sein, denn ich habe sie dazu gemacht anstatt in ihnen den potentiellen Freund zu sehen. Unsere Verschiedenheit akzeptieren und unsere je in uns angelegte Einzigartigkeit schätzen – da kann, glaub ich, nicht viel daneben gehen.
Die erste Begegnung mit einem, wie sich in der Folge herausstellen sollte, langjährigen Freund, hatte ich an einem ersten Schultag kurz nachdem ich beim Hinsetzen in die instabile und irreversible Phase überging und er mir versehentlich, wie er später beteuerte, den Sessel wegzog. Man kann also nie wissen, was alles möglich ist oder wird. Aus heutiger Sicht erscheint mir die geringste Feindseligkeit ihm gegenüber, die ich damals sicher empfand, völlig absurd. Wie absurd ist es also, überhaupt Feinde haben zu können? Schwer zu sagen.
Wenn unsere Trennung nur eine illusorische ist, dann zählt Freundschaft aber sicher zum Besten was uns diese scheinbare Trennung zu bieten hat und es ist allemal schöner, angenehmer und befruchtender sich unter Freunden zu wähnen als sich mit Scheingegnern herumzuschlagen.