Reiz des Reisens
Streifzüge 50/2010
von Sonja Gansberger
Wenn wir uns mit der Geschichte des Reisens beschäftigen, dann finden wir hier vielleicht den Ursprung, die Entwicklungsgeschichte und die Struktur unseres Wissens, die für unsere heutige mobile Gesellschaft charakteristisch sind. (…) Mobilität ist die früheste, prähistorische „conditio humana“; (…) wenn wir unsere Gegenwart verstehen wollen, dann müssen wir verstehen, welche Funktion die Mobilität in der Geschichte hatte: Sie war eine immer auf Veränderung gerichtete Kraft, die Persönlichkeiten, soziale und kulturelle Landschaften verändert (…). (Leed 1993: 18)
Dem Reisen liegt oft die Motivation der Aneignung des Exotischen, des Fremden, oder die Lust, sich mit anderen Landschaften, Kulturen, Zivilisationen auseinanderzusetzen, zugrunde.
Reiseerfahrung hat in erster Linie mit der räumlichen Veränderung zu tun, der/die Reisende löst sich aus seinem/ihrem gewohnten Lebensumfeld und liefert sich dem Unbekannten, der ebenso bedrohlichen wie faszinierenden Fremde, aus.
Dieses Gefühl der Faszination und Unbekanntheit, wenn nicht sogar Bedrohlichkeit, übertrug sich in früheren Zeiten oft auch auf die Reisenden selbst, denn nicht nur in der Fremde begegnete man dem Fremden mit Neugier, auch die Heimgekehrten wurden mit anderen Augen gesehen. Man erwartete sich von diesen zu welterfahrenen gereiften, routinierten Menschen besondere Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie sich in der Fremde erworben hatten und die sie in ihrer Heimat aus der Masse herausheben und zu Ratgebern in fremden, ungewohnten Situationen machen würden. Die Bereicherung der individuellen Erfahrung des Gereisten in der Fremde gereicht auch den Zuhausegebliebenen zum Vorteil.
„Wir sind viele – und einander ewig fremd“
Für moderne TouristInnen ist das „Risiko“, durch neue Erkenntnisse im Zusammentreffen mit fremden Kulturen das eigene Weltbild verändern zu müssen, minimal. Was vor einigen Dekaden den Wert des Reisens als Weg zu einer tieferen Selbstwahrnehmung ausmachte und die eigene Identität am tiefsten prägte, wird heute aus den verschiedensten Gründen oft bewusst vermieden: In der fremden Umgebung neue kulturelle Praktiken zu erkennen und anzuerkennen, die offene Konfrontation und Kommunikation mit der Bevölkerung des bereisten Landes zu suchen, und vor allem seine aus der eigenen Kultur übernommenen Überzeugungen und Vorstellungen zu überdenken. Dies könnte der Gewinn jeder Reise sein, damit die Textzeile „Wir sind viele – und einander ewig fremd“ des Songs „Wir sind Viele“ auffindbar im Album „Kapitulation“ der Band Tocotronic nicht immerwährende Wirklichkeit bleiben muss.
In der heutigen Zeit bieten Urlaubs- und Erholungsreisen nur bedingt Möglichkeiten für einen authentischen Erlebnis- und Erfahrungsraum. Diese Veränderung des Reisens von der Bildung zum Konsum wirft viele Fragen auf.
Wie viel lässt sich im Zuge einer von Reiseexperten geplanten Reise tatsächlich vom Fremden kennenlernen? Wie stark kann man sich auf die kulturellen, gesellschaftlichen Verhältnisse während eines meist auf wenige Tage/Wochen begrenzten Aufenthaltes überhaupt einlassen? Und bringt man wirklich für diese Lern- und Beziehungsarbeit während eines „Erholungsurlaubes“ die nötige Energie auf? Haben sich die Intentionen der Reisenden geändert, steht nicht mehr die bewusste Auseinandersetzung mit dem Ungewohnten, Fremden und die dadurch möglicherweise Veränderung/Weiterentwicklung der eigenen Identität, sondern das „Sammeln“ von Destinationen und dazugehörigen Devotionalien im Vordergrund?
Backpacking – Reisen als Ausbildung
Oft wird der Individualtourismus als die wahre, der bereisten Kultur am aufmerksamsten gegenübertretende Variante gesehen. Individuelles Reisen hat allerdings viele Ausprägungen und ist keine Garantie für bewusstes, nicht konsumorientiertes Reisen, sondern fungiert allzu oft als Vorreiter des Massentourismus. Die ersten Wohnwagen- oder Tramper-IndividualistInnen erlebten subjektiv noch Pionierverhältnisse, sie gaben aber Muster vor, die Tausenden anderen zum Bedürfnis wurden.
Der Rucksacktourismus (Backpacking) ist eine Variante des Individualtourismus. Der Ausgangspunkt dieser Praxis liegt in den gesellschaftskritischen Jugendbewegungen der westlichen Welt in den 1960er Jahren, als erstmals massenhaft junge Menschen nach Asien reisten und den sogenannten Hippie Trail (die Reiserouten der Hippies in den 1960er und 1970er Jahren von Europa über Land nach Südostasien) begründeten. Auch wenn er in der damaligen Form nicht mehr existiert und sich die AkteurInnen und die Form des Backpacking verändert haben, wird die heutige Variante ideologisch immer noch, sowohl von den Reisenden selbst als auch in der Außenwahrnehmung, auf diese Zeit zurückbezogen.
Moderne Uniformierung der Reisedestinationen (Hotels, Flughäfen, Verkehrsmittel, Verpflegung, Unterkünfte) macht auch vor Backpackern nicht halt, wird von diesen in gewissen Bereichen sogar erwünscht bzw. bevorzugt. Diese logistischen Knotenpunkte werden als Anknüpfungspunkte an Traveller-Netzwerke genützt, und um ihre Reiserepräsentationen via diverse Online-Plattformen (wie Facebook, Myspace, StudiVZ, Twitter usw.) zu verbreiten und zu aktualisieren. Nach der Rückkehr werden diese in weiterer Folge zu Bausteinen der neuen, welterfahrenen Identität.
Auf Reisen erworbenes Wissen wird dezidiert als Wissen über globale Zusammenhänge betrachtet und durch die Nutzung digitaler Medien von Backpackern global verteilt und re-produziert.
Die in der Studie aus dem Jahr 2005 von Jana Binder dazu befragten Backpacker nennen Eigenschaften wie Offenheit, Kommunikationsfreudigkeit, Selbstständigkeit und Entschlossenheit als Mehrwert und Nutzen, den sie für ihre Zukunft erworben haben und von dem sie nach ihrer Rückkehr „profitieren“ werden. Sie setzen die Fähigkeiten gleich mit Schlüsselqualifikationen für die Positionierung in spätmodernen Gesellschaften und Ökonomien wie Interaktionskompetenz, Flexibilität, Fokussierung und Rationalisierung von Problemen. Die ursprünglich als hedonistisch eingestufte Praxis des Backpackings wird nunmehr „intellektualisiert“ oder professionalisiert. Backpacking gilt offensichtlich als Teil der Ausbildung – für das Leben und als Surplus für den Berufseinstieg. Reisen und Karriere behindern sich nicht gegenseitig, auch längere Reisen stellen keine „Lücken“ im Lebenslauf dar bzw. lassen sich sogar positiv in die (Erfolgs-)Biographie einfügen. Die Reise dient der Profilierung der eigenen Arbeitskraft im westlichen Kapitalismus, nicht der produktiven Befremdung zur Anregung der Reflexion über die Relativität und Historizität der eigenen Kultur. Vielmehr wird das Bereiste bewusst in der Schublade des Exotischen gelassen, um das Eigene nach der Heimkehr bestärkt im Beruf auszuleben.
Schon die Grand Tour, die im 17. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte, diente den jungen Adeligen und dem privilegierten Bürgertum zur Vertiefung der Bildung und zur Horizonterweiterung. Die Reise stellte ursprünglich den Abschluss der Erziehung dar und sollte der Bildung der Reisenden den „letzten Schliff“ geben, indem sie Kultur und Sitten fremder Länder kennenlernen, neue Eindrücke sammeln und für das weitere Leben nützliche Kontakte knüpfen.
Die Praxis des Backpacking ist möglicherweise als die zeitgenössische, kulturelle und soziale Entwicklung dieser Tradition zu sehen. Menschen kommen weit herum, aber kommen sie dadurch auch weiter? Nicht beruflich, sondern menschlich. Denn eine Frage ist: Wozu sammeln sie Eindrücke; und eine weitere wäre: Warum sollen diese Erfahrungen überhaupt einem bestimmten Zweck dienen?
Literatur
Binder, Jana (2005): Globality – Eine Ethnographie über Backpacker, Münster.
Leed, Eric J. (1993): Die Erfahrung der Ferne – Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage, Frankfurt am Main.