Krise und staatliche Transformation
Streifzüge 49/2010
von Joachim Hirsch
Glaubt man den PolitikerInnen und ExpertInnen, so dauert die große Krise zwar noch an, aber man habe die Wirtschaft doch wieder im Griff. War also alles gar nicht so schlimm oder ist zumindest das Schlimmste überstanden? Wohl nicht, denn gleichzeitig wird die Bevölkerung auf zukünftige schwere Lasten eingestimmt. Diese werden in der Tat enorm sein und sich auf lange Zeit erstrecken. Von einem neuen Aufschwung kann jedenfalls kaum die Rede sein, viele Banken sind nach wie vor de facto pleite und auch Staatsbankrotte sind inzwischen nicht mehr ausgeschlossen. Selbst der als Hort der Stabilität gepriesene Euro wackelt und das Scheitern der Europäischen Währungsunion würde den ökonomischen GAU bedeuten. Was aber schwerer wiegt: Sowohl Unternehmen wie Regierungen führen genau die Politik weiter, die zu dem Debakel geführt hat.
Krise und Krisenpolitik
Von den ökonomischen Daten her handelt es sich bei der 2008 ausgebrochenen Krise um die schwerste seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie als „Finanzkrise“ zu bezeichnen war und ist Schönfärberei, die glauben machen will, es handle sich um eine Art Unfall, der durch bessere Regulierung hätte vermieden werden können, oder sie sei dem verantwortungslosen Handeln einiger gewissenloser Finanzjongleure zu verdanken. In Wirklichkeit handelt es sich um eine klassische kapitalistische Großkrise, wie sie regelmäßig alle Jahrzehnte vorkommt. Es ist eine Überakkumulationskrise, die ihre spezifischen Wurzeln in der Struktur des neoliberal restrukturierten Kapitalismus hat.
Die neoliberale Globalisierungsstrategie hat dazu geführt, dass die Einkommensverteilung weltweit immer ungleicher wurde, die Profite explodierten und sich das Rationalisierungstempo beschleunigte. Angesichts der damit verbundenen Konsumschwäche wurden die Möglichkeiten für profitable Investitionen im produktiven Sektor geringer. Neben der für den Shareholder-Kapitalismus charakteristischen Orientierung der Unternehmen auf kurzfristige Gewinnmaximierung war dies der Grund dafür, dass die enorm gestiegenen Profite zunehmend in die Finanzspekulation flossen. Vor allem die immense innere wie äußere Verschuldung der USA wirkte wie ein globales keynesianisches Deficitspending und die damit erzeugte Finanzblase konnte die kritische ökonomische Situation eine Zeit lang verdecken.
Irgendwann musste diese Blase aber platzen. Im Herbst 2008 war das der Fall. Ein Unterschied zur Krise der dreißiger Jahre liegt in den staatlichen Reaktionen. Rettungsmaßnahmen für „systemrelevante“ Unternehmen und Konjunkturprogramme bewirkten, dass die Krise durch die staatliche Politik nicht noch weiter verschärft wurde wie damals. Angesichts der dadurch erzeugten öffentlichen Verschuldung kann diese Form der Katastrophenhilfe indessen nicht unbeschränkt fortgesetzt werden. Nicht zuletzt entfaltet die Krise auf diese Weise keine „reinigenden“ Wirkungen. D.h. dringend notwendige Strukturanpassungen unterbleiben. Ein Beispiel dafür ist in Deutschland die Abwrackprämie für Altautos, die an den strukturellen Überkapazitäten der Automobilindustrie nichts ändert. Größere Firmenzusammenbrüche wurden durch Staatseingriffe zwar vermieden und damit auch die Eigentümer geschont, doch gleichzeitig wird die Krise damit sozusagen auf Dauer gestellt und zeigt ihre ökonomisch und vor allem sozial desaströsen Wirkungen erst allmählich.
Die herrschende Politik ist dadurch charakterisiert, dass
· ernsthafte Ansätze zu der als dringend erachteten Re-Regulierung des internationalen Finanzsystems kaum vorhanden sind und die eingeleiteten Maßnahmen bestenfalls symbolische Qualität haben. Eine wirkliche Regulierung widerspräche den Interessen des international dominierenden kapitalistischen Machtblocks, der den Regierungen seine Bedingungen diktiert,
· eine gewaltige Staatsverschuldung angehäuft wird, die auf lange Sicht zu Lasten der Steuern, Abgaben und Gebühren zahlenden Masse der kleinen Leute geht. Oder das im Rahmen der Antikrisenprogramme in die Wirtschaft gepumpte Geld führt zu einer Inflation, die zwar eine Rückzahlung der Schulden erleichtert, aber ansonsten denselben Effekt hat.
Die Ungleichheit der Einkommensverteilung wird dadurch weiter vorangetrieben, also gerade die Entwicklung verschärft, die zur aktuellen Krise geführt hat. Hinzu kommt die absehbar weitere Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Infrastruktur im Gefolge der nun anstehenden Sparpolitik.
Es ist einigermaßen überraschend, dass größere soziale Proteste angesichts dieser Zumutungen und des offensichtlichen Versagens des Wirtschaftssystems bisher weitgehend ausgeblieben sind. Während sich die Unternehmer noch mit gewissen Legitimationsproblemen herumschlagen, können sich die Regierungen, die mit ihrer neoliberalen Deregulierungspolitik das Debakel mit zu verantworten haben, als Retter darstellen. Über die Gründe für den ausbleibenden Widerstand kann man nur spekulieren. Wird immer noch darauf vertraut, dass es die politisch Herrschenden doch irgendwie richten werden? Lähmt die Angst vor der immer unsicherer werdenden Zukunft? Sind soziale Zersplitterung und Vereinzelung inzwischen so weit vorangeschritten, dass kollektive Aktionen jenseits der folgenlosen Stimmabgabe bei Wahlen unwahrscheinlich geworden sind? Oder kann man sich einfach keine besseren Verhältnisse mehr vorstellen und hofft, trotz der gesellschaftlichen Misere privat irgendwie durchzukommen?
Jedenfalls macht es diese Situation möglich, dass das business as usual weitergeht. Das heißt, die Politik, die zur Krise des neoliberalen Kapitalismus geführt hat, wird im Grundsatz nicht verändert. Ein Beispiel dafür ist das von der deutschen Bundesregierung im herrschenden Neusprech so genannte „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“, das die Reichen begünstigt, spätere Steuer- und Gebührenerhöhungen für die Masse der Leute nach sich ziehen wird und damit genau das Gegenteil von dem bewirkt, was es angeblich soll.
Gleichwohl bedeutet die aktuelle Weltwirtschaftskrise wohl eine erneute säkulare Wende in Bezug auf die Gestalt des Kapitalismus, ähnlich wie sie schon beim Übergang vom fordistischen Nachkriegskapitalismus zum neoliberal-marktradikalen Postfordismus im Gefolge der Krise der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu verzeichnen war. Einiges deutet darauf hin, dass der extrem marktradikale durch einen wieder stärker staatlich gemanagten Kapitalismus ersetzt wird, bei dem jedoch nach wie vor die unternehmerischen Profitinteressen absolute politische Priorität haben.
Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Verschiebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zugunsten des Kapitals gerade durch die Krise weiter geht. Der Monopolisierungsprozess verstärkt sich, die Verflechtungen von Kapital und Staat werden noch direkter und enger. Wir könnten es also mit einer neuen Variante des Staatsmonopolkapitalismus zu tun bekommen, der zugleich dazu dient, das neoliberale Programm in modifizierter Form und möglicherweise noch nachhaltiger durchzusetzen. Insgesamt bedeutet dies einen weiteren Schritt hin zu dem, was Poulantzas als „Autoritären Etatismus“ bezeichnet hat, das heißt zu einem erweiterten Staatsinterventionismus im unmittelbaren Interesse des Kapitals bei gleichzeitig fortschreitender Entdemokratisierung. Die schon länger anhaltende Krise der liberalen Demokratie und der Repräsentation wird sich so vertiefen.
Was tun?
Zunächst einmal muss realisiert werden, dass trotz des ökonomischen Debakels die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus noch ungebrochen ist. Dies nicht nur, weil sie sich inzwischen bis in die kleinsten Verästelungen alltäglichen Denkens und Verhaltens durchgesetzt hat und weil die massenmediale Industrie- und Propaganda-Apparatur ungehindert weiter wirkt. Wichtiger noch ist, dass nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und dem Debakel der Sozialdemokratie keine politischen Alternativen mehr sichtbar zu sein scheinen. Dazu kommt eine Krise der Demokratie, also der fehlende Glaube, im Rahmen liberaldemokratischer Institutionen überhaupt noch etwas verändern zu können.
Angesichts dieser Situation gewinnt der Kampf um Hegemonie, um die Deutungshoheit für gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen eine zentrale Bedeutung. Unter Hegemonie versteht man die allgemein verbreiteten, über Klassengrenzen hinweg akzeptierten und institutionell abgesicherten Vorstellungen von einer guten und vernünftigen Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft. Die neoliberale Hegemonie wurde nach der Krise des Fordismus und im Zuge der Globalisierungsoffensive seit den achtziger Jahren erfolgreich durchgesetzt. Sie ist immer noch mächtig und bestimmt wesentlich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Handlungspotentiale. Daher geht es vor allem um den Kampf gegen diese und nicht so sehr um einzelne Reparaturen und Veränderungen am bestehenden System. Dieser Kampf kann sich nicht in Kritik erschöpfen, sondern bedarf der Entwicklung alternativer Konzepte, eines gegenhegemonialen Projekts. Es geht darum, die Perspektiven einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Die Bedingungen dafür sind gar nicht so schlecht. Durch die Krise und ihre Folgen hat die neoliberale Hegemonie einen Schlag abbekommen, der noch länger nachwirken wird und von dem sie sich nicht unbedingt wieder erholen muss, zumal das ökonomische Debakel keinesfalls zu Ende ist und seine Folgen erst allmählich sichtbar werden. Wichtig ist vor allem, dass durch diese Entwicklung das Wirtschaftssystem selbst wieder zur Debatte gestellt worden ist. Dass es sich beim Kapitalismus um die beste aller Welten handle, ist nicht mehr selbstverständlich.
Die Frage ist allerdings, wie und von wem ein gegenhegemoniales Projekt entworfen und durchgesetzt werden könnte. Dies ist nicht ganz einfach zu beantworten, vor allem wenn man die bestehenden politischen Konstellationen betrachtet. Dabei fällt auf, dass der neoliberalen ideologischen Hegemonie auf Seiten der (Rest-)Linken ein eigentümlicher Konservatismus entgegen steht, ein Konservatismus, der darin zum Ausdruck kommt, sich politisch und gesellschaftlich an den vermeintlich besseren Verhältnissen des fordistischen Nachkriegskapitalismus zu orientieren, das heißt an der Phase einer noch halbwegs intakten Arbeits- und Wachstumsgesellschaft.
Dies ungeachtet der Tatsache, dass der Fordismus selbst ein krisenhaftes und gesellschaftlich diskriminierendes System war und dass er seine Durchsetzung historisch einmaligen sozialen Kräfteverhältnissen auf nationaler wie internationaler Ebene – nicht zuletzt der Niederwerfung des Faschismus und der Systemkonkurrenz des kalten Krieges – verdankt hatte. Der scheinbar „zivilisierte“ und „soziale“ Nachkriegskapitalismus war daher das Produkt einer historisch einmaligen Situation, und was wir derzeit erleben, ist weniger eine Abweichung von, sondern eher die Rückkehr zur Normalität dieses Gesellschaftssystems. Beim Blick nach rückwärts wird oft auch unterschlagen, dass der Fordismus auf der rücksichtslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruhte und schon deshalb kein tragfähiges Modell für die Zukunft darstellt. Ebenso besteht die Arbeitsgesellschaft traditionellen Musters infolge der immer rascher voranschreitenden Rationalisierungsprozesse längst nicht mehr, und gesellschaftliche Ungleichheiten und die Verschiedenheit der sozialen Lagen sind erheblich gewachsen. Aus vielen Gründen ist die Vorstellung einer Rückkehr zu vermeintlich besseren Zeiten des Kapitalismus deshalb illusorisch.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auf kurze Sicht ist es sicher nicht falsch, auf traditionelle keynesianische Instrumente zu setzen, also insbesondere auf Lohnerhöhungen und Konjunkturprogramme. Letztere zumindest sofern sie nicht nur wirkungslose Klientelbedienung darstellen und auf eine nachhaltige Veränderung der ökonomischen Strukturen zielen.
Arbeitszeitverkürzungen wären ebenso dringend notwendig wie flächendeckende Mindestlöhne. Wenn eine solche Politik Erfolg haben sollte – was angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse allerdings fraglich ist – bedeutete dies jedoch zugleich die Stabilisierung eines Gesellschaftsmodells, das keine Zukunft hat und das nicht nur ökonomisch höchst krisenhaft ist. Dies ist auch ein zentraler Einwand gegen die Vorstellung eines neuen und „grünen“ „New Deal“, der auf neue Technologien und „ökologisches“ Wachstum ohne grundlegendere gesellschaftliche Veränderungen setzt.
Im Zentrum einer emanzipativen Politik muss deshalb das Bemühen stehen, grundsätzlich andere Formen der Vergesellschaftung theoretisch wie praktisch anzuvisieren. Es geht dabei nicht um revolutionäre Strategien im traditionellen Sinne und auch nicht um die Verwirklichung fertiger Gesellschaftsmodelle. Vergesellschaftung meint einen sehr komplexen Zusammenhang, der Konsummuster und Lebensweisen, die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Geschlechterverhältnisse und den Umgang mit der Natur umfasst. Was anstünde, wäre nicht so sehr eine politische, sondern eine gesellschaftliche und kulturelle Revolution, in der sich die herrschenden Vorstellungen von einem guten und vernünftigen Leben verändern. Die heute bestehenden Lebensweisen sind weder längerfristig haltbar noch unbedingt wünschenswert. Man denke dabei nur an den sich immer destruktiver äußernden Zirkel von Leistung, Arbeit und Konsum.
Dabei sind vor allem folgende Ansatzpunkte wichtig
(1) Die Entkoppelung der sozialen Sicherung im Sinne der Gewährleistung humaner Lebensverhältnisse von der Lohnarbeit. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Dazu gehört die fortschreitende Vervielfältigung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, die zwar einerseits Folge einer Klassenpolitik ist, teilweise jedoch auch den Bedürfnissen nach flexibleren Arbeitsformen entgegenkommt. Des Weiteren die Folgen einer beschleunigten technischen Rationalisierung, wodurch Vollbeschäftigung im herkömmlichen Sinn kaum noch erreichbar sein wird. Schon dadurch verliert das Normallohnarbeitsverhältnis an Rückhalt (wobei noch zu berücksichtigen ist, dass selbst in den Hochzeiten des Fordismus nur eine Minderheit der Arbeitenden in den Genuss gutbezahlter und gesicherter Arbeitsplätze gekommen war).
Zu berücksichtigen ist auch, dass es viele gesellschaftlich notwendige und nützliche Arbeiten gibt, die nicht in Lohnarbeitsform erbracht werden (können). Es gilt auch zu realisieren, dass ein wesentlicher Teil der Lohnarbeit nutzlosen Zwecken dient und oft zerstörerische Wirkungen hat. Insgesamt wird in einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft der Zusammenhang zwischen Entlohnung und Leistung immer undeutlicher, und die „Leistungsträger“ können nur funktionieren, weil sie ein vielfältiges (und in der Regel schlecht bezahltes) Hilfspersonal beschäftigen. Stellenwert und Bedingungen gesellschaftlicher Arbeit müssen deshalb neu definiert werden. Im Bereich der Sozialpolitik untermauert dies die Forderung nach einem garantierten und bedingungslosen, aus Steuern finanzierten Grundeinkommen für alle und in einer nicht nur das materielle Existenzminimum, sondern politische und kulturelle Teilhabe sichernden Höhe (was im Übrigen ein ausgezeichnetes Mittel der Konjunkturstabilisierung wäre). Eine dermaßen umfassende soziale Sicherung für alle ist eine wesentliche Voraussetzung für aktive politische Beteiligung und Interessenwahrnehmung und damit Grundbedingung für eine funktionierende Demokratie. Und sie ist angesichts des erreichten Standes der Produktivkräfte möglich.
(2) Der Ausbau des Angebots kostenlos oder zu geringen Gebühren verfügbarer öffentlicher Güter zur Befriedigung der zentralen gesellschaftlichen Grundbedürfnisse, das heißt eine Politik, die sich klar gegen den herrschenden Privatisierungstrend richtet. Entscheidend zu erweitern wäre die soziale Infrastruktur vor allem auf den Gebieten Gesundheit, Bildung, Verkehr, Wohnen und Kultur. Unter Berücksichtigung des erreichten Standes der Produktivkräfte liegt ein zentraler Mangel der bestehenden Wirtschaftsordnung in einer strukturellen Vernachlässigung des kollektiven Konsums, also der Befriedigung von Bedürfnissen, die nicht in Warenform erbracht werden kann. Die gesellschaftliche und technische Entwicklung macht diesen Bereich immer wichtiger. Derzeit gibt es eine strukturelle Fehlleitung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Warenproduktion und zu Lasten des öffentlichen Sektors. Das bewirkt gesellschaftliche Armut im und durch Warenüberfluss. Der Kampf um öffentliche Güter wird in Zukunft einer der wichtigsten politischen Schwer- und Konfliktpunkte sein. Das bedeutet auch, dass die Steuern nicht gesenkt, sondern erhöht werden müssen. Eine technisch weit entwickelte Gesellschaft braucht einen hohen Steueranteil.
(3) Eine Re-Demokratisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Dazu gehört die Einführung plebiszitärer Elemente in die politischen Entscheidungsprozesse, eine politische Kontrolle der wichtigen Unternehmen, was nicht unbedingt deren Verstaatlichung heißen muss, Stärkung der Wirtschaftsdemokratie nicht nur auf betrieblicher, sondern auch auf regionaler und gesamtstaatlicher Ebene (etwa in Form von Wirtschafts- und Sozialräten), Dezentralisierung und Regionalisierung der Wirtschaft sowie die Förderung genossenschaftlicher Produktionsformen und nicht zuletzt eine demokratische Kontrolle und Selbstverwaltung der sozialen Infrastruktur. Eine zentrale Voraussetzung für eine Re-Demokratisierung der Gesellschaft ist die Weiterentwicklung und Stärkung autonomer, von Staat und Parteien unabhängiger Formen politischer Selbstorganisation.
Das heißt, dass es für eine emanzipative Veränderung der Gesellschaft nicht nur einen zentralen Ansatzpunkt gibt, sondern dass diese von mehreren Ebenen und von vielen Bereichen ausgehen müsste. Und natürlich lässt sich das nicht allein auf einzelstaatlicher Ebene verwirklichen. Sie muss sich ebenso auf die politischen Prozesse und Institutionen auf europäischer Ebene beziehen, und vor allem bedarf es einer intensiven und auf Dauer gestellten internationalen Kooperation gesellschaftlich-politischer Bewegungen und Initiativen. Die Entwicklung von Überlegungen, Konzepten und praktischen Ansätzen in diese Richtung ist die zentrale Voraussetzung dafür, die Linke politisch wieder sprachfähig zu machen. Es käme darauf an, erste Schritte zu setzen, Erfahrungen zu sammeln, Möglichkeiten praktisch erlebbar zu machen. Was Not tut, ist ein radikaler Reformismus im Sinne einer schrittweisen Veränderung der grundlegenden Vergesellschaftungsformen. Schrittweise, das heißt „reformistisch“ muss eine solche Politik sein, weil Erfahrungen gemacht und Lernprozesse stattfinden müssen, weil die Konturen einer humaneren und freieren Gesellschaft erst allmählich ausformuliert werden können; radikal deshalb, weil sie auf die Wurzeln der gesellschaftlichen Verhältnisse zielt.
Wer?
Von den etablierten politischen Organisationen, auch den Gewerkschaften, ist in dieser Beziehung nicht viel zu erwarten. Die Parteien sind zu taktisch operierenden Stimmenmaximierungsapparaten verkommen und auch von ihren personellen Kapazitäten her kaum mehr in der Lage, über den Tellerrand des Bestehenden hinauszublicken, geschweige denn alternative gesellschaftliche Entwürfe hervorzubringen. Selbst mit der Verwaltung des immer weniger haltbaren gesellschaftlichen Status quo scheinen sie ziemlich überfordert.
Wirkliche Alternativen müssen daher von gesellschaftlichen Initiativen und Projekten ausgehen. Es ist notwendig, dass die vorhandenen kritischen und oppositionellen Kräfte theoretisch und politisch wieder auf die Höhe der Zeit kommen, neue gesellschaftliche Entwürfe anvisieren und praktische Schritte vorschlagen. Ansätze dazu gibt es durchaus, wenn auch oft noch bereichs- und interessenspezifisch, vereinzelt und zersplittert. Zentrale Bedeutung hat daher die Verbreiterung und Intensivierung einer alternativen Öffentlichkeit über traditionelle Organisations- und Bewegungsgrenzen hinweg. Nicht zuletzt käme es darauf an, historische Erfahrungen aufzuarbeiten und interessante Entwicklungen andernorts zur Kenntnis zu nehmen. So ist von der brasilianischen MST und den mexikanischen Zapatistas in Bezug auf politische und ökonomische Selbstverwaltung einiges zu lernen, ebenso wie aus den Ansätzen zu einer demokratischen Verwaltung der sozialen Infrastruktur in Venezuela, den partizipativen Haushalten in Brasilien oder den Versuchen zum Aufbau selbstorganisierter Sozialversicherungssysteme in Bangladesh. Es gibt also viel zu tun.