Kapitalistische Klimakrise
von Tomasz Konicz
Eine andere Welt ist lebensnotwendig: Kapitalakkumulation und Eigentumsverhältnisse befördern die globale Erwärmung und stehen Gegenmaßnahmen diametral gegenüber
Es ist bereits zu spät, um katastrophale Auswirkungen des Klimawandels selbst durch eine massive Reduktion der Emissionen von Treibhausgasen zu verhindern. In den letzten Wochen und Monaten wurde eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen veröffentlicht, die den rasant voranschreitenden Klimawandel in der Arktis thematisieren. So publizierten Forscher der Universität Cambridge und die Umweltstiftung World Wide Fund For Nature (WWF) Mitte Oktober eine umfassende Studie, die eine weitaus rascher voranschreitende Eisschmelze in der Arktis belegt als bislang angenommen. Ein Forscherteam hat im arktischen Winter auf einer rund 450 Kilometer langen Forschungsreise rund 6000 Datensätze bezüglich der Eisdecke in der Arktis gesammelt.
Dabei wurde festgestellt, daß das Eis im nördlichen Teil der Beaufortsee inzwischen kaum noch aus mehrjährigen Schichten besteht, sondern nur noch eine relativ dünne einjährige Schicht von durchschnittlich 1,8 Metern aufweist. Dies sei zu wenig, um die Schmelze im kommenden arktischen Sommer zu überstehen. Schon in zehn Jahren soll laut der Prognose der an dieser Expedition beteiligten Wissenschaftler die Arktis größtenteils eisfrei sein. Im Jahr 2030 könnte sogar das gesamte Packeis im arktischen Sommer verschwunden sein.
Doktor Martin Sommerkorn, Klimaberater des WWF, verdeutlicht die Konsequenzen dieser Entwicklung: »Beim Fehlen der arktischen Eiskappen finden wir uns in einer sehr anderen und viel wärmeren Welt wieder.« Der Verlust des arktischen Eisschildes würde eine »Serie starker klimatischer Rückkopplungseffekte in Bewegung setzen, die weit über die Arktis« hinaus wirken würden. Diese Auswirkungen reichten von Überflutungen, die ein Viertel der Weltbevölkerung betreffen würden, über einen weiteren Anstieg von Treibhausgasemissionen bis hin zu »extremen Wetterveränderungen«, so Sommerkorn.
Dialektik des Klimawandels
Ursprünglich ging die Klimawissenschaft davon aus, daß solche Prozesse wie das Abschmelzen des arktischen Eises graduell und stetig – parallel zum langsamen und graduellen Anstieg der Treibhausgaskonzentration – über einen längeren Zeitraum ablaufen würden. Nun zeigt sich, daß das Eis an den Polen nicht langsam und graduell über die Jahrhunderte, sondern schlagartig, binnen klimageschichtlich kürzester Zeit zu verschwinden droht. Das gesamte arktische Klimasystem würde entsprechend schnell von einem Zustand (geschlossene Eisdecke Polarmeer) in einen anderen (eisfrei im Sommer) umschlagen.
Marxisten können hier natürlich die Gesetzmäßigkeiten der materialistischen Dialektik erkennen. Diese geht seit Marx’ Zeiten davon aus, daß beständige quantitative Änderungen in einem komplexen System – wie in diesem Fall der Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre – ab einem bestimmten Punkt zu einem plötzlichen qualitativen Sprung führen, der das System in einen gänzlich anderen Zustand überführt. Dieses dialektische Prinzip des »Umschlagens von Quantität in Qualität«, wie es von Marx und Engels 1878 im »Anti-Dühring« und 1883 in der »Dialektik der Natur« ausgeführt wurde, ist irrevesibel. Sobald ein bestimmter Grenzwert überschritten wurde, kann der Prozeß nicht mehr gestoppt werden.
Das arktische Eis wirkt im Sommer wie eine riesige weiße Reflektionsfläche, die einen beträchtlichen Teil der Sonneneinstrahlung ins Weltall zurückstrahlt. Sollte dies nicht mehr der Fall sein, wird sich das im Sommer permanent beschienene Wasser in der Arktis zu einem gigantischen Wärmespeicher wandeln. Die Arktis würde sich vom »globalen Kühlschrank« zur »globalen Heizung« wandeln. Somit stellt tatsächlich der Verlust der polaren Eisdecke im Sommer einen solchen Entwicklungsprung des »Umschlagens von Quantität in Qualität« dar. Neben der akut vom Verschwinden bedrohten Sommereisdecke in der Arktis macht die Wissenschaft noch andere »tipping points« des Weltklimas aus, wie den Permafrostboden im hohen Norden, das gefrorene Methanhydrat in den Weltmeeren – das sich ebenfalls in der Arktis konzentriert – und die drohenden Dürren im Regenwaldgürtel, die zu dessen Absterben und Abbrennen führen würden.
Das Problem liegt nur darin, daß keinesfalls klar ist, wie weit ein solcher qualitativer Umschlag wirken würde, sollte das Sommereis in der Arktis verschwinden. Es ist durchaus denkbar, daß allein schon das Verschwinden der Sommereisdecke in der Arktis den von der Klimawissenschaft als »schnellen Rückkopplungseffekt« bezeichneten dialektischen Umschlag so weit treiben wird, daß auch große Teile des Permafrostbodens in Sibirien und im nördlichen Kanada auftauen und das bereits jetzt sich lösende, gefrorene Methanhydrat massenhaft in die Atmosphäre abgegeben wird. Hierdurch würde eine große Menge an Methan emittiert, dessen Klimawirksamkeit größer ist als die von CO2. Der Effekt könnte den des bislang im Zuge der Industrialisierung freigesetzten CO2 übersteigen. Das Klimasystem würde sich »dynamisch jeglichen Kontrollversuchen der Menschheit entziehen«, wie der renommierte US-Wissenschaftler James E. Hansen schon bei etlichen Gelegenheiten warnte. Die Folgen für die menschliche Zivilisation, ja, schon für die bloße Ernährungsbasis der Menschheit, wären katastrophal.
Es ist somit unstrittig, daß wir mittelfristig mit den katastrophalen Auswirkungen eines dialektischen qualitativen Umschlags unseres Klimasystems konfrontiert werden. Unklar bleibt nur das Ausmaß dieser klimabedingten Verwerfungen.
Erneuerbare und fossile Energien
Es ist aber auch offensichtlich, daß das kapitalistische Weltsystem absolut außerstande ist, auf diese zivilisationsbedrohende Entwicklung adäquat zu reagieren. Im folgenden soll erhellt werden, wie das ureigenste Bewegungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise – der Zwang zur permanenten Kapitalakkumulation – der notwendigen Umwelt- und Klimapolitik diametral entgegensteht. Ein erstes bezeichnendes Schlaglicht auf diese Problemstellung wirft schon die aktuelle Krisenbekämpfung mittels Konjunkturprogrammen: Während die Investitionen in erneuerbare Energien aufgrund der Weltwirtschaftskrise von über 80 Milliarden US-Dollar auf nur noch 50 Milliarden US-Dollar sanken, wurde mit der berüchtigten »Abwrackprämie« eine deutsche Konjunkturmaßnahme zum weltweiten Exportschlager. Fahrtüchtige Fahrzeuge werden verschrottet, nur um unter enormem Energieaufwand erneut Fahrzeuge herstellen zu können, die ja einen großen Teil der durch sie verursachten Treibhausgasemissionen bereits bei ihrer Herstellung verursachen. Gleichzeitig erscheint innerhalb der kapitalistischen Binnenlogik dieses Vorgehen absolut rational, da hierdurch Zehntausende Arbeiter – zumindest temporär – vor dem Absturz in die Arbeitslosigkeit bewahrt werden konnten.
Auch bei der Energiepolitik kann von einer radikalen Wende keine Rede sein. Zwar gehen die Aufwendungen zur Erschließung neuer Quellen fossiler Energieträger krisenbedingt ebenfalls zurück, doch sind diese mit zirka 380 Milliarden US-Dollar immer noch um ein Vielfaches höher als die Aufwendungen für erneuerbare Energien. Das höchstwahrscheinlich schon global überschrittene Fördermaximum bei Öl, der Peak Oil, führt nicht etwa zur einer radikalen Energiewende, sondern zur Radikalisierung der bestehenden Energiepolitik. Wie Junkies stürzen sich Staaten und Konzerne auf die verbliebenen Reserven an Energieträgern, es wird fieberhaft in allen Ecken und Enden der Welt nach neuen Erdgas- und Ölvorkommen gefahndet.
Das Abschmelzen des Eispanzers in der Arktis verleitet deren Anrainerstaaten nur zu einem Wettlauf um die unter dem rapide schmelzenden Eis verborgenen fossilen Energieträger – um noch mehr CO2 in die Luft pusten zu können. Überall wird die kostspielige Erschließung neuer, bislang nicht rentabler Öl- und Gasfelder erwogen, wie beispielsweise vor der Küste Brasiliens. Die ökologisch desaströse Ausbeute von Ölsand in Kanada war noch vor einer Dekade kaum lohnenswert, nun sprudeln bei den daran beteiligten Konzernen – trotz des zeitweiligen krisenbedingten Preiseinbruchs – die Gewinne. Wie die jüngsten Spekulationsexzesse an den Rohstoffmärkten bereits andeuten, wird auch kurzfristig ein eventueller – durch staatliche Konjunkturpakete und spekulative Blasenbildung befeuerter – Wirtschaftsaufschwung aufgrund der zur Neige gehenden fossilen Energieträger abgewürgt werden. Die in einem solchen Fall erneut explodierenden Preise für Energieträger und Lebensmittel dürften zu einem massiven Inflationsschub beitragen.
Vielleicht noch verhängnisvoller ist der mit den ersten Pauperisierungsschüben in den Industrieländern – insbesondere in den USA – einhergehende Meinungsumschwung bezüglich des Umwelt- und Klimaschutzes. Einer Umfrage zufolge bezweifeln in den Vereinigten Staaten immer mehr Menschen den Klimawandel. Während im April 2008 etwa 71 Prozent der US-Amerikaner der Meinung waren, daß es klare Hinweise für den Klimawandel gebe, waren es im Oktober 2009 nur noch 57 Prozent aller vom US-Forschungszentrum Pew befragten Umfrageteilnehmer. Auch die Zahl der Personen, die die globale Erwärmung als ein ernsthaftes Problem wahrnehmen, sank von 44 Prozent im April 2008 auf nur noch 35 Prozent im Oktober 2009.
Propaganda und Wirklichkeit
Diese Unfähigkeit des Systems, auf diese schwerwiegendsten zivilisatorischen Bedrohungen – die Ressourcenverknappung und den Klimawandel – adäquat zu reagieren und statt dessen mit einer Radikalisierung der bestehenden Energiepolitik die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen.
Zu den wichtigen Faktoren gehören die Eigentums- und Produktionsverhältnisse in etlichen Schlüsselindustrien der »Ersten Welt«. Einer umfassenden, radikalen Energiewende und dem notwendigen schnellen Ausbau regenerativer Energien stehen die Interessen derjenigen einflußreichen Konzerne gegenüber, die am Status quo blendend verdienen. So konnte der weltweit größte Ölkonzern Exxon-Mobil im Jahr 2008 mit 45,2 Milliarden US-Dollar den höchsten Gewinn eines US-Unternehmens in der gesamten Wirtschaftsgeschichte der USA erzielen.
Der Umsatz des Konzerns von 404,5 Milliarden US-Dollar 2007 bewegte sich dabei in Dimensionen des Bruttoinlandsproduktes mittlerer Staaten. Südafrika, die größte Volkswirtschaft des südlichen Afrika, erzielte 2006 eine Gesamtwirtschaftsleistung von umgerechnet 255 Milliarden US-Dollar. Es ist diese geballte Kapitalmacht, vor der auch der neue US-amerikanische Präsident Barack Obama rasch kapitulieren mußte. Die ehrgeizigen Pläne zum Umbau der energetischen Basis der Vereinigten Staaten – wie auch eine entschlossene Klimapolitik – wurden bereits durch Lobbygruppen und den Widerstand im Kongreß entscheidend verwässert.
Den Energiekonzernen gelang es auch, die amerikanische Öffentlichkeit beim Thema Klimaschutz entscheidend zu beeinflussen. Insbesondere Exxon tat sich über einen langen Zeitraum durch die Finanzierung von »Klimaskeptikern« hervor (siehe jW vom 4.1.2007). Exxon-Mobil investierte seit den 90ern Millionenbeträge in scheinbar seriöse und unabhängige Denkfabriken und Institute, die Zweifel über den wissenschaftlichen Konsens bezüglich der Klimaerwärmung und den notwendigen Gegenmaßnahmen säten. Einige der bekanntesten, angeblich »unabhängigen« Denkfabriken der USA, wie das Cato Institute oder die Heritage Foundation, zählten zu Exxons Spendenempfängern. Eine beliebte Taktik in der Öffentlichkeitsarbeit der Exxon-Lobbyisten bestand darin, Pseudowissenschaftler medial aufzubauen, die den Eindruck erwecken, daß es eine kontroverse Diskussion über die Ursachen der Klimaerwärmung innerhalb der Wissenschaft gebe.
Die Lobbyisten des Ölmultis waren in Europa sowie in den USA am Werke und konnten mit ihrer »erfolgreichen« Arbeit tatsächlich eine öffentlichkeitswirksame Thematisierung der Klimaproblematik – und somit auch effektive Gegenmaßnahmen – um zirka eine Dekade verzögern. Bis zum heutigen Tag wirken vor allem im angelsächsischen Raum diese Propagandakampagnen nach, wie die bereits erwähnte Meinungsumfrage verdeutlicht. Umfangreiche Hilfe erhielten die Ölmultis seitens des Fernsehimperiums des reaktionären Medienmoguls Rupert Murdoch, der selbst noch 2008 bei seinen FOX-News Zweifel an den Ursachen des Klimawandels streuen ließ.
Auch in Deutschland sieht die Klima- und Energiepolitik nicht viel anders aus. Hierzulande, wo Bundeskanzlerin Angela Merkel an vorderster Front gegen ihre eigenen Klimaschutzversprechen kämpft, ist nur das Ausmaß an Verlogenheit und Heuchelei um ein Vielfaches größer. Merkel wehrte sich beispielsweise verbissen und erfolgreich gegen die von der EU angestrebte Entflechtung der eine Monopolstellung innehaltenden Stromkonzerne, die ja ebenfalls Rekordprofite einfahren. Überdies verhinderte Berlin unter Aufbietung massiven Widerstands jegliche EU-Klimaschutzinitiative, die von der deutschen Autolobby als ein Wettbewerbsnachteil angesehen wurde. Auch die deutschen Strom- und Energiekonzerne bemühen sich nach Kräften, die regenerative Erzeugung von Energie zu behindern. Alle von der Energiewirtschaft ins Spiel gebrachten Initiativen zum Aufbau regenerativer Energieerzeugung basieren auf großen und zentralisierten Projekten, wie Windparks in der Nordsee oder Sonnenkraftwerken in Nordafrika.
Kosten zahlt die Öffentlichkeit
Eine Dezentralisierung der Stromversorgung muß von dem Monopolkapital im Energiesektor um jeden Preis verhindert werden. Allein aufgrund einer stark dezentralisierten – eher demokratische Eigentumsverhältnisse begünstigenden – Produktionsstruktur in einem potentiellen, unter massivem Einsatz von Solar- und Windkraft zu errichtenden regenerativen Energiesektor könnte die Marktherrschaft einiger weniger, ein Oligopol bildender Konzerne kaum aufrechtgehalten werden. Mit Tausenden Windkraftanlagen und Hunderttausenden Solarmodulen würde praktisch jeder, der über eine geeignete Fläche verfügt, zum Stromproduzenten. Dies ist schlicht eine Horrorvorstellung für die Stromkonzerne. Die neuen, aus regenerativen Energieträgern bestehenden Produktivkräfte geraten sozusagen in Konflikt mit den durch Öl- und Energiekonzerne monopolartig dominierten Produktionsverhältnissen im Energiesektor der Industriegesellschaften. Wir könnten schon sagen, daß diese neuartigen Produktivkräfte, die auch eine gänzlich andersartig beschaffene Stromnetzstruktur und Energiespeicheranlagen erforderlich machen würden, bereits über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinausweisen.
Doch die aus Klimawandel und Ressourcenverknappung resultierenden Herausforderungen für die Menschheit geraten auch mit den Kernbereichen der kapitalistischen Produktionsweise in Widerspruch – wie der spezifischen Organisationsform in individuellen Produktionseinheiten, in Betrieben und Konzernen, die sich im »Privatbesitz« einzelner Kapitalisten oder Kapitalgesellschaften befinden.
Zum einen ist es gerade die scheinbare Effizienz der einzelbetrieblichen Kalkulation, der Kosten-Nutzen-Rechnung eines Unternehmens, die im Widerspruch zu den gesamtgesellschaftlichen Folgekosten kapitalistischer, privatwirtschaftlicher Produktion steht. Das einzelne Unternehmen kommt direkt nur für einen Bruchteil der Kosten auf, die es während der Warenproduktion verursacht. Den überwiegenden Rest, wie die Ausbildung der Arbeitskräfte, wissenschaftliche Grundlagenforschung oder die Verkehrsinfrastruktur, stellt die Allgemeinheit. Genauso kommt der Steuerzahler für Umweltzerstörung auf, die im Zuge der Warenproduktion verursacht wird.
Im Fall des Klimawandels wird nun dieser dem Kapitalismus ohnehin immanente Widerspruch auf die Spitze getrieben: Selbstverständlich war es aus der Sicht deutscher Autokonzerne richtig, die Bundesregierung dazu zu bringen, gegen strenge europäische CO2-Normen bei PKW vorzugehen, da eben diese die einzelbetriebliche Kosten-Nutzen-Rechnung nachteilig beeinflussen würden. Die Kurzsichtigkeit dieser Vorgehensweise der Autokonzerne, die Jahrzehnte lang die Entwicklung alternativer Antriebsarten vernachlässigten, illustriert nur die simple Tatsache, daß das Kapital oftmals langfristige Stabilität dem kurzfristigen Gewinnstreben opfert. Genauso müssen deutsche Stromkonzerne und US-Ölmultis die regenerativen Energien marginalisieren, da dies im Rahmen ihrer betrieblichen Kalkulation rationell ist. Die globalen Kosten des Klimawandels werden diesen Unternehmen nicht direkt angelastet. Unter kapitalistischen Produktionsbedingungen können keine ernsthaften Versuche einer gesamtwirtschaftlichen Kostenrechnung realisiert werden – ein Unternehmen, das auf eine Maximierung seiner Gewinnspanne, auf ein weiteres Wachstum freiwillig verzichtet, versündigt sich ja geradezu an seinen Besitzern. Dabei kann es gerade dieser durch die Konzerne finanzierte, auf die Realisierung kurzfristiger Gewinne abzielende Lobbyismus sein, der letzten Endes die Grundlagen des Kapitalismus untergräbt.
Überwindung der Produktionsweise
Auch die Kapitalakkumulation, also das bestimmende Moment kapitalistischer Gesellschaften, das die Triebfeder des fetischisierten »Wirtschaftswachstums« bildet, scheint ebenfalls an seine Grenzen zu stoßen.
In der Tat ist das Wirtschaftswachstum, das nur der volkswirtschaftlich sichtbare Ausdruck der Akkumulation von Kapital ist, an seine »stoffliche Grundlage«, an die Investitionen in »konstantes Kapital« (Rohstoffe, Maschinerie, Energie) gebunden. Der Zusammenbruch der letzten Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt in den USA dürfte klargemacht haben, daß eine scheinbar geisterhafte Generierung von Profiten – von Mehrwert – allein aus der Sphäre der Finanzmärkte und der Zirkulation langfristig schlicht nicht möglich ist. Mehrwert kann letztlich nur vermittels Warenproduktion generiert werden. Der Kapitalist investiert sein als Kapital fungierendes Geld in Rohstoffe, Energie, Maschinerie und Arbeitskräfte, um in Fabriken neue Waren herstellen zu lassen, die unter Erzielung von Mehrwert verkauft werden. Das hiernach vergrößerte Kapital wird in diesem endlosen Verwertungsprozeß des Kapitals in noch mehr Energie, Rohstoffe etc. investiert, um wiederum noch mehr Waren herzustellen. Dieser uferlose Kernprozeß kapitalistischer Produktion setzt permanentes Wachstum des Kapitals voraus – niemand investiert sein Geld, um danach weniger oder genausoviel zu erhalten. Hiermit müssen auch die Aufwendungen – Rohstoffe und Energie – für diesen Verwertungsprozeß permanent erhöht werden. Aufgrund des anstehenden Klimawandels wie auch der akuten Ressourcenknappheit käme dieser Prozeß sozusagen an seine äußere, ökologische wie »physikalische« Grenze.
Für das Kapital ist unsere Welt nichts weiter als ein lästiges Durchgangsstadium bei seiner uferlosen und selbstzweckhaften Bewegung der Selbstverwertung. Alles, die gesamte Welt, hat sich diesem Kreislauf der Verwertung des Kapitals unterzuordnen – auch um den Preis des zivilisatorischen Untergangs. Radikale, an den Wurzeln dieser geschilderten Problemstellung ansetzende ökologische Politik muß folglich die Überwindung dieser kapitalistischen Produktionsweise zu ihrer Maxime machen. Einzig eine Gesellschaftsformation, die sich nicht mehr dem Zwang zur uferlosen Kapitalakkumulation, also zum blinden und permanenten Wirtschaftswachstum, unterordnet, die nicht mehr von konkurrierenden, im »Privatbesitz« befindlichen Wirtschaftseinheiten dominiert ist, könnte vielleicht noch einen zivilisatorischen Zusammenbruch verhindern. Auch hier erweist sich Rosa Luxemburgs Parole »Sozialismus oder Barbarei« von brennender Aktualität.
Die langfristige Perspektive, auf die sich die Linke schon einmal einstellen kann, umreißt – noch als eine eventuelle Option formuliert – der marxistische Ökologe und Weltsystemtheoretiker Minqi Li in seinem Buch »Rise of China and the Demise of the Capitalist World-Economy« (Chinas Aufstieg und der Untergang der kapitalistischen Weltökonomie): »Es wird Mitte des 21. Jahrhunderts auf der ganzen Welt wahrscheinlich sozialistische Regierungen geben. Aber die Aufgabe zukünftiger sozialistischer Regierungen bestünde nicht mehr länger darin, Katastrophen zu verhindern, sondern im Versuch, diese zu überleben, während sie stattfinden.« Der in der globalisierungskritischen Bewegung populäre Slogan »Eine andere Welt ist möglich!« müßte folglich diesen Gegebenheiten angepaßt werden: »Eine andere Welt ist überlebensnotwendig!«
aus: Junge Welt, 12. Januar 2010