In memoriam Jean Ferrat

von Bernard Schmid

Es ist in diesen Zeiten nicht alltäglich, dass ein Kommunist in den Medien geehrt wird, und sei er großer Denker oder Künstler. Bei Jean Ferrat, der am Samstag Nachmittag (13 .März) im Alter von 79 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung starb, ist es anders.

Seine Beerdigung am Dienstag, 16. März in dem Dörfchen Antraigues-sur-Volane im französischen Zentralmassiv, wo er sich – geboren in Vaucresson im Pariser Umland – seit Jahrzehnten niedergelassen hatte, war ein Medienereignis. Nahmen über 5.000 Menschen vor Ort an der Zeremonie teil, so wurde ihre Direktübertragung gleichzeitig von vier bis fünf Millionen Zuschauern vor ihren Fernsehbildschirmen verfolgt. Bereits an den Vortagen hatten Millionen die Gedenksendungen bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern gesehen. So sahen 3,7 Millionen am Sonntag die Sendung beim Talkshowmaster Michel Drucker – der seit über 20 Jahren mit Jean Ferrat befreundet war, ihn duzte und über die Jahre hinweg immer wieder in seine Sendung einlud – auf dem zweiten Kanal, und 4,4 Millionen sahen die Sendung mit Archivaufnahmen auf dem dritten Kanal am Montag (15. März 1o).

Der tote Jean Ferrat konnte sich vor Ehrungen kaum retten, auch von Leuten, denen er zu Lebzeiten vielleicht nicht die Hand gegeben hätte. Begonnen bei Präsident Nicolas Sarkozy, der ihn vor allem als Verteidiger des französischen Chansons auf Weltebene, und indirekt der französischen Identität – in diesen Zeiten, wo die Staatspitze ihre Gesellschaft monatelang über ihre „nationale Identität“ debattieren ließ – darstellte: Ferrat, betonte Sarkozy in seiner Hommage, hatte „eine unnachgiebige Vorstellung vom französischen Chanson“. Sarkozy fuhr fort: „Er hat seine Kunst zeitlebens als ein Handwerk verstanden, hat beständig die Authentizität und Qualität der Konsumentenmentalität und den Verkaufsstandards vorgezogen.“ Und selbst der rechtsextreme Front National ehrte auf einer seiner Homepages den Künstler, der sich zeitlebens und bis zum Ende als kämpferischen Antifaschisten ebenso wie als kritischen Kommunisten verstanden hat. Doch hielten die Rechtsextremen von ihm fast nur fest, dass er das französische Chanson erneuert, und dass er die Kommunistische Partei und ihre – vor dreißig Jahren noch enge – Bindung an Moskau kritisiert habe.

Dabei, wie auch bei mancher Ehrenbezeigung von bürgerlicher Seite, durfte der Hinweis auf sein bitteres Lied ‚Le bilan’ (Die Bilanz) auf dem Jahr 1980 nicht fehlen. Dessen Titel bezieht sich sarkastisch auf einen berühmten Ausspruch des französischen KP-Generalsekretärs Georges Marchais, der im Jahr 1974 den Ländern des so genannten real existierenden Sozialismus im sowjetischen Machtbereich einen ‚bilan globalement positif’ – eine unter dem Strich gute, historische Bilanz – bescheinigt hatte. Ein halbes Jahrzehnt später, die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert und mischte sich zunehmend offen in die von Streiks aufgewühlte Landschaft in Polen ein, war dieser Spruch in aller Munde. Jean Ferrat formulierte, mit am offensten, die Kritik innerhalb des sozialen Umfelds der französischen KP, mit der er zeitlebens sympathisierte, aber nie formelles Mitglied war, obwohl er in ihrem Namen im Kommunalparlament seines Städtchens im Zentralmassiv saß. Der Text des Liedes, dessen Inhalt von den Herrschaftspraktiken im sowjetischen Block handelt – „Sie haben uns Kröten schlucken lassen, von Prag bis Budapest, von Sofia bis Moskau, diese eifrigen Stalinisten, …“ – wurde damals sogar in der KP-Tageszeitung L’Humanité abgedruckt, die seinerzeit noch nicht gerade für kontroverse Debatten offen war. Aber auch wenn Jean Ferrat intern Kritik an der Partei und vor allem an ihrer Bindung zum sowjetischen Block übte, so blieb er doch sein ganzes Leben hindurch seinem kommunistischen Ideal, seiner engen Beziehung zur Revolte und zum Einsatz für soziale Gerechtigkeit treu. Als im Winter 1997/98 in Frankreich das „Schwarzbuch des Kommunismus“ erschien, herausgegeben vom reuigen Ex-Maoisten Stéphane Courtois, und einhundert Jahre kommunistischer Geschichte rundheraus zur kriminellen Erscheinung herabzustufen versuchte, zählte Jean Ferrat in den Fernsehstudios zu den lautesten Kritikern des Unternehmens. Obwohl man ihn einlud, um einer historischen Sicht, die den Stalinismus und seine Schrecken in den Mittelpunkt rückte, Munition zu verschaffen, wies Jean Ferrat zuerst auf die Schrecken des noch immer real existierenden Kapitalismus hin.

Mit bürgerlichen Namen wurde der engagierte Sänger im Jahr 1930 als Jean Tenenbaum geboren, Sohn eines 1906 aus Russland emigrierten Juden, der vor dem dort erstarkenden Antisemitismus geflohen war. Sein Vater wurde aus Vichy-Frankreich deportiert, als Jean elf Jahre alt war, und starb in Auschwitz. Den Sohn versteckten damals kommunistische Widerstandskämpfer. Diese Erinnerung hat Jean Ferrat – der seinen Künstlernamen später annahm, nachdem er die herrliche Bucht von Saint-Jean-Cap-Ferrat (vom lateinischen Wort ferrus, für „wild, unbebaut“) entdeckt hatte – zeitlebens geprägt. Sie befeuerte seine Empörung über Unterdrückung, Verfolgung und Ungerechtigkeit. Anfang der 60er Jahre, zu einer Zeit, als er noch fast nur Lieder anderer Komponisten interpretierte, schrieb er sein erstes selbstverfasstes Chanson: ‚Nuit et brouillard’ (Nacht und Nebel), nach dem gleichnamigen Film von Alain Resnais aus dem Jahr 1956. Es handelte von den Deportationen. In einer Zeit, in der französischsprachige Lieder ebenso wie schwermütige Inhalte als hoffnungslos out galten, textete er: „Ich würde die Worte auch als Twist schreiben, wenn ich denn twisten müsste. Damit die Kinder eines Tages wissen, wer Ihr wart“ – Ihr, die Deportieren, die Ermordeten, die Opfer des Massenmords der Nazis.

Bis dahin hatte Jean Ferrat vor allem Gedichte von Louis Aragan, des großen französischen Poeten, zu Liedern verarbeitet. Später fing er selbst an zu schreiben und verfasste insgesamt über 200 Lieder. Regelmäßig zeichnen diese sich durch eine Mischung aus sozialer Revolte und Gerechtigkeitsstreben mit Liebeseifer oder –schmerz aus. Ab diesem Zeitpunkt wurde Ferrat im sozialen Milieu der französischen KP, die damals noch eine echte Massenpartei war und die Stimmen von rund 20 Prozent der französischen Bevölkerung auf sich zog, zunehmend bekannt und berühmt. Im Jahr 1967 weilte er auf Urlaub, der zu einer Gasttournee wurde, in Kuba. Von dort kehrte der zuvor bartlose Sänger mit seinem ihn später kennzeichnenden, riesigen Schnurrbart zurück. In der UdSSR freilich (damals durch die französische KP faktisch noch als ihr „sozialistisches Vaterland“ – oder „zweites Vaterland“, da die Partei nicht wirklich antipatriotisch war – betrachtet) gastierte Jean Ferrat zeitlebens nie, und er hat das Riesenland nie bereist. In späteren Jahren sollte er dazu formulieren: „Wenn ich mit Sowjetvertretern über eventuelle Tourneepläne sprach, dann sagten sie mir genau wie die Repräsentanten kapitalistischer Plattenfirmen: „Dieses oder jenes Lied spiele aber lieber nicht, das Publikum würde es nicht verstehen…“ Jegliche Bevormundung oder Zensur mochte Ferrat sich aber nicht bieten lassen.

Früh griff Ferrat aber auch für seine Zeit neue, oder jedenfalls im KP-Milieu ungewohnte, Themen auf. Sein berühmtes Chanson von 1975, ‚La femme est l’avenir de l’homme’ (Die Frau ist die Zukunft des Mannes) übernimmt viel von der zeitgenössischen feministischen Kritik. Und schon 1964, in seinem Lied La montagne (Das Gebirge) – eine Ode an die Region Ardèche im Zentralmassiv, wo er sich dann auch niederließ – lässt er ökologische Besorgnisse anklingen.

Sicherlich, Ferrat war nicht immer und überall seiner Zeit voraus: Während des französischen Mai 1968 unterstützte und verbreitete der Sänger aktiv die damalige ,ouvrieristische’ (= arbeitertümelnde) Position der französischen KP bzw. ihres Apparats, wonach es sich bei der Revolte der Studierenden, der Jungarbeiter und eines bedeutenden Teils der Jugend um eine „kleinbürgerliche“ Bewegung handele, die nicht die Bedürfnisse der Arbeiterklasse formuliere. Diese Positionierung der KP-Parteiführung verdeckte damals in Wirklichkeit nur ihre Weigerung, eine Bewegung zu unterstützen, deren Radikalisierung ihr und ihrem Kontrollanspruch entglitten war. An dieser Stelle irrte Jean Ferrat, der seinerzeit die Revoltierenden auf den Straßen von Paris für vorübergehend aufrührerisch gewordene Kleinbürger und Mittelstandssöhnchen hielt. Solche waren (besonders bei der Studierendenschaft) auch mit darunter, doch erlaubte dies mitnichten, die soziale und politische Natur der damaligen Bewegung zu bestimmen – selbst wenn die Prophezeiung Ferrats und anderer auch tatsächlich eintraf, wonach einige der Studierenden sich später auf der anderen Seite der Barrikade als Mitglieder des bürgerlichen Establishments wiederfinden sollten. Einige, aber eben nicht alle. Darüber, und über andere Fragen, hätte mensch freilich lieber mit einem lebenden Jean Ferrat diskutiert, als sie zu seinem Gedenken aus Anlass seines Ablebens zu formulieren.

Zum Abschluss: Jean Ferrat hat es verstanden, eine Form von Romantik und Gefühlsbetontheit, den Gebrauch der französischen Sprache im Lied – der vor 50 Jahren zeitweilig als hoffnungslos veraltet galt – und die Empörung über soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung zusammenzuführen. Dadurch trug er wesentlich dazu bei, dass die Erneuerung des französischen Chansons, für die er eine wesentliche Rolle seit den 60er Jahren spielte, keine nationalistische Schlagseite erhielt.

Links

Aimer à perdre la raison

“ NUIT & BROUILLARD „

La montagne

Camarade

Le bilan