Fiskalischer Turmbau zu Tokio
Japan ist von allen Industrieländern am stärksten verschuldet
von Tomasz Konicz
Die japanische Wirtschaft befindet sich seit vielen Jahren in einer Deflationsspirale, aus der nicht einmal mehr Konjunkturprogramme heraus helfen. Jetzt drohen dem Land die Schulden über den Kopf zu wachsen.
Japans Regierung trägt sich mit dem Gedanken, ein weiteres Konjunkturpaket aufzulegen. „Wir werden die Entwicklung der Wirtschaft genau beobachten, um zu entscheiden, ob wir darauf reagieren müssen“, erklärte Ministerpräsident Naoto Kan am 5. August. Dank etlicher Konjunkturspritzen und zwischenzeitlich steigender Auslandsnachfrage konnte die exportabhängige japanische Ökonomie im ersten Quartal 2010 immerhin ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent verbuchen. Im April 2009 investierte Tokio umgerechnet 110 Milliarden Euro in ein Konjunkturprogramm. Das vorläufig letzte Stimulierungspaket im Dezember 2009 erreichte einen Umfang von umgerechnet 54 Milliarden Euro. Diese ökonomischen Wiederbelebungsversuche scheinen aber nur kurzfristig zu wirken, da inzwischen die meisten Prognosen für das zweite Quartal 2010 auf eine deutliche konjunkturelle Abkühlung hindeuten.
Somit dürfte es sich auch bei den aktuellen Sparbeteuerungen japanischer Politiker, wie sie zuletzt von Finanzminister Yoshihiko Noda verbreitet wurden, um reine Lippenbekenntnisse handeln. Noda hatte Anfang August angekündigt, auf einen Kurs „fiskalischer Konsolidierung“ einzuschwenken, um binnen einer Dekade einen ausgeglichenen Staatshaushalt in Japan zu realisieren. Die aktuelle konjunkturelle Entwicklung wie auch die Erfahrungen der vergangenen Dekaden lassen dieses Vorhaben illusorisch erscheinen, häufte doch der japanische Staat den höchsten Schuldenberg aller avancierten kapitalistischen Länder an. Inzwischen erreicht die staatliche Verschuldung Nippons nahezu 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) dieser drittgrößten Volkswirtschaft der Welt.
Dieser gewaltige Schuldenberg, der das griechische oder spanische Schuldenniveau weit in den Schatten stellt, wurde seit dem Platzen der japanischen Immobilienblase Anfang der Neuzier Jahre aufgetürmt. Mit immer neuen Konjunkturprogrammen bemüht sich der japanische Staat seit gut zwei Jahrzehnten vergeblich, die stagnierende und unter einer Deflationsspirale leidende japanische Ökonomie zu reanimieren. So betrug Japans Staatsschuld beispielsweise in 1995 circa 90 Prozent des BIP, nur um in den folgenden Jahren rasant anzusteigen und nun laut japanischen Finanzministerium exakt 197 Prozent des BIP zu erreichen. Die dekadenlange Stagnation Japans wurde nur durch kurze Aufschwungsphasen unterbrochen, in denen diese exportabhängige Volkswirtschaft von einer guten Konjunktur in anderen Weltregionen profitieren konnte. Dies war beispielsweise bei der amerikanischen Defizitkonjunktur vor dem Platzen der Immobilienblase in 2007 der Fall, oder jüngst im Gefolge des – durch ein enormes Konjunkturprogramm befeuerten – chinesischen Booms.
Dabei greifen simple Analogien zwischen dem Schuldenweltmeister Japan und dem europäischen Pleitekandidaten Griechenland zu kurz, da der japanische Staat – im Gegensatz zu Athen – größtenteils im Inland verschuldet ist. An die 93 Prozent aller japanischen Staatsobligationen werden von inländischen Finanzmarktakteuren gehalten. Nippons Banken halten an die 40 Prozent aller staatlichen Schuldentitel, gefolgt von der japanischen Versicherungsbranche, die weitere 20 Prozent der Staatspapiere aufgekauft hat. Japans Pensionsfonds halten etwas mehr als 15 Prozent aller ausgegebenen Staatsanleihen, während Privathaushalte nur 5,2 Prozent der Obligationen halten. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass in Japan schon längst staatliche Institutionen dazu übergegangen sind, die eigenen Staatsschulden aufzukaufen: Die staatliche Bank of Japan hält beispielsweise nahezu neun Prozent der Staatsanleihen, und auch die staatlichen Rentenfonds haben inzwischen 11,7 Prozent dieser Schuldentitel aufgekauft. Selbst die Privatisierung der im Staatsbesitz befindlichen Post wurde jüngst abgebrochen, weil diese im großen Maßstab Staatspapiere aufkauft.
Dieser fiskalische Turmbau zu Babel kann nur bei äußerst niedrigen Zinsen fortgesetzt werden, da dessen Zinslast bereits nahezu die Hälfte der Steuereinnahmen Tokios verschlingt. Doch bislang scheint diese Verschuldungsspirale weiter aufrecht erhalten werden zu können: Die Renditen zehnjähriger japanischer Anleihen sanken jüngst unter einen Prozentpunkt und der Yen konnte gegenüber dem US-Dollar erneut zulegen, nachdem Gerüchte über eine weitere Lockerung der US-Geldpolitik die Finanzmarktrunde machten. Japans nichtstaatliche Finanzmarktakteure geben sich aufgrund der anhaltenden Deflation mit solch niedrigen Renditen zufrieden, deren Dynamik überdies durch den steigenden Yen – der Importe verbilligt – an Intensität gewinnen könnte. Bei der letzten Bond-Auktion am 2. August überstieg die Nachfrage das Angebot um mehr als das Vierfache. Für ausländische Investoren sind aber diese Papiere mit ihrer Rendite im Promillebereich schlicht nicht attraktiv genug.
Dennoch könnte diese Verschuldungsdynamik bald an ihre Grenzen zu stoßen. Die inzwischen gegen null tendierende Sparquote der japanischen Privathaushalte, die nach Dekaden der Deflation ihre Rücklagen nahezu aufgezehrt haben, könnte der japanische Markt für Staatsobligationen vielleicht noch verkraften, da Privatpersonen nur einen geringen Anteil dieser Wertpapiere erworben haben. Viel gravierender ist aber, dass bald Japans Pensionsfonds sich von Nettokäufern zu Nettoverkäufern von Staatsobligationen wandeln werden, da ab 2012 acht Millionen Japaner in Rente gehen werden. Nahezu 23 Prozent der Bewohner Japans sind über 65 Jahre alt – Tendenz steigend. Spätestens bei dem darauf folgenden Einbruch der Nachfrage nach Staatsanleihen – und der steigenden Zinslast – könnte Tokio in ernsthafte Probleme bei der Refinanzierung der Staatsschulden geraten. Mit Tokio steht und fällt auch das japanische Finanzsystem, dass sich schon längst durch umfangreiche Aufkäufe von Staatsobligationen in einer Art Krisensymbiose mit dem japanischen Staat begeben hat. Bei vielen Banken bilden Staatsanleihen einen großen Teil der Einlagen. So hält die größte japanische Megabank, die Mitsubishi UFJ Financial Group, ein Fünftel ihrer Einlagen in Staatsobligationen: „Mit diesen Einlagen haben die Megabanken inzwischen so viele Anleihen erworben, dass sie sich in regelrechte Bond-Fonds verwandelt haben,“ kommentierte das Handelsblatt.
aus: Neues Deutschland, 25. August 2010